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Im Innern anders

Kennt Ihr noch den Halt der Tradition? Ein Brief an meine alten deutschen Freunde.

Liebe Zurückgebliebene in meiner deutschen Heimat, ich verstehe, dass Ihr Euch so wahnsinnig für meine schweizerische Heimat interessiert. Es gibt ja im Verhältnis der Länder zueinander so etwas wie Sympathiezyklen. Als ich vor dreissig Jahren aus Deutschland emigrierte, spielte die Schweiz im bundesrepublikanischen Bewusstsein eigentlich keine Rolle (was mir sehr recht war und so etwas wie Frieden gab); vor fünfzehn Jahren wurde es üblich, über die Schweiz angewidert die Nase zu rümpfen (polizeiliche Bespitzelungsexzesse! Überhaupt: «unbewältigte» Vergangenheit!); aber jetzt steht die Schweiz ganz hoch im Kurs – ungefähr so hoch wie der Franken. Ach ja, sprechen wir es ruhig gleich aus: mit dem Franken hat die gegenwärtige Schweiz-Begeisterung in Deutschland wesentlich zu tun. Wer träumt nicht von einer Welt, in der die Löhne und Gehälter doppelt und dreimal so hoch sind?

Doch diese Welt ist voller Rätsel. Ihr werdet sie nicht verstehen, Ihr läset denn jetzt weiter.

Wenn deutsche Städte und Gemeinden nach jeder Möglichkeit greifen, um neue Steuern einzuführen (in Essen die «Bräunungssteuer» für Sonnenstudios, in Köln die «Bettensteuer» für Hotelgäste, in Bonn die «Sexsteuer» für Prostituierte – zahlbar pro Nacht per Ticketautomat), dann dünkt einen die Tatsache, dass in der Schweiz die Steuern der Gemeinden gerade massenhaft gesenkt werden, natürlich seltsam. Umgekehrt stelle man sich einmal vor, was in Deutschland los wäre, wenn eine Vielzahl von Unternehmen angesichts einer solchen Krisenlage wie der gegenwärtigen Frankenstärke einfach längere Arbeitszeiten einführten. Das gäbe einen lustigen Aufstand der Besitzstandswahrer.

 

Abgeladene Unzufriedenheit

Natürlich lest Ihr im «Spiegel» und anderen halbschlauen Medien erwartungsgemäss hocherregte Korrespondentenberichte aus Zürich und Genf, die der Schweiz ein mindestens genauso grässliches Wirtschaftsdesaster prophezeien wie dem europäischen Riesenreich, aber lasst Euch davon nicht schwindlig machen. Sich durch Produktionsfleiss hochzurappeln, ist eine Schweizer Tradition, deren deutsches Pendant längst verlorengegangen ist.

Apropos Tradition: wer als Kind in Nachkriegsdeutschland gross wurde und zwischen den noch bis in die 1960er Jahre hinein zum Stadtbild zählenden Ruinen spielte, dem fehlt natürlich jenes grundschweizerische Gefühl einer geschichtlichen Unversehrtheit. Jenes Gefühl des Davongekommenseins, dessen sich die aufgeklärten Schweizer stets ein bisschen schämen. Das heisst, sie versuchen sich zu schämen, aber es gelingt ihnen nicht wirklich; es ist bloss eine im Kontakt mit Deutschen angelernte Geste, und weil das so ist, wirkt sie unecht, und weil die Schweizer das wissen, sind sie mit sich unzufrieden und lassen ihre Unzufriedenheit gerne an den Deutschen aus.

Nein, nein, es ist ein wenig anders. Wer in der Schweiz aufgewachsen ist, egal ob in der Stadt oder auf dem Land, der befindet sich in einem sozialen, historischen und ästhetischen Kontext, von dessen anstrengender Rigidität Ihr Deutschen keine Ahnung habt. Es fängt mit der herausfordernden Schönheit der Landschaften und Städte an. Urs Widmer, der jahrzehntelang in Frankfurt am Main lebte, empfand die dortige Hässlichkeit als geradezu befreiend. Er musste sich als Individuum nicht mehr gegen solche Erhabenheiten wie Zürich oder Basel durchsetzen.

Noch anspruchsvoller ist das geschichtliche Gerüst, auf dem die Schweizer ihr Leben lang herumturnen. Wir späten deutschen Stunde-Null-Bürger, wir Kinder des Kahlschlags und der ständigen pathetisch-zappeligen Neuanfänge können uns schwer vorstellen, was Kontinuität bedeutet und wie sich Tradition anfühlt. Eine kleine Geschmacksprobe kann man bekommen, wenn man immer schön aufs Geld schaut: plötzlich ist ein 20-Rappen-Stück von 1944 im Portemonnaie oder gar ein Franken aus dem Jahr 1917 – offiziell zwar ausser Kurs, aber immer noch im Umlauf. Wie viele Währungsreformen hatten wir in Deutschland seit dieser Zeit?

 

Gefühlsausbrüche vermeiden!

Aber das sind alles Nebensächlichkeiten im Vergleich zu den sozialen Auswirkungen von so viel Kontinuität und Tradi-tion. Denn hier, Ihr lieben deutschen Freunde, die Ihr von den modernen Möglichkeiten der europäischen Personenfreizügigkeit Gebrauch machend mit dem Gedanken eines Umzugs in die Schweiz spielt, hier beginnt der mystische Bereich der Mentalität, das heikelste Kapitel im Verhältnis zweier Völker zueinander – und vor allem dieser beiden.

Ihr wisst natürlich, dass die Schweizer im tiefsten Inneren irgendwie anders geartet sind. Ihr habt sicherlich auch schon gehört, dass es da einige Probleme mit dem Zustrom von Deutschen gibt, und vielleicht kennt Ihr einige der vielen in letzter Zeit erschienenen Bücher, die von diesen Pro-blemen handeln – entweder praktisch-ratgeberisch mit Verhaltenstips für Neuankömmlinge (mehr Grussformeln sprechen!, nicht «Fränkli» sagen!, Gefühlsausbrüche vermeiden!) oder literarisierend-ratlos (Gummihälse, Kuhschweizer, Sauschwaben).

Im Kern geht es dabei um folgendes: die deutsche Seele formt sich in einer geschredderten Gesellschaft. Kriegsfolgen, Eiserner Vorhang – in jeder Familie gibt es solche Wunden, und sei es das Schweigen einzelner Mitglieder, deren Vergangenheit sich auf Verbrechen reimt. Das Verhältnis der Menschen zueinander ist von Gruppenhierarchie geprägt, weil das in der geschredderten Gesellschaft Halt verleiht und Bindung schafft. Druck ausüben oder sich ihm unterwerfen: darin sind wir Deutsche virtuos.

Wir Schweizer können das fast nicht begreifen. Hier ist der raumzeitliche Zusammenhalt gewissermassen von Natur aus derart stark, dass man den sozialen Druck möglichst mindern möchte: durch Abstand und Respektsrituale. Familiengeschichten sind zwar in der Schweiz nicht minder kompliziert, aber sie sind als mehr oder weniger lange Fäden in den Teppich der Landesgeschichte eingewoben, nein: sie sind dieser Teppich. In der Bundesrepublik läuft gerade eine regierungsamtliche Motivationskampagne für mehr Jugendengagement mit dem Slogan: «Du bist Deutschland.» Das ist echt ulkig für Schweizer; dass der Staat aus Bürgern besteht, müssen sie sich jedenfalls nicht von der Verwaltung sagen lassen.

 

Man sieht sich immer wieder

In Deutschland ist man es gewohnt, den Staat als etwas Fremdes, ja Feindliches zu betrachten. Und tatsächlich ist Argwohn nicht ganz fehl am Platz, denn die Staatsmacht artikuliert sich gern totalitär: sie tritt mutmasslichen Steuersündern morgens um sechs die Haustür ein, sie entlohnt Datendiebe mit mehreren Millionen Euro, wenn sie ausländische Bankkontonummern und deren Inhabernamen auf CD liefern, sie foutiert sich überhaupt um Regeln und Verträge (zum Beispiel bei den Staatsschulden).

Für einen Deutschen ist es fast schockierend, wenn er in die Schweiz kommt und feststellt, dass der Staat den Bürgern nicht von vornherein und generell misstraut. Staatshörig, wie er ist, empfindet er das fast als Nachlässigkeit; so wie die DDR-sozialisierten Menschen mit der über sie hereingebrochenen Selbstverantwortung nicht zurechtkommen. Seine Steuerrechnung abzugeben, ohne unterschwellig als Verbrecher betrachtet zu werden, ist jedenfalls für einen deutschen Zuzüger in der Schweiz eine Erfahrung von unerhörtem Neuigkeitswert. Er ist es gewohnt, dass jede Quittung vom Finanzamt bis auf einzelne Eurocent überprüft wird. Und wenn die Prüfung das Zehnfache des fraglichen Betrags kostet.

Das alles sind Oberflächenphänomene, hinter denen das Geheimnis dessen steckt, was ich trotz allem «Nationalcharakter» nennen möchte: eine Mischung aus Genen und Gewohnheiten, aus geschichtlich und geographisch Gegebenem. Woher kommt die latente Gewaltsamkeit im deutschen Wesen? Woher die krachende Geselligkeit? Woher der Führer- und der Herdentrieb? Und wieso ist das in der Schweiz so anders, dass jemand, der von da nach dort zügelt, doch niemals ganz ankommt?

Man macht sich in der Schweiz keine Vorstellung von der Furchtfixiertheit der deutschen Psyche. Sie ängstigt sich vor der Polizei ebenso wie vor der Unordnung, vor der Bevormundung ebenso wie davor, den Mund aufzumachen, und nicht zuletzt vor einem System, das so wenig verzeiht, wie die eigene Rechthaberei zu verzeihen bereit ist. Sie liebt es, jederzeit jedem überflüssige Zurechtweisungen und Belehrungen zu erteilen: «Mann, hier steht ‹Ausgang›, könnse nich lesen?» (Zuruf eines unbeteiligten Passanten in Berlin, nachdem man ein ansonsten menschenleeres Foyer durch die neben dem Eingang liegende Tür betreten hat.)

Was Deutsche nicht wissen (können): in der Schweiz besteht eine gute Chance, dass man jemanden, den man angepöbelt hat, mal unter ganz anderen Vorzeichen wiedersieht, weil hier – wie in einem kleinen Theater – alle mehrere Rollen spielen. Dieses Aufeinanderbezogensein nervt zwar (und deswegen klagen Schweizer ständig über «Enge», fliegen nach Laos und finden Berlin klasse), aber es gewährt eine Form von Souveränität, die zwischen Kiel und Konstanz nicht nur vollkommen unbekannt, sondern auch ganz und gar undenkbar ist: das Bewusstsein, in allen Dingen des öffentlichen Lebens das Sagen zu haben, gefragt zu werden, wenn die Stadtgemeinde viel Geld ausgibt, wenn die Regierung schwerwiegende Verträge abschliesst oder wenn die Schulgemeinde einen neuen Leiter sucht.

Es ist schon fein, das alles zu erkennen und zu geniessen, aber das eigene So-Sein umzustellen, dauert ein bisschen länger. Ungefähr zwei Generationen.

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