Im Land der Mythen
Die Schweizerfahne weht überall; die sie hochhalten, sind aber weniger Aufrechte als Unsichere: Von den tiefen Steuern über die starke Armee bis zum freien Arbeitsmarkt klammern sich die Schweizer an Konzepte, die bestenfalls noch als Restbestände existieren. Eine Entzauberung.
Herr Eichenberger, Herr Hummler, was ist los mit der Schweiz? Die Bürger europäischer Staaten verweisen auf unser Land als Insel der Glückseligen und tatsächlich: Wir haben eine gute Infrastruktur, tiefe Arbeitslosenzahlen, ein ansprechendes Bildungsniveau – doch uns selber überzeugt das alles offenbar nicht. Stärker denn je scheinen sich die Schweizer unbehaglich zu fühlen und sich und ihren Kleinstaat in Frage zu stellen. Wie erklären Sie sich das?
Konrad Hummler: Möglicherweise hat das «Unbehagen» damit zu tun, dass die Politik seine positive Kehrseite, das «Wohlbehagen», aus dem Blick verloren hat. Immer ist die Rede davon, dass die Schweiz auf internationalem Parkett als «Global Player» auftreten müsse. Diese übertriebene Geltungsvorstellung drängt das banale, aber doch für die einzelnen Menschen zentrale Anliegen des «Wohlbehagens» im eigenen kleinen Umfeld zurück. Ich meine: in dieser Diskrepanz liegt die Hauptursache für das «Unbehagen».
Reiner Eichenberger: Klingt gut. Nur haben wir interessanterweise dem «Unbehagen» zum Trotz heute klar mehr Stolz und «Swissness» als vor 10 oder 20 Jahren.
Hummler: Gerade die Hochkonjunktur der Insignien, das dauernde Zeigen der Flagge etwa, sehe ich als Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt. Weil eine gefühlte Differenz besteht zwischen dem Ziel, das man als Gemeinschaft haben könnte – dem Wohlbehagen –, und den Bestrebungen, die die Politik effektiv unternimmt. Die Differenz versucht man mit der Schweizerfahne zu verhüllen: Inzwischen kann ja kein Bundesrat mehr auftreten, ohne dass ein solcher Fetzen im Hintergrund hängt. Man bräuchte diese stoffliche Vergewisserung nicht, wenn es kein Identifikationsproblem gäbe.
Eichenberger: Hingegen muss man sagen: Weltweite, standardisierte Befragungen zur Lebenszufriedenheit zeigen seit Jahren, dass die Schweizer und die Dänen die glücklichsten Menschen der Welt sind; insofern können wir also nicht von einem negativen Trend sprechen. Trotzdem gibt es aber sehr gute Gründe für ein «Missbehagen». Wirtschaftlich und politisch steht die Schweiz zwar sehr gut da. Aber mit wem vergleichen wir uns, um zu diesem Schluss zu kommen? Mit Kranken und Fusslahmen! Dass es uns besser geht als den Italienern oder Franzosen mit ihren völlig überzentralisierten und überregulierten Systemen, ist noch keine Erfolgsgeschichte! Wir haben völlig falsche Vergleichsmassstäbe – ganz egal, ob es um die Arbeitslosigkeit, die Armutsfrage oder die Steuerlast geht –, und die Leute merken das. Daher, glaube ich, rührt das Unbehagen.
Haken wir gleich bei der Steuerlast ein. Der Vergleich, der landläufig gezogen wird, stilisiert uns zum «Steuerparadies» – eigentlich eine schöne Vorstellung. Wo stehen wir tatsächlich, wenn wir unsere Steuersätze an den europäischen messen?
