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Im Gespräch mit Paul Nizon

30 Jahre Paris In diesem Frühjahr sind «Die Zettel des Kuriers», das vierte «Journal» des Schweizer Schriftstellers Paul Nizon mit Aufzeichnungen aus den 90er Jahren erschienen. Renatus Deckert traf den Schriftsteller in Paris, wo dieser seit fast 30 Jahren lebt, und sprach mit ihm unter anderem über das Schreiben in dieser
Stadt und seine jahrzehntelange Verbundenheit mit dem Verleger Siegfried Unseld. Im Anschluss an das Gespräch stellt Marcus Jensen die «Zettel des Kuriers»
vor und meint: «Das Spannungsfeld zwischen Vorsicht, demonstrativer, recht
deutscher Introvertiertheit und beeindruckender Spielfreude, wie auch ironischem Selbstbewusstsein macht den unverwechselbaren Reiz der Journale aus».

Ein Satz, den ich mehrfach in Ihren Büchern gefunden habe, lautet: «Nur der Fremde hat vor Verwunderung leuchtende Augen.» Sie haben diesen Satz mit Blick auf Paris geschrieben. Im Jahr 1977 sind Sie von Zürich hierher übergesiedelt. Aber noch in Ihrem letzten Buch, «Das Fell der Forelle», glaubt man, den Blick der vor Verwunderung leuchtenden Augen zu spüren. Fühlen Sie sich, nachdem Sie nun gut drei Jahrzehnte in Paris leben, noch immer als Fremder?

In diesen drei Jahrzehnten ist Paris für mich Heimat geworden. Bevor ich hierher kam, kannte ich dieses Heimatgefühl nicht. Meine Liebe zur Schweiz war immer eine gebrochene. Hier ist es anders. Sobald ich einige Tage nicht in Paris bin, sehne ich mich hierher zurück. Das ist nie der Fall gewesen in meinem Leben; ich habe mich nie irgendwohin zurückgesehnt. Durch das Aufwachsen meines jüngsten Sohnes in Paris bin ich noch in besonderer Weise in dieser Stadt verankert. Ich fühle mich nicht als Zugezogener, sondern als parisien. Das schliesst ein Gefühl der Fremde nicht aus. Man könnte vielleicht von einer geliebten Fremde sprechen. Für mich gehört Paris in das Kapitel der Liebschaften. Zu den grossen Städten, in denen ich längere Zeit gewesen bin, hatte ich immer eine Art Liebesverhältnis. Die Liebe zu Paris ist ungebrochen. Von Gewöhnung oder gar Abstumpfung kann keine Rede sein. Noch immer ist diese Stadt die schöpferische Herausforderung, die grosse Fremde, die mich immerzu anstachelt, lockt und verführt, ihr schreibend beizukommen. In Paris vergeht eigentlich kein Tag, an dem die Stadt mich nicht überwältigt und in mir Glücksgefühle, mitunter fast rauschhafte Zustände, auslöst.

In Ihrem Roman «Das Jahr der Liebe» heisst es: «Ich war nur noch Ich selber, was immer das bedeuten mochte. Ich war glücklich, elend glücklich, so ganz allein in Paris. Und ich war frei. … Nimm mich an, bring mich hervor! schrie ich, während ich herumlief, ich lasse dich nicht, ich will in die Welt!» Eine Assoziation, die sich einstellt, ist das Bild des jungen Eugène de Rastignac in Balzacs Roman «Père Goriot», wie er am Ende des Buches auf einer Anhöhe des Friedhofs Père-Lachaise steht und der vor ihm liegenden Stadt wie eine übermütige Kampfansage die Worte entgegenschleudert: «A nous deux maintenant!» – «Und nun zu uns beiden!»

