Im Niemandsland
GPS macht unser Leben leichter und komfortabler. Aber: wer nie wissen muss, wo er ist, verliert mehr als nur die Orientierung. Eine Fallstudie.
Einige tausend Meilen nördlich von Harvard, im Nunavut-Gebiet des kanadischen Nordens, liegt eine kleine arktische Insel mit dem Namen Iglulik. Im Winter ist sie ein ausserordentlich unwirtlicher Ort: Die Temperatur beträgt meist um die zwanzig Grad unter null, eine dicke Eisschicht bedeckt das Meer rundherum, es bleibt den ganzen Tag über dunkel.
Ungeachtet dieser schwierigen Bedingungen wagen sich die dort lebenden Inuit seit 4000 Jahren aus ihren Behausungen und kämpfen sich – sofern sie Jäger sind – meilenweit durch das Eis und die Tundra, um Karibus zu erlegen. Ihre Fähigkeit, sich zurechtzufinden, ist erstaunlich: Mühelos navigieren sie durch das weite, öde arktische Terrain, in dem es kaum Orientierungshilfen gibt, sich die Schneeformationen ständig ändern und Pfade nicht selten über Nacht einfach verschwinden. Seit der englische Entdecker William Edward Parry 1822 in seinem Tagebuch erstmals die «bewundernswerte Genauigkeit» des geographischen Wissens seiner Inuit-Führer festhielt, sind Reisende wie Wissenschafter gleichermassen beeindruckt davon.
Die Orientierungsfähigkeit der Inuit rührt dabei nicht von einer technologischen Überlegenheit her – im Gegenteil: sie nutzen weder Karten noch den Kompass oder andere Geräte –, sondern von einem ganz besonderen Wissen und einem tiefgehenden Verständnis der hier vorzufindenden Winde, damit einhergehenden Schneeverwehungen, tierischen Verhaltensweisen, Sternen und Strömungen. Die Inuit sind Meister der Wahrnehmung.
Jedenfalls waren sie das bis vor kurzem. Um die Jahrtausendwende veränderte sich ihre Kultur nämlich radikal. Was war geschehen? Im Jahr 2000 hob die US-Regierung die meisten Einschränkungen des zivilen Gebrauchs von GPS auf. Die Exaktheit von GPS-Geräten hat seither stetig zugenommen, während die Preise konstant fielen. Die Iglulik-Jäger, die bereits zuvor Hundeschlitten gegen Motorschlitten ausgetauscht hatten, begannen, sich auf computergenerierte Karten und Richtungsangaben zu verlassen. Besonders die jungen Inuit waren begeistert von der neuen Technologie und setzten sie immer öfter auch ein. Bis dato musste ein junger Mann eine lange und harte Ausbildung durch die Ältesten hinter sich bringen, um jagen zu dürfen. Während vieler Jahre verfeinerte er so seinen Orientierungssinn. Wenn er nun stattdessen ein kostengünstiges Navigationssystem kaufte, konnte er auf das Training verzichten – und die Verantwortung an Geräte delegieren. Aber nicht nur das: auf einmal konnte er sich auch in Wetterlagen hinauswagen, die Jagdausflüge früher verunmöglicht hatten, z.B. in dichtem Nebel. Kurzum: sowohl die Zugänglich- wie Bequemlichkeit als auch die Präzision der automatisierten Navigation liessen die traditionellen Inuit-Techniken plötzlich antiquiert und beschwerlich erscheinen.
Technologischer Tunnelblick
Doch je populärer GPS-Geräte unter den Inuit wurden, desto öfter kam es auch zu ernsthaften Jagdunfällen, die in Verletzungen oder tödliche Unfälle mündeten. Die Ursache war rasch ausgemacht: blindes Vertrauen in die Technik. Denn wenn ein GPS-Empfänger den Dienst einstellt, etwa weil seine Batterie einfriert, kann es leicht passieren, dass ein Jäger ohne übliche Ausbildung sich in der eisig-öden Umgebung verirrt. Vom mitteleuropäischen Rucksacktouristen unterscheidet ihn dann nämlich plötzlich nicht mehr allzu viel. Doch selbst wenn sie tadellos funktionieren, bergen GPS-Geräte Gefahren. Die Routen, die auf den Satellitenkarten so akribisch vorgezeichnet sind, sorgen (nicht nur) bei jungen Inuit für einen Tunnelblick: Weil sie nicht auf die Idee kommen, die Anweisungen der Geräte zu hinterfragen, rasen sie über gefährlich dünnes Eis, über Klippen oder auf andere Gefahren zu, die ein erfahrener Navigator quasi intuitiv vermieden hätte.