Eichenberger: Für Durchschnittseinkommen ist die Steuerbelastung tief. Ganz anders sieht es aber für «Gutverdienende» aus. In vielen Kantonen, etwa in Zürich, liegt die Belastung der Einkommensteile über rund 250 000 Franken jährlich bei mehr als 50 Prozent – wenn die Kantons-, Gemeinde-, Kirchen- und Bundessteuern sowie die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge der AHV und die Beiträge zur Arbeitslosenkasse berücksichtigt werden, die zulasten der Arbeitnehmer gehen. Anders als in den allermeisten Ländern werden die in der Schweiz auch von Gutverdienenden erhoben, obwohl diese dadurch nicht mehr Leistung erhalten. Dazu kommt die Vermögenssteuer, die in Europa sonst nur noch Frankreich, Norwegen und Luxemburg kennen, wobei sie dort überall wesentlich tiefer ist. Und zudem sind wir eines der letzten Länder mit einer Vollbesteuerung von Kapitaleinkommen. Die meisten Länder erheben auf Kapitaleinkommen nur etwa halb so hohe Steuern wie auf Arbeitseinkommen. Die OECD-Wahrnehmung der Schweiz als «Steuerparadies» gilt also lediglich für die wenigen pauschalbesteuerten Ausländer sowie die Normalbesteuerten in einzelnen kleinen Kantonen.
Die Sicht der OECD ist das eine. Wie kommt es aber, dass sich auch viele Schweizer im Steuerparadies wähnen – die Linken werden nicht müde, eine stärkere Schröpfung der Vermögenden zu fordern, und die Bürgerlichen pochen darauf, die «tiefen Steuern» zu bewahren –, während wir in Tat und Wahrheit im Semisozialismus angekommen sind?
Hummler: Das ist ein Phänomen, das in sehr vielen Bereichen zu beobachten ist: Allenthalben verteidigen wir Dinge, die es gar nicht oder nicht mehr gibt. Man sagt, man brauche Kampfflugzeuge für eine starke Armee – eine solche haben wir ja eigentlich… höchstens noch zu Bürozeiten. Oder wir haben die 1:12-Initiative mit dem Argument bekämpft, dass der «freie Arbeitsmarkt» bewahrt werden müsse – wo wir tatsächlich längst ein Lohnbuch haben, das auf 800 Seiten alle bis ins letzte Detail festgelegten Normal- und GAV-Löhne enthält. Kurz, die Schweiz ist in ein ganzes Netz von Lebenslügen verstrickt.
Das Leiden am Land rührt also womöglich aus der Lücke, die zwischen Erzähltem und Faktischem klafft: Die Lebenslügen, die Sie erwähnen, werden auf der diskursiven Ebene dauernd reproduziert, man liest, hört und verbreitet sie. Dabei – und das spüren oder wissen wohl die meisten – gäbe es Zahlen und Vergleiche, die unser ganzes Lügengebäude zum Einstürzen bringen könnten. Müsste es also nicht Ziel sein, diese verzerrten Narrative aufzudecken, um endlich einmal die am Land nötigen Reparaturarbeiten vornehmen zu können?
Hummler: Doch, natürlich! Nur ist es immer schmerzhaft, solche Dinge zu benennen. Und häufig gerät man auch in ein Dilemma, denn vieles, das man als marod bezeichnen müsste, fände man ja im Prinzip relativ gut. Indem man mit dem Finger darauf zeigt, gefährdet man vielleicht auch noch die letzten Reste. Beispiel Armee: sage ich ja zu den Kampfjets, trage ich ein Abwehrsystem mit, dessen Einsatzfähigkeit ich höchst zweifelhaft finde. Sage ich aber nein, befördere ich womöglich die Abschaffung der Armee – was selbstredend nicht in meinem Interesse als ehemaliger Oberst ist.
Eichenberger: Die Armeediskussion ist sowieso sehr seltsam – aber leider auch symptomatisch. Als wir im Herbst 2013 über Zwangs- vs. Freiwilligenmiliz abgestimmt haben, hat sich das völlige Unvermögen vieler Sicherheitspolitiker gezeigt, sich überhaupt auf die Probleme unserer Armee einzulassen. Es ist offensichtlich, dass wir ein total ausgelutschtes Zwangssystem haben und neue Lösungen brauchen, und es ist ebenso offensichtlich, dass eine freiwillige Miliz für eine stärkere und volkswirtschaftlich günstigere Armee sorgen würde. Viele bürgerliche Politiker – erfreulicherweise hingegen längst nicht alle hohen Militärs – waren aber völlig blockiert, wenn sie «freiwillige Miliz» nur schon hörten, und haben die offensichtlichen Probleme unseres heutigen Systems schlicht verdrängt.