Ja, dieser Ausruf von Rastignac, der diese Stadt erobern will, kommt meinem damaligen Zustand sehr nah. Als ich nach Paris kam, ging es für mich darum, ein neues Leben zu beginnen, auch ein neues Leben als Autor. Man muss dieser Stadt etwas beweisen, um angenommen zu werden. Das empfand ich damals sehr stark. Ich war noch nicht ins Französische übersetzt. In Paris kannte mich kein Mensch. In meiner damaligen Situation, einer Krisensituation, gefiel mir das. Aber mein Anspruch war schon ein anderer. Ich wollte hier zum Vorschein kommen. In der deutschen Sprache und Literatur war ich das bereits. Aber ich wollte es auch in dieser Stadt mit ihrer grossen kulturellen Tradition, die man unentwegt spürt und mitdenkt. Ich wollte in Paris leben und schreiben, aber nicht als ein Aussenposten der schweizerischen Literatur. Wie Rastignac ging es mir darum, in Paris emporzukommen. Es ist mir insofern gelungen, als ich heute von französischer Seite viel stärker akzeptiert werde als im deutschen Sprachraum. Sicher, die Franzosen neigen dazu, die Wahlpariser zu vereinnahmen. Aber ich war natürlich stolz, als ein Kritiker erklärte, meine Bücher gehörten zum französischen Patrimonium. Und als «Le Monde» schrieb, «Das Jahr der Liebe» sei eines der allerschönsten je geschriebenen Paris-Bücher, war das ein unglaubliches Kompliment. Denn es ist ja unheimlich schwierig, dieser Stadt einen neuen Aspekt abzugewinnen und nicht die bekannten Klischees zu reproduzieren.

Italo Calvino, der von 1967 bis 1980 in Paris lebte, hat in einem autobiographischen Essay mit dem Titel «Eremit in Paris» darüber nachgedacht, warum keines seiner Bücher in Paris spielt. Er schreibt: «Ein Ort muss zu einer inneren Landschaft werden, damit die Phantasie darangehen kann, diesen Ort zu bewohnen, daraus ihren Schauplatz zu machen. Doch Paris war schon die innere Landschaft eines so grossen Teils der Weltliteratur, mit einer solchen Anzahl von Büchern, die wir alle gelesen haben, die in unserem Leben wichtig waren.» Sie kennen diese Empfindung; Sie haben es gerade selber angesprochen. Wie gehen Sie damit um? Schüchtern diese zahllosen Bücher über Paris einen ein – oder spornen sie einen an?

Man bewegt sich in Paris wie in einem romanhaft aufgeladenen Geschehen. Diese Stadt ist schon so oft übersetzt worden, in Literatur, in Musik, in Filme, und so vieles davon ist in einem gespeichert, dass man all das mitemp-findet, wenn man durch Paris geht. Ja, das schüchtert einen ein. Gleichzeitig aber bedeutet es einen gewaltigen Ansporn, die Geister der hier entbundenen Dichter zu spüren und ihre Stimmen zu hören. Das ist auch ein Trost und eine grosse Ermutigung. Oft hatten diese Leute, wenn sie hierher kamen, alles auf eine Karte gesetzt; zum grossen Teil waren es Emigranten. Dieser existentielle Einsatz, die kämpferische Haltung, das Sichaussetzen auf Gedeih oder Verderb – das ist auch für mich sehr wichtig. Man könnte viele Namen nennen von Autoren, die in Paris zum Vorschein gekommen sind: Malcolm Lowry, für mich einer der Grössten überhaupt, wurde hier entdeckt. Joyce hätte seinen «Ulysses» in Irland nicht publizieren können. Er hätte Schreibverbot, wenn nicht Verfolgung riskiert. Also ist das Buch hier erschienen. Henry Miller musste erst durch die Pariser Lebensschule gehen, um zu seinen Quellen vorzustossen. Für ihn war diese Stadt die grosse Entbinderin. Und es gibt noch tausend Beispiele mehr. Wenn man in Paris schreibt, ist man Teil eines grossen Orchesters. Man bewegt sich in einem Feld von Weltliteratur. Das gibt einem ein ungeheures Freiheitsgefühl. Die Einschottung durch einen nationalen Kontext fällt weg, auch eine unbewusste Zensur. In Paris habe ich die eigene Provinz hinter mir gelassen.

Wann kamen Sie das erste Mal hierher?