Der Anthropologe Claudio Aporta von der Carleton-Universität in Ottawa untersucht die Inuit-Jäger seit Jahren. Er berichtet, dass die Satellitennavigation ihnen zwar attraktive Vorteile biete, allerdings bereits zu einem Verlust an Navigationskünsten und einem allgemein weniger gut ausgeprägten Gefühl für die Umgebung geführt habe. Mit anderen Worten: wenn ein Jäger auf einem Schneemobil mit GPS-Ausstattung seine Aufmerksamkeit auf die Instruktionen des Computers lenkt, verliert er seine Umgebung aus den Augen. Er reist, so Aporta, «mit verbundenen Augen». Es ist seiner Meinung nach gut möglich, dass der einzigartige Orientierungssinn, der das Volk über Jahrtausende auszeichnete, innert ein, zwei Generationen verschwunden sein wird.
Die Satellitengöttin
Die Welt ist – auch abseits der kanadischen Tundra – ein unbeständiger und gefährlicher Ort. Für jedes Tier bedeutet es einen grossen physischen und psychischen Aufwand, sich darin über längere Strecken zu bewegen. Seit Jahrhunderten entwickeln Menschen deshalb immer neue Hilfsmittel, um das Reisen angenehmer und ungefährlicher zu machen. Verschiedene Entdeckungen ermöglichten es uns, immer grössere Distanzen zu bewältigen, ohne uns dabei zu verirren. Erst gab es einfache Karten und Wegmarken, dann Stern- und Seekarten und Globusse, gefolgt von Instrumenten wie Schiffsloten, Quadranten, Astrolabien, Kompassen, Oktanten und Sextanten, Teleskopen, Stundengläsern und Chronometern. Wir haben Leuchttürme errichtet und Bojen in Küstengewässer gesetzt. Wir haben die Strassen gepflastert, Schilder aufgestellt, Autobahnen miteinander verbunden und nummeriert.
GPS-Empfänger sind nur die letzte Neuerung in unserer Orientierungswerkzeugkiste – allerdings mit einem besorgniserregenden Twist. Denn frühere Navigationshilfen waren eben nur das: Hilfen. Sie wurden entwickelt, um das Bewusstsein des Benutzers für die eigene Umgebung zu stärken. Um den Orientierungssinn von Reisenden zu schärfen, im voraus vor Gefahren zu warnen, auf Wegmarken in der Umgebung aufmerksam zu machen, kurz: sie wurden erfunden, um in bekannten und unbekannten Umgebungen zu helfen.
Satellitennavigationssysteme können all das auch. Aber sie wurden nicht entwickelt, um uns mit unserer Umgebung vertraut zu machen. Im Gegenteil: sie sind so konzipiert, dass wir uns um unsere Umgebung nicht mehr zu kümmern brauchen. Sie übernehmen die Kontrolle über die Navigation und degradieren ihre Benutzer auf die Stufe des Befehlsempfängers: nach 500 Metern links abbiegen, die nächste Ausfahrt nehmen, bitte suchen Sie einen Parkplatz, Sie haben das Ziel erreicht – GPS-Systeme isolieren uns von unserer Umgebung, egal, ob wir über das Armaturenbrett unseres Autos oder unser Smartphone auf sie zugreifen. Eine Forschungsgruppe der Cornell-Universität fasste es in einer Studie von 2008 prägnant zusammen: «Wenn Sie ein GPS-System benutzen, brauchen Sie nicht länger zu wissen, wo Sie sind und wo sich Ihr Ziel befindet.» Die Automatisierung der Wegfindung dient dazu, «die Erfahrung der Welt, die das Navigieren durch die Welt mit sich bringt, zu hemmen».
Wie immer, wenn neue Gadgets und Dienstleistungen entwickelt werden, die uns das Leben erleichtern sollen, wurde auch das Angebot günstiger GPS-Geräte mit Begeisterung aufgenommen. David Brooks, ein Journalist der «New York Times», fasste 2007 in einer Kolumne mit dem Titel «The Outsourced Brain» zusammen, was die meisten Menschen damals empfunden haben dürften: «Ich entwickelte bald eine romantische Anziehung zu meinem GPS-System», schrieb er. «Es fühlte sich sicher an, der schmalen blauen Linie zu folgen.» Seine «GPS-Göttin» hatte ihn von der uralten «Plackerei» der Navigation befreit. Doch diese Befreiung hatte auch einen Preis, wie er zähneknirschend zugab: «Nach ein paar Wochen fiel mir auf, dass ich ohne sie nirgendwo mehr hinkonnte. Jede Fahrt in eine mir nicht bekannte Gegend führte dazu, dass ich automatisch die Adresse eintippte und zufrieden den satellitengestützten Befehlen folgte. Dabei merkte ich, wie ich mich langsam meines geographischen Wissens entledigte.» Der Preis der Bequemlichkeit, schreibt Brooks, war ein Verlust an «Autonomie». Die Göttin war gleichzeitig eine Sirene.
Wir reden uns bis heute ein, Computerkarten seien einfach die High-Tech-Version von Papierkarten. Aber diese Annahme ist falsch. Denn traditionelle Karten liefern uns Kontext, sie verschaffen uns einen Überblick. Teil davon ist, selbst herauszufinden, wo auf der Karte wir uns befinden, um dann die bestmögliche Route zu unserem Ziel zu planen. Eine eigene kognitive Landkarte entsteht dabei nicht von allein – sie zu erstellen, ist ein beträchtlicher geistiger Aufwand. Das Lesen von Karten, das zeigen Studien, trainiert dabei unseren Orientierungssinn, so dass wir uns auch dann noch zurechtfinden können, wenn wir gerade keine Karte zur Hand haben. Wenn wir uns irgendwo orientieren wollen, scheinen wir uns auf unsere unbewussten Erinnerungen an Papierkarten zu stützen: In einem aufschlussreichen Experiment zeigte sich, dass der menschliche Orientierungssinn dann am besten ist, wenn Menschen sich nach Norden ausrichten – wie die allermeisten Landkarten eben auch. Klassische Karten führen uns auch nicht einfach von A nach B; sie lehren uns, über unsere Umgebung nachzudenken.
Computergenerierte Karten sind da anders. Sie versorgen uns bloss mit spärlichen räumlichen Informationen und wenigen navigatorischen Hinweisen. Ein GPS-Gerät setzt uns ins Zentrum; die Welt dreht sich um uns. In dieser Miniparodie eines vorkopernikanischen Universums können wir herumkommen, ohne wissen zu müssen, wo wir sind, wo wir waren oder in welche Richtung wir uns bewegen. Alles, was wir brauchen, ist eine Adresse, eine Kreuzung oder den Namen eines Geschäfts. Das Gerät besorgt den Rest. Die deutsche Kognitionspsychologin Julia Frankenstein, die den Orientierungssinn erforscht, glaubt, dass wir, «je weniger geistige Karten wir entwickeln, desto mehr gezwungen sind, uns auf die Technologie zu verlassen, um unseren Weg zu finden». Weil Computernavigationssysteme «nur die wichtigsten Informationen liefern, ohne uns mit dem räumlichen Kontext der Umgebung zu versorgen», erklärt sie, erhalte unser Gehirn nicht genug Rohmaterial, um sich wirklich an Orte erinnern zu können. «Mit so wenigen Informationen eine geistige Landkarte erstellen zu wollen, gleicht dem Versuch, anhand weniger Noten ein Musikstück zu erraten.»
Andere Wissenschafter bestätigen diese Ergebnisse. Eine Studie der Universität von Utah fand Hinweise auf eine «Blindheit wegen Unaufmerksamkeit» bei Autofahrern, die GPS benutzen, was ihre «Orientierungsleistung» und ihre Fähigkeit, lebhafte Erinnerungen an ihre Umgebung zu formen, beeinträchtigte. Fussgänger, die sich auf GPS verlassen, scheinen an ähnlichen Einschränkungen zu leiden: In einem japanischen Experiment sollten Menschen zu Fuss Destinationen in einer ihnen fremden Stadt aufsuchen. Die eine Hälfte der Teilnehmer erhielt zu diesem Zweck GPS-Geräte, die andere – Sie ahnen es – Papierkarten. Diejenigen, die mit Karten ausgestattet waren, nahmen weniger Umwege, brauchten weniger Pausen und erinnerten sich später wesentlich besser, wo sie eigentlich gewesen waren.
Die Orientierung verlieren
Für Piloten, Segler und Wanderer kann es zwar mitunter lebensgefährlich sein, wenn ihre Orientierungsfähigkeiten abstumpfen. Die meisten von uns GPS-Navigatoren werden aber während unserer Fahr- und Gehroutinen niemals in Lebensgefahr geraten. «Wen kümmert’s?», könnte man also fragen. Ist es wirklich ein Problem, unseren Orientierungssinn an eine Maschine outzusourcen? Ein Inuit-Ältester mag die Verbreitung von GPS zwar zu Recht als kulturelle Tragödie wahrnehmen, wir aber leben in Ländern, die kreuz und quer mit gut markierten Strassen, Tankstellen und Motels versehen sind. Entsprechend ist unsere Fähigkeit, topographische Veränderungen wahrzunehmen und zu interpretieren, bereits stark reduziert. Da erscheint es unproblematisch, sie weiter zu beschneiden – oder gleich ganz darauf zu verzichten.
Als Individuen steht für uns allerdings einiges auf dem Spiel. Denn letztlich sind wir Säugetiere, keine abstrakten Punkte, die sich auf Bildschirmen entlang dünner blauer Linien bewegen. Wir sind echte menschliche Wesen in echten Körpern in einer echten Umgebung. Es braucht einen beträchtlichen Aufwand, um einen Ort richtig kennenzulernen – aber der Prozess belohnt uns mit einem Gefühl von Erfüllung, von Autonomie und Zugehörigkeit. Wir fühlen uns an einem Ort zuhause, statt einfach hindurchzuhetzen. Egal, ob man Karibus in der Tundra oder bloss Schnäppchen auf der Einkaufsmeile jagt: Erst unsere eigene Wegfindungsroutine löst uns aus der Entfremdung und gewährt uns ein Zugehörigkeitsgefühl. Womöglich verziehen Sie das Gesicht, wenn Sie jemanden davon reden hören, «sich selbst zu finden», aber dieser Ausdruck, so kitschig er auch klingen mag, ist ein Hinweis darauf, dass die Frage, wer wir sind, untrennbar mit der Frage, wo wir sind, verbunden ist. Wir können uns nicht aus unserer Umgebung herausnehmen – jedenfalls nicht, ohne etwas Wichtiges zurückzulassen.
In seinem Buch «Being Alive» unterscheidet der Anthropologe Tim Ingold von der Universität Aberdeen deshalb zwei grundsätzlich verschiedene Arten des Reisens: die Wegfindung und den Transport. Die Wegfindung, erklärt er, «ist unsere grundsätzlichste Art, in der Welt zu sein». Indem der Mensch in Landschaften eintaucht und sich auf ihre Textur und ihre Eigenschaften einlässt, macht er die Erfahrung «einer Bewegung, in der das Handeln und das Wahrnehmen intim verbunden sind». Die Wegfindung wird so zu einem «andauernden Wachstums- und Selbsterneuerungsprozess». Im Gegensatz dazu ist der Transport in seinem Kern «zielorientiert». Er liefert uns keine lebensnahen Entdeckungsprozesse, sondern ist bloss das «Verschieben von Menschen und Dingen von einem Ort zum anderen, ohne dass sich dabei etwas Grundlegendes an ihnen verändert». Während des Transports bewegt sich der Reisende also nicht wirklich, vielmehr wird er bewegt, ist Passagier im eigenen Körper. Der Mensch als Frachtgut.
Keine Frage: die Wegfindung ist im Gegensatz zum Transport chaotischer und weniger effizient. Das ist auch der Grund, weshalb man sie automatisieren möchte. «Wenn Sie ein Smartphone mit Google Maps besitzen», so Michael Jones, der für die Kartenabteilung von Google arbeitet, «können Sie auf diesem Planeten überall hingehen und darauf vertrauen, dass wir Ihnen die Richtung angeben, so dass Sie sicher und leicht an Ihr Ziel gelangen.» Daraus folgt, so Jones: «Kein Mensch wird sich je mehr verloren fühlen müssen.» Das klingt reizvoll, ganz so, als wäre ein Grundproblem unserer Existenz endlich gelöst. Und es passt zum Silicon Valley, das davon besessen ist, das Leben der Menschen mittels neuer Software von «Reibung» zu befreien. Doch genau betrachtet bedeutet «sich nie verirren können» nichts anderes, als in einem Status der permanenten Entwurzelung zu leben. Wenn Sie keine Angst davor haben müssen, nicht zu wissen, wo Sie sind, dann müssen Sie letztlich auch nie wissen, wo Sie sind.
Aber auch noch andere Dinge drohen wir zu verlieren, sollten wir unseren Ortssinn zunehmend abgeben. In den letzten Jahrzehnten sind der Neurowissenschaft in diesem Zusammenhang mehrere Durchbrüche gelungen, namentlich bei der Erforschung unseres Gehirns und seiner Technik, den Raum wahrzunehmen und sich an Orte zu erinnern. Diese Entdeckungen unterstreichen die fundamentale Rolle, die die Navigation für das Funktionieren von Verstand und Gedächtnis spielt. In einer wegweisenden Studie, die in den frühen Siebzigern am London University College durchgeführt wurde, beobachtete John O’Keefe die Gehirne von Nagern, die sich durch einen abgeschlossenen Raum bewegten. Er fand heraus: je vertrauter eine Ratte mit einem Raum wurde, desto mehr individuelle Neuronen im Hippocampus – dem Teil des Gehirns, der bei der Gedächtnisformung eine zentrale Rolle spielt – begannen zu feuern, wenn das Tier an einer schon bekannten Stelle vorbeiging. Diese «ortsgebundenen» Neuronen, die O’Keefe «Ortszellen» nannte, wurden inzwischen auch in den Hirnen anderer Säugetiere entdeckt. Man kann sie sich als Wegmarken vorstellen, die das Hirn benutzt, um ein Territorium zu markieren. Jedes Mal, wenn Sie einen neuen Ort betreten, sei es ein Platz in einer Stadt oder die Küche eines Nachbarn, kartographiert Ihr Gehirn das Gebiet mit Hilfe dieser Zellen. Sie scheinen, wie O’Keefe gezeigt hat, von einer Vielzahl sensorischer Signale aktiviert zu werden, inklusive visueller, auditiver und taktiler Reize, «die alle wahrgenommen werden, wenn sich das Tier in einem bestimmten Gebiet befindet».
Die Quelle aller Erinnerung
In der jüngeren Vergangenheit, 2005, hat ein Team norwegischer Neurowissenschafter, die vom Paar Edvard und May-Britt Moser geleitet wurden, eine weitere Art von Neuronen entdeckt, die dazu dienen, den Raum zu erfassen, auszumessen und das Hirn durch ihn hindurch zu steuern: «Rasterzellen». Diese Zellen, die sich in einer Hirnregion befinden, die mit dem Hippocampus zusammenhängt, erzeugen im Hirn ein präzises geographisches Koordinatennetz, das sich aus gleichseitigen Dreiecken zusammensetzt. Die Mosers verglichen dieses Raster mit einem Stück geistigen Diagrammpapiers, auf dem der Standort eines Tieres verfolgt wird, während es sich bewegt. Während Ortszellen spezifische Orte kartographieren, liefern Rasterzellen eine abstraktere Karte des Raumes, der gleich bleibt, wohin auch immer ein Tier geht, wodurch ein inneres Gefühl für Koppelungsnavigation entsteht.
Weil sie im Tandem zusammenarbeiten und sich auf andere Neuronen stützen, die die Richtung und die Bewegung überwachen, dienen die Orts- und die Rasterzellen in den Worten des Wissenschaftsautors James Gorman «als eine Art eingebautes Navigationssystem, das entscheidend dafür ist, dass Tiere wissen können, wo sie sind, wohin sie gehen und wo sie waren». Zusätzlich zu ihrer Rolle bei der Navigation scheinen diese spezialisierten Zellen auch an der Formung von Erinnerungen beteiligt zu sein, namentlich Erinnerungen an Ereignisse und Erfahrungen. O’Keefe, die Mosers und andere Wissenschafter glauben, dass das Gedächtnis sich auf dieselben Hirnsysteme stützt, die uns auch dabei helfen, unseren Weg durch die Welt zu finden.
In einem 2013 in «Nature Neuroscience» erschienenen Artikel lieferte Edvard Moser ausführliche experimentelle Beweise dafür, dass «die neuronalen Mechanismen, die entstanden sind, um die räumlichen Verhältnisse zwischen Landmarken zu definieren, auch dazu dienen können, Assoziationen zwischen Objekten, Ereignissen und anderen Arten faktischer Informationen entstehen zu lassen». Und aus solchen Assoziationen weben wir die Erinnerungen unseres Lebens. Es kann gut sein, dass der Orientierungssinn, dieser uralte Weg, Bewegung durch den Raum festzuhalten, die evolutionäre Quelle aller Erinnerung darstellt.
Gruselig indessen ist, was passiert, wenn diese Quelle versiegt, etwa wenn wir altern: Zusehends verschlechtert sich dabei unser Raumgefühl, in den allerschlimmsten Fällen verlieren wir es komplett. Ein frühes Symptom von Demenz und Alzheimer besteht in der hippocampalen und entorhinalen Degeneration und dem daraus folgenden Verlust von Erinnerungen an Ort und Zeit. Die Opfer vergessen, wo und wann sie sind, nicht selten auch, wer ihr Gegenüber ist. Véronique Bohbot, eine Psychiaterin und Gedächtnisexpertin an der McGill-Universität in Montreal, konnte zeigen, dass die Art, wie Menschen sich orientieren, die Funktionsweise und die Grösse des Hippocampus beeinflusst – und Menschen sich dabei vielleicht vor Gedächtnisabbau schützen könnten. Je härter Menschen daran arbeiten, geistige Landkarten zu erstellen, desto stärker scheinen ihre Gedächtnisschaltkreise zu werden. Es sieht aus, als würde die graue Masse in ihrem Hippocampus damit wachsen. Das Phänomen wurde bei Londoner Taxifahrern nachgewiesen und ähnelt dem Muskelaufbau durch körperliche Anstrengung. Andersherum gilt aber auch: Menschen, die bloss Computerinstruktionen folgen, die sie «in einer robotischen Weise» von Abzweigung zu Abzweigung bringen, warnt Bohbot, versäumen es, «ihren Hippocampus zu stimulieren» – und sind in der Folge anfälliger für Gedächtnisverlust oder Demenz. Bohbot befürchtet: «In den nächsten zwanzig Jahren werden die Demenzpatienten wohl immer jünger und jünger werden.»
Je mehr wir über den Zusammenhang zwischen Orientierung, Hippocampus und Gedächtnis lernen, desto plausibler wird die Theorie, dass es unvorhergesehene und alles andere als gesunde Konsequenzen haben dürfte, wenn wir darauf verzichten, selbst herauszufinden, wo wir uns befinden und wohin wir gehen. Denn das Gedächtnis ermöglicht es uns eben nicht nur, Vergangenes zu vergegenwärtigen, sondern auch, intelligent auf aktuelle Ereignisse zu reagieren und in die Zukunft zu planen. Wenn das Gedächtnis nicht mehr richtig funktioniert, beeinträchtigt das also vor allem unsere Lebensqualität.
2014 erhielten John O’Keefe und die Mosers den Nobelpreis für Medizin für ihre Untersuchungen des Orientierungssinns. Wer mitverfolgte, wie die Medien über das Thema berichteten, mag sich erinnern, dass die Presse schrieb, die Forscher hätten «das GPS-System des Gehirns» entdeckt. Ja, Sie haben richtig gelesen, «das GPS-System des Gehirns»! Wir sind so vernarrt in unsere Technologie, dass wir sie schon als Metapher missbrauchen, um uns die eigenen Körper zu erklären. Dabei funktioniert weder unser Geist noch unser Körper wie ein GPS-System: Während eines Zeitraums von Hunderttausenden von Jahren hat die Evolution beides an die Umgebung angepasst.
Die Automatisierung der Wegfindung droht uns nun wieder von der Umgebung zu entfremden, die uns geformt hat. Sie verführt uns dazu, blind zu reisen – genau wie die jungen Inuit-Jäger. Der Aufwand, den unsere digitalen Gottheiten uns als blosse Plackerei verkaufen wollen, könnte sich dabei als der zentrale Pfeiler unserer Gesundheit, unseres Glücks und unserer Zufriedenheit entpuppen. «Wen kümmert’s?» ist also alles andere als die richtige Frage.