Lassen wir uns hier für einmal auf alle Diskussionen ein: Welche Lebenslügen lösen unser diffuses Unwohlsein aus? Die Armee haben wir schon gestreift – wo sonst kultiviert die Schweiz heilige Kühe, die der Reform statt des Heimatschutzes bedürften?
Hummler: Die grösste heilige Kuh ist ganz klar der öV!
Eichenberger: Einverstanden: bis und mit Gemeindeebene werden 8 Milliarden ausgegeben für öV-Subventionen – wobei das natürlich anders genannt wird und unter dem Titel «Leistungsauftrag» läuft. Übermässig subventioniert ist aber auch der Privatverkehr. Wenn man da die Umwelt-, Lärm- und Unfallexternalitäten berücksichtigt, kommen nochmals wenigstens 8 Milliarden hinzu, inklusive der Stauexternalitäten sogar 10 Milliarden. Und natürlich verursacht auch der öV grosse Externalitäten. Leider sind die offiziellen Zahlen hierzu völlig falsch. Richtig berechnet dürften es auch rund 2 Milliarden sein. Insgesamt wird heute der Verkehr also mit rund 18 bis 20 Milliarden subventioniert. Jeder, der sich diese Summen vor Augen hält, erkennt, dass das auf Dauer nicht tragbar ist.
Gut. Eine weitere heilige und geldverschlingende Kuh steht wohl auf dem Feld der Landwirtschaft, richtig?
Eichenberger: Fraglos. Wenn man zusammenzählt, was an die Bauern fliesst, landet man je nach Kalkulationsweise bei 5 bis 10 Milliarden jährlich. Rechnet man korrekt, berücksichtigt man ja nicht nur die Subventionen, sondern auch die Ausgaben für die höheren Preise infolge Marktschutz. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Noch schlimmer sind die indirekten Auswirkungen. Lange Zeit hat die Landwirtschaftspolitik den Detailhandel – Migros und Coop – vor Konkurrenten wie Aldi und Lidl geschützt, und heute kommen Penny und andere deutsche Billigläden nicht in den Schweizer Markt rein, weil sie wegen unserer Auflagen die ganze Einkaufskette für Landwirtschaftsprodukte in der Schweiz neu aufbauen müssten.
Hummler: Diesem Aspekt stehen zwar die an sich durchaus positiven Öffentlichen-Guts-Leistungen der Landwirtschaft entgegen, die Pflege unserer schönen Landschaft etwa. Aber auch in diesem Bereich ist zu beobachten, dass eher Prinzipien befolgt werden, die die Produktion von überteuerten Gütern befördern, als dass eine relativ extensive Landwirtschaft betrieben würde, die ökologischen Prinzipien auf sinnvolle Weise nachkäme.
Eichenberger: Wenn wir den Markt für Landwirtschaftsgüter voll öffnen würden, hätten wir, ein bisschen verkürzt gesagt, dereinst halb so viele Bauern mit doppelt so grossen Höfen, die glücklicher wären und die gleiche, nein sogar mehr ökologische Leistung erbrächten. Mit den riesigen volkswirtschaftlichen Gewinnen dank tieferen Preisen könnten wir die Bauern, die aussteigen, fürstlich entschädigen. Ineffiziente Subventionen finden wir aber natürlich auch in ganz anderen Bereichen, etwa in den ganzen Verteilungsdiskussionen. Alle reden von der «Lohnschere», die immer weiter auseinanderklaffe, doch schon das Bild ist schief: niemand verliert, alle haben immer mehr. Aber ganz abgesehen davon ist die Vermögens- und Einkommensverteilung in der Schweiz nachweislich sehr egalitär: Nach selbstverdientem Geld ist die Schweiz zusammen mit Südkorea das egalitärste Land im OECD-Raum! Über diese Basis stülpen wir ein Umverteilungssystem, das in der Hauptsache Geld von der linken in die rechte Tasche umlagert, sprich: dem Mittelstand etwas wegnimmt und ihn gleichzeitig damit wieder subventioniert.
Hummler: Und auf dem Weg von der linken in die rechte Tasche natürlich auch noch gewaltig viele Mittel verbrennt!
Womit wir direkt beim nächsten potentiellen Irrglauben wären: Wie effizient ist der «schlanke Staat», dessen wir uns gerne rühmen, im richtigen internationalen Vergleich?
Eichenberger: Wir haben den teuersten Staat der Welt! Unser BIP pro Kopf ist zum normalen Wechselkurs umgerechnet rund 90 Prozent höher als das deutsche. Gleichzeitig haben wir etwa die gleiche Staats- und Steuerquote gemessen als Staatsausgaben relativ zum BIP. Ergo ist unser Staat absolut, in Franken pro Bürger gerechnet, fast doppelt so teuer wie der deutsche. Die Schnellerklärung, das liege an unseren hohen Einkommen, zieht nicht. In der freien Wirtschaft sind in der Schweiz und Deutschland die Lohnstückkosten, also die Lohnkosten pro tatsächlicher Arbeitsstunde unter Berücksichtigung von Produktivitätsunterschieden, sehr ähnlich. Natürlich haben wir auch sonst höhere Preise. Aber während die Güterpreise hier rund 30 Prozent höher sind als im Ausland, ist der Staat fast 100 Prozent teurer. Dass er entsprechend mehr bietet, würde ich eher bezweifeln.
Hummler: Wir müssen zu seiner Verteidigung sagen: Er ist ein bisschen freundlicher. Eine weitere Lüge im Zusammenhang mit dem Staat ist die Vorstellung, dass er konkordant regiert werde. Die Idee, dass die Regierung das Wählergewicht repräsentiere, ist nicht mehr gegeben, de facto entsprechen die Mehrheitsverhältnisse in vielen Fragen einer Mitte-links-Koalition.
Im Parlament sitzt ja aber immer noch eine Mehrheit von Volksvertretern sich bürgerlich nennender Parteien. Die Schweiz, müsste man
meinen, tickt insofern immer noch bürgerlich – oder ist das auch keine Realität mehr?
Eichenberger: Doch, mit Blick auf die Parlamentsmehrheit stimmt das natürlich. Und damit ist auch klar, dass man für all die Leiden, die wir jetzt aufgezählt haben, nicht die Linken verantwortlich machen kann. Die hohen Steuern etwa haben die Bürgerlichen zu verantworten!
Hummler: Was mich mit Blick auf den Staat noch stärker beunruhigt als das Kräfteverhältnis, ist seine – durch die Medien geförderte – Meinungshoheit. Wir glauben, in einem System der freien Meinungsäusserung zu leben. Faktisch aber haben wir ein System, das sich durch eine stark gouvernementale Propaganda auszeichnet. Man braucht sich nur einmal die Artikel anzusehen, die im Zusammenhang mit der Masseneinwanderungs-Initiative erschienen sind. In den rein faktenorientierten Beiträgen aller namhaften Blätter kamen Wertungen daher, die einem das Gefühl gaben, die halbamtliche Zeitung «Al-Ahram» in der Hand zu halten.
Was ist es denn für eine Lehre, die da rumgeistert? Und wie kommt es, dass sich dieser gouvernementale Mainstream überall ausbreitet und durchsetzt?
Eichenberger: Mir ist die «Lehre» nicht wirklich klar, wohl aber ihre Basis: All den so verbreiteten Ansichten fehlt der Zahlenrealismus. Man sieht das beim öV, bei den Steuern, der Zuwanderung oder auch am Beispiel der bereits erwähnten «Lohnschere». Würde man die Gehälter nach Stunden berechnen – es gibt ja, um beim Bild zu bleiben, eine massive «Arbeitszeitschere» beispielsweise zwischen Managern und Sekretären –, würde man wohl feststellen, dass die höheren Löhne im Vergleich zu den tieferen nicht gestiegen sind. Und wirft man dann einen Blick auf die «10 Prozent Reichen» unseres Landes, die angeblich immer reicher würden, sieht man, dass darunter ganz normale Ehepaare, bestehend aus einer Teilzeitlehrerin und einem Halbzeitcoiffeur, sind: Gemäss der Analyse von Christoph Schaltegger von der Universität Luzern liegt die Grenze, über der ein Haushalt zu den «reichen» 10 Prozent der Topverdiener zählt, bei 104 000 Franken Reineinkommen jährlich. Aus solch braven Normalbürgern machen Politik und Medien dann Abzocker und Profiteure einer behaupteten «Einkommensschere».
Man hat den Eindruck, dass sich die Schweizer ausnehmend gern in Klüfte reinreden: Nicht nur «Arm/Reich», sondern auch «Stadt/Land», «Inländer/Ausländer», «KMU/Grosskonzerne» machen als unvereinbare Begriffspaare die Runde. Ist die Kohäsion des Landes tatsächlich gefährdet oder beschwören wir die Zersetzung vielmehr mit der Rede erst herauf?
Eichenberger: In den allermeisten Fällen sind antagonistische Gegenüberstellungen völlig falsch. Die moderne Wirtschaft mit ihrer intensiven Arbeitsteilung ist kein Nullsummen-, sondern ein Positivsummenspiel. Je besser es meinen Handelspartnern geht, desto besser geht es auch mir. Es ist wie in einer Ehe: Gewinnt der eine Partner in der Lotterie, profitiert auch der andere davon.
Hummler: Die Beschwörer der Antagonismen sind in Determinismen gefangen und sehen etwa den Arbeitsmarkt als Kuchen fixer Grösse – von dem ein Ausländer einem Inländer ein Stück wegnimmt, wenn er eine Stelle annimmt. Das ist völliger Quatsch, und das Gegenteil stimmt: Wenn ein Ausländer hier arbeiten kann, ist er ein Teil einer grösser werdenden Wirtschaft.
Eichenberger: Genau. Die Konkurrenz findet nicht bei den vermehrbaren Grössen wie Arbeitsplätzen statt, sondern bei den natürlich und politisch knapp gehaltenen Faktoren, also der Umwelt, dem Boden und der Infrastruktur. Die Knappheit herrscht aber völlig unabhängig davon, ob die «Neuen» Aus- oder Inländer sind.
Wieso findet die Rede von den Gräben denn so grossen Anklang, versuchen wir Schweizer uns durch Abgrenzungen Identitäten zu schaffen?
Eichenberger: Ich würde die Gründe eher in der Medientheorie suchen. Wir wissen ja, dass Leute eigentlich gerne positive Botschaften hören und in Filmen etwa nach Happy Ends verlangen. In den Medien aber sind positive Botschaften nicht glaubwürdig, das Publikum hält sie für gekauft. Um also nicht das Misstrauen der Leute zu wecken, berichten die Journalisten automatisch negativ und konzentrieren sich etwa darauf, den Rückgang der Bauernhöfe darzustellen, anstatt darauf zu verweisen, dass Landwirt immer noch der Beruf ist, in dem am meisten Junge beruflich in die Fussstapfen der Eltern treten.
Hummler: Ich hätte eine andere Theorie, um die vielen Gräben zu erklären: Es gibt eine ganze Bürokratie, die von diesen vermeintlichen Differenzen lebt. Sobald man das Radio einschaltet, hört man, dass irgendein Bundesamt dank irgendeiner Studie irgendeinen Missstand aufgedeckt habe. Permanent werden in unserem Land Probleme diagnostiziert – um so eine ganze Behebungsindustrie für Missstände zu alimentieren.
Wir diagnostizieren also massenweise Pseudoprobleme und verschliessen die Augen vor den wahren Missständen. Wo liegen die nun nicht nur mit Blick auf das Inland, sondern auch in seinem Verhältnis zum Ausland?
Hummler: Ernsthafte Fragen muss man sich zur Konkurrenzfähigkeit unseres Landes stellen. Noch geht es uns gut, andere Gesellschaften und Regionen sind aber ganz offensichtlich auf der Überholspur – und damit meine ich nicht die europäischen.
Eichenberger: Man braucht übrigens gar nicht weit zu blicken, um solche Überholmanöver zu beobachten. Wenn man etwa Schweizer Randgebiete mit gut funktionierenden Gegenden in Deutschland, Österreich oder Dänemark vergleicht, merkt man, dass manche unserer Regionen schlechter abschneiden.
Was bedeutet das für die hiesigen Bürger? Vom Zurückfallen bedroht, kann man entweder alles daransetzen, den Status quo zu schützen und die Besitzstände zu wahren – oder jede Form von Garantismus über Bord werfen und sich maximal zukunftsoffen zeigen. Welche Befähigungen sind dazu heute nötig?
Hummler: Wie man sich angesichts dieser Ausgangslage verhält, hängt stark vom je eigenen Umgang mit Risiken ab. Persönlich halte ich es für unabdingbar, dass man diversifikationsfähig ist oder die eigenen Kinder diversifikationsfähig werden lässt – so dass sie beispielsweise problemlos ins Ausland gehen und sich dort eine andere Existenz aufbauen können. Also: Chinesisch lernen, Russisch lernen und sich Realoptionen zum eigenen Land schaffen!
Und welche Realoptionen hat das Land selber im internationalen Umfeld? Welche Narrative verstellen uns möglicherweise die Sicht auf unsere reale Position innerhalb Europas oder der EU?
Hummler: Eine der lächerlichsten Vorstellungen in diesem Zusammenhang ist jene, dass die Schweiz eine Chance verpasse, wenn sie nicht mitrede. Auf den Input der Schweiz hat in internationalen Gremien nun wirklich niemand gewartet. In diesen Gebilden geht es um Macht, und in dieser Hinsicht ist die Schweiz chancenlos.
Eichenberger: Das sehe ich anders: Die Schweiz ist total einflussreich. Wieder gilt: man muss die richtigen Zahlen nehmen. Wenn wir uns mit den gesamten USA vergleichen, schneiden wir natürlich schlecht ab. Logisch, sind die USA einflussreicher als wir, sie sind ja auch 40mal grösser! Rechnet man aber pro Kopf, sieht man, dass ein Schweizer in der Welt einen wesentlich grösseren Einfluss hat als ein Amerikaner. Und das ist doch die einzige Grösse, die mich als Bürger interessieren kann.
Was heisst denn «ein einzelner hat Einfluss»? Mit meiner Kaufkraft, einverstanden, kann ich gewisse Dinge lenken, politische Entscheidungen aber werden in Gremien getroffen, auf die ich als Bürger nicht einwirken kann.
Eichenberger: Nein, ich bin absolut überzeugt, dass ich auch mit meiner Stimme mehr Einfluss habe als ein Amerikaner. Woher rührt dieser Einfluss? Meine These dazu lautet: Integrierer sind Verlierer. Viele Beispiele zeigen, dass jene Einheiten, die sich in andere Strukturen integriert haben, an Einfluss verlieren. Appenzell Innerrhoden etwa hat mit seinen 16 000 Einwohnern bedeutend mehr Einfluss als Gossau SG mit seinen 17 000. Und weshalb? Weil sich die Appenzeller nicht den St. Gallern angeschlossen haben. Gleiches gilt für Hongkong oder Liechtenstein: Gibt es irgendeine chinesische Stadt mit 7 Millionen Einwohnern, die ähnlich viel Einfluss hat wie Hongkong, und gibt es irgendeinen Ort oder eine Region im deutschen Sprachraum mit 37 000 Menschen und einem vergleichbar grossen Einfluss in der EU oder auf der Welt wie Liechtenstein?
Hummler: Gut, ich bin schachmatt gesetzt. Ich akzeptiere die These, und sie gefällt mir auch. Voraussetzung für ihr Funktionieren ist aber, dass man sich in nichts reinhomogenisiert oder -integriert, richtig?
Eichenberger: Genau!
Eines der klassischen Argumente, das gerade auch Wirtschaftsführer gerne bemühen, verläuft umgekehrt: Um Marktzutritt zu haben, heisst es, müssten gewisse Regeln akzeptiert werden. Und anstatt sich diese Regeln aufoktroyieren zu lassen, sei es vorteilhafter, sich in den entsprechenden Gremien zu engagieren und die Entscheide mitzugestalten.
Hummler: Die Frage des Marktzutritts ist auch so eine Propagandaverirrung. Wir haben in den EU-Ländern eine weitgehende Investitionsfreiheit. Das heisst: in fast allen Branchen können Schweizer Firmen problemlos Tochtergesellschaften im EU-Raum gründen, über diese Niederlassungen im Markt operieren und etwa an Ausschreibungen teilnehmen.
Eichenberger: Ich kann mir gar keine Schweizer Firma vorstellen, die Submissionen im EU-Raum macht, ohne auch eine EU-Tochter zu haben. Zur Unterstützung würde ich aber vorschlagen, dass die Schweiz oder Private EU-weit sogenannte «Houses of Switzerland» eröffnen, die als Partner und «Submissions-Hubs» das Submissionsprozedere für jene Schweizer Unternehmen übernehmen, die kein Europanetz haben.
Unsere Strategie müsste also sein, uns aus allem rauszuhalten…
Hummler: Sie wollen uns zu einer EU-Gegnerschaft drängen, aber so einfach machen wir Ihnen die Sache nicht! Ich glaube, wir müssen vorsichtig sein: In der EU ist sehr viel in Bewegung, und wir tun gut daran, uns verschiedene Optionen offenzuhalten.
Genau auf die Multioptionalität wollte ich hinaus. Welche Assoziationsmöglichkeiten mit europäischen oder anderen Staaten sähen
Sie denn allenfalls auch als Alternativen zur EU?
Hummler: Ich bin der Ansicht, dass wir in jede Richtung offen sein sollten. Anstatt immer nur zu fragen, ob wir uns Brüssel anschliessen müssen, könnte man den Spiess auch einmal umdrehen und sagen: Unter gewissen Umständen könnten sich andere Länder uns anschliessen. Warum nicht die Idee der Briten aufnehmen und ein schweizerisches Commonwealth lancieren, das interessierte Länder einbindet?
Eichenberger: Den Vorschlag halte ich für originell, aber leider ungeeignet. Sein Erfolg hängt davon ab, ob tatsächlich interessante Regionen in unser Commonwealth überwechseln wollen und können. Das würde wohl sehr lange dauern und ist unsicher. Es gibt aber Strategien, mit denen wir schnell und allein unseren Markt breit öffnen können. So sollten wir die heutige Lizenzierung von Importen – der Bund sagt, was importiert werden darf und was nicht – durch eine Zertifizierung mit Tarifierung ersetzen: Alle in der OECD zugelassenen Produkte dürften frei in unser Land rein, unabhängig davon, ob sie den Schweizer Normen entsprechen oder nicht. Für den Weiterverkauf erhielten jene Güter, die konform mit unseren Normen sind, ein Bundesgütesiegel – die Konsumenten wären also bestens informiert –, und für die normverletzenden müsste eine kleine Strafabgabe bezahlt werden. Damit hätten wir einen völlig offenen Markt gegenüber der OECD und null Ärger. Man müsste nur den Mut haben, so etwas als erstes Land der Welt einzuführen.
Und wie sieht es mit Mut für Assoziationen aus, gibt es Zusammenschlüsse, etwa mit anderen Kleinstaaten, die man aus Ihrer Sicht
anstreben müsste?
Eichenberger: Da wäre es wichtig, nach dem Vorbild der «blockfreien Staaten» eine Art Gegengewicht zu bilden zu jenen Gemeinschaften, etwa der G-20, in denen wir nicht dabei sind und die eher nach noch mehr Regulierung trachten. Ein solcher Verbund würde aber nicht primär Kleinstaaten versammeln – darunter fällt die Schweiz mit ihren 8 Millionen Einwohnern und ihrer wirtschaftlichen Grösse ja nicht mehr wirklich –, sondern einfach erfolgreiche Staaten, die ihren Bürgern bessere Bedingungen bieten als ihre Nachbarstaaten und wirtschaftlich vorankommen; etwa Dänemark, Singapur oder Neuseeland.
Hummler: Die Idee wäre eine F-10 oder F-20 – wobei «F» für «free» stünde.
Eichenberger: Genau. Ein solcher Verbund von erfolgreichen, wettbewerbsfähigen Volkswirtschaften wäre der Dorn im Hintern der Grossmächte – und würde sie vorwärts zu vernünftigerer Politik treiben.