Im Land der Flaschen
Freistaat Flaschenhals, 1919–1923
Wer von «Failed States» redet, denkt an Somalia oder den Kongo. Dabei gab es auch in Europa dysfunktionale Staaten. Einer der harmloseren entstand nach dem Ersten Weltkrieg im Rheinland.
Schuld daran war ein Berechnungsfehler. Als die Alliierten nach Kriegsende das Rheinland besetzten, zogen ihre Kartographen um Mainz und Koblenz Halbkreise, die sich hätten berühren sollen – was sie nicht taten. So blieb zwischen der französischen und der amerikanischen Zone ein unbesetzter Flaschenhals bestehen, der sich am 10. Januar 1919 kurzerhand für unabhängig erklärte.
Diese Unabhängigkeit stellte die 17 000 Einwohner allerdings vor zahlreiche Probleme: Der «Freistaat Flaschenhals» blieb von den Besatzungszonen abgeschnitten. Die Eisenbahn hielt nicht mehr. Zudem kappten die Franzosen Telefon- und Telegrafenleitungen. Und Limburg, die nächstgrössere freie Stadt, 50 Kilometer entfernt, liess sich nur per Knüppeldamm erreichen.
Zum Glück gab es im «Flaschenhals» jede Menge Flaschen, namentlich mit Selbstgebranntem gefüllte. Damit liessen sich die Bewohner der Besatzungszonen gerne versorgen. Im Gegenzug trieben sie ihr Vieh zur Schlachtung in den Freistaat oder karrten Kohle heran. Auch sonst setzte man auf Selbstorganisation, baute ein Postwesen auf und druckte Geldscheine mit Sinnsprüchen wie «In Lorch am Rhein, da klingt der Becher, denn Lorcher Wein ist Sorgenbrecher». Selbst politische Gefangene fanden im Freistaat Zuflucht.
Erst 1923 hatte der Spass ein Ende: Weil Deutschland mit den Reparationszahlungen im Verzug war, besetzten die Franzosen das Gebiet, das ihnen von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen war. Der Freistaat verschwand – nur um siebzig Jahre später von seinen findigen Nachkommen wiederbelebt zu werden. Dieses Mal allerdings, um den Tourismus anzukurbeln.
Wer schon immer eine doppelte Staatsbürgerschaft wollte, kann heute im Internet einen Flaschenhalser Pass erstehen. Neubürgern winken neben einem 4-Gang-Menü Sonderkonditionen beim Kauf von Lorcher Wein.