Schon als Kind bin ich zu meiner Pariser Tante in die Ferien gefahren. Sie wohnte unterhalb von Pigalle. Das war 1947. Es war ein unglaublicher Lebenshunger zu spüren, eine Gier nach Leben, ein wahrer Vergnügungshunger. Der Krieg war ja noch nicht lange vorbei. Die nächtlichen Strassen bei Pigalle waren voller Menschen, voller Licht und voller Lockung. Aus den Türen der Bars drangen Schwälle von Lärm und Musik. Ich wusste bis dahin nicht, was Nachtleben war; ich hatte es nie erlebt. In Paris erfuhr ich es. Da war eine Intensität des Leben-Zurückgewinnens! Überall sah man Uniformen, amerikanische und englische, das waren die Urlauber, die aus den Besatzungszonen kamen. Ich war überwältigt von dieser ganzen Urbanität, die ich aus Bern nicht kannte. Damals gab es noch Les Halles, diese riesige Burgenstadt, die belagert war von den Lastwagen, die Nacht für Nacht heranrollten, um den Bauch von Paris zu füllen, die Camions, die die engen Gassen verstopften. Das Viertel quoll über von Fisch und Fleisch, von Gemüse und Früchten und Blumen. Auch dort, um diese Futterplätze herum, ballte sich das Nachtleben. In den sechziger Jahren wurden die Hallen abgerissen. Seither hat Paris viel von seinem Ambiente verloren, von seiner Stimmung. Und doch ist noch so vieles da. Die Substanz ist so gewaltig, dass sie fast unzerstörbar erscheint. Manche Bilder, die man mit Paris in Verbindung bringt, wird es wohl immer geben, zum Beispiel die Liebespaare, die wie lebende Denkmäler die Stadt bevölkern. Das ist mir auch damals schon aufgefallen, als ich als Jüngling hier war.

In einem schönen, enthusiastischen Text über Ihre Wahlheimat heisst es: «Ich muss mir Paris in täglichen leibhaften Übungen unausgesetzt anverwandeln, um den Traum oder das Movens meines Schreibens wachzuhalten.» Wie sieht dieses tägliche Sichanverwandeln von Paris aus?

In der Regel habe ich meine Schreibateliers anderswo in der Stadt. Manchmal sind sie sehr weit von meiner Wohnung entfernt. Das heisst, dass ich mich zur Arbeit begebe und jeden Tag die Stadt durchquere. Das ist nicht nur ein Auslauf oder ein Anlauf zur Arbeit, sondern es ist auch ein Sturz in die Aussenwelt von Paris und ein tägliches Michhineinwerfen in das Pariser Leben. Das bringt eine ständige Reibung mit sich, emotionale Berührungen; und aus der Reibung entstehen Funken. Etwas flammt auf, sticht mir ins Auge und provoziert innere Bilder. Über die Augenwege sammle ich ein, was mich an äusseren Eindrücken anspringt. Mitunter habe ich das Gefühl, ich könne im Vorbeilaufen ernten. All das speichere ich, und im Atelier fliesst es in die Arbeit ein. Um meine Wirklichkeit mit der Sprache festzuhalten, brauche ich die Ruhe, das Abgekapseltsein. Das kann ich nicht unterwegs. Ich bin nicht einer, der mit einem Notizblock herumläuft. Ich könnte auch nicht in einem Café schreiben. Ich bin derart mit tausend Antennen ausgestattet, dass ich einfach alles mithöre und aufnehme, was es gibt. Aber das Durchqueren der Stadt gehört schon zum Arbeitsprozess. Ich nenne es die tägliche Aufkurbelung. Auf dem Weg zur Arbeit wiege ich meine Sätze wie ein Dromedar das in seinem Höcker gespeicherte Fett. Manchmal ist es, als würde ich beim Gehen Worte herausstampfen. Dieses Physische des Marschierens gehört für mich ebenso zur Kreation wie das Sammeln von immer neuen Eindrücken. Dafür brauche ich Paris. Und noch ein Aspekt ist mir wichtig: das Sichverlierenkönnen, das Untergehen in der Grossstadt. Man kann natürlich auch durch Zürich laufen, aber diese Intensität, diese Dichte gibt es dort nicht. In Zürich können Sie vielleicht im Alkohol untergehen, aber in den Strassen können Sie nicht untergehen.

Ihr Journal «Die Innenseite des Mantels» beginnt mit dem Satz: «In Paris habe ich wohl alles Mögliche an Glanz, Hoffnung, Flitter verloren, aber ich habe diese poetische Existenz gefunden, die ich verteidige und für die ich bezahle, unter anderem mit Einsamkeit.» Was meint das: eine poetische Existenz? Ist es dieses tägliche Sichanverwandeln von Paris?

Die poetische Existenz ist eine auf nichts als den sprachlichen Ertrag ausgerichtete Existenz. Im «Jahr der Liebe» heisst es einmal: «Im Grunde laufe ich nur den Sätzen nach.» Eben das ist gemeint: die pausenlose sprachliche Artikulation der Wirklichkeit oder der eigenen Existenz. Nur das spielt eine Rolle; das Verwörtlichen oder Verschriftlichen. Das geschieht immerzu: an jedem Tag, zu jeder Stunde. Früher war das nicht der Fall. Lange Jahre habe ich ja so etwas wie ein Doppelleben geführt. Ich arbeitete als Kunstkritiker; das war der Brotberuf, den ich ausüben musste, um meine Familie zu ernähren. Von Zeit zu Zeit jedoch zog ich mich in eine Klausur zurück. Von 1967 bis 1973 ging ich jedes Jahr für einige Monate nach London. Das waren vom Munde abgesparte Schreibaufenthalte, Inseln der Freiheit. Ich habe niemanden getroffen, nichts erlebt. Nur geschrieben. Mein einziger Umgang in London war Canetti. Und dann noch dieser Freund, von dem ich im «Epitaph auf einen dicken Mann» erzählt habe. Es hat ja viele Schriftsteller gegeben, die solch ein Doppelleben führten: ein Bürgerleben einerseits, das zurückgezogene Schreibleben anderseits. Kafka hat tagsüber in der Versicherung gearbeitet, nachts hat er geschrieben. Bei mir hat sich die Klausur irgendwann auf das ganze Leben ausgeweitet. Ich führe nur noch dieses Wortleben, Tag und Nacht. Es zählt nur mehr das Jagen der Bilder. Die ganze Existenz ist darauf programmiert. Auf nichts sonst.

Sie nennen den Ort, an den Sie sich zum Schreiben zurückziehen, Atelier. Wie das Atelier eines Malers aussieht, weiss man. Wie kann man sich das Atelier eines Schriftstellers vorstellen?

Irgendwo habe ich geschrieben, das Atelier sei eine Geheimzelle in fremder Umgebung, der Schauplatz einer geheimen Tätigkeit. Und dieser Ort werde zur Cella, zur Keimzelle. Aber das ist natürlich eine pathetische Übertreibung. Das richtige Wort wäre wohl: Schreibatelier. Man könnte auch von einem Büro sprechen. Diese Arbeitszimmer sind immer sehr karg eingerichtet. Das sind reine Werkstätten. Ich brauche keine Stimmung. Ich habe dort nichts an den Wänden, nichts, was das Auge ablenkt. Der Raum enthält nur, was die Werkstätte ausmacht: das, was ich immer mein Frontmobiliar genannt habe. Ein Schreibtisch, ein Archivschrank, ein Sessel. Diese Stücke haben mich überallhin begleitet. Es sind die Zeugen meiner verschiedenen Schreibabenteuer. Meistens ist auch ein Kanapee dabei, je nachdem, wie Platz ist. Aber es wird dort nicht gewohnt, und ich empfange auch keine Besuche. Das Arbeitszimmer ist einfach das Behältnis für eine sehr einsame Tätigkeit. Eine Schreibzelle, die mit den Geistern der jeweiligen Arbeit angefüllt ist. Diese Geister bleiben am Abend eingeschlossen, wenn ich mich auf den Weg nach Hause mache. Mir ist wichtig, dass im Atelier nichts anderes passiert. Es wird dort nicht gekocht und nicht gegessen; man muss nicht den Tisch abräumen. Alles bleibt so wie am Vortag, und am Morgen, wenn man die Tür aufschliesst, tritt man wieder in die Arbeit ein, mitten unter die Geister. Auch das ist natürlich eine pathetische Übertreibung. Ihr Ursprung ist vermutlich das Laboratorium meines Vaters, der studierter Chemiker war und als Forscher arbeitete. Seine Forschungszelle erschien mir als Kind wie eine Hexenküche. Eine wichtige Rolle spielt sicher auch die frühe Lektüre von Robert Walser. Ich habe Walser schon als Gymnasiast gelesen, zu einer Zeit, als er vollkommen verschwunden war. Dieses Schreibleben, seine Einkapselung in diese Schreibmansarden, hat mir schon damals ungeheuren Eindruck gemacht. Hinzu kommt der Umstand, dass ich als Kunstkritiker sehr oft und auch sehr gern in Künstlerateliers war, in diesen schöpferischen Küchen der Maler, mit dem vielen Handwerkszeug, das wir ja nicht haben. Da war wohl auch Neid im Spiel.

Was ist Ihr Handwerkszeug?

Es ist immer noch die alte Klapperschreibmaschine. Ich habe von Anfang an mit der Maschine geschrieben, nie mit der Hand. Das hat tatsächlich etwas Handwerkliches, nicht nur durch den Lärm, der in der Schreibkammer widerhallt. Es erscheint mir auch physischer als die Bewegung des Stiftes auf dem Blatt Papier. Ausserdem verwende ich ein Tonbandgerät. Wenn ich einige Passagen geschrieben habe, nehme ich sie gleich auf. Beim Abhören des Tonbandes am nächsten Tag höre ich sofort Wiederholungen, Längen oder falsche Bilder. Das gehört zu meiner Technik. Das hat mit der rhythmischen Sprache zu tun, die ich schreibe, und auch mit einer merkwürdigen Abneigung, mich zu lesen.

Im Anhang eines Ihrer Bücher findet sich eine Liste Ihrer Pariser Ateliers von 1976 bis 1999. Darin sind knapp zwanzig Adressen in den verschiedensten Arrondissements aufgeführt.

Das ist mein Nomadentum. Ich ziehe durch die Stadt, durch die verschiedenen Quartiere. Immer wieder gibt es eine neue Gegend zu entdecken, einen neuen Blickwinkel auf Paris zu erleben. Einen neuen Ort, um die Augen spazierenzuführen und Eindrücke aufzunehmen, zu sammeln, zu beschreiben. Man wird mit einer anderen Bevölkerungsstruktur konfrontiert. Im dix-huitième etwa, dem 18. Arrondissement, ist die Präsenz von Schwarzafrika sehr stark. Da taucht man dann ein, in diese neue Umwelt. Dieses Nomadisieren, dieser tägliche Wechsel der Orte, bringt auch wieder ein Doppelleben mit sich. Ich habe die Vorstellung, dass ich auf dem Weg von der Wohnung zur Arbeit, von einer Existenz in die andere, meine Identität wechsle. Ich lasse das private Ich zurück und werde zum Ich meiner Fiktionen. Diese Verwandlung ist auf der Schwelle zum Atelier abgeschlossen. Das Ich, das, von der Welt abgekapselt, im Atelier schreibt, das in den Romanen seine Stimme erhebt, ist mein schreibender Doppelgänger.

Es ist also vom Zufall abhängig, in welcher Gegend von Paris Sie Ihr Atelier beziehen?

Ja, das ist absolut zufällig. Es ergibt sich einfach. Und es ist mir auch ganz gleichgültig. Mitunter muss ich lange Fahrten mit der Metro auf mich nehmen, um meinen Aussenposten zu beziehen. Und manchmal führt mich das Vorbeistationieren, wie ich es nenne, in eine mir schon bekannte Gegend. Das letzte Buch, «Das Fell der Forelle», schrieb ich in einer kleinen Wohnung auf der Butte Montmartre, in der Nähe von Sacré-Cœur. Nicht weit davon entfernt liegt das Viertel, in dem ich die ersten vier Jahre in Paris gelebt habe. Und da ich die Handlung des Buches dort situiert habe, lebten bei meinen Spaziergängen in der Ateliergegend die Erinnerungen an diese Zeit wieder auf. So konnte ich aus einem riesigen Fundus schöpfen. Alles war wieder da, obwohl es fast dreissig Jahre her ist. Manchmal, wenn ich auf die Strasse trat, hatte ich das Gefühl, ich träte direkt in die Welt meines Romans ein. Und es war mir dann sehr schmerzlich, mit dem Atelier auch die Gegend aufzugeben, als das Buch fertig war.

Heisst das, Sie geben ein Atelier auf, wenn die Arbeit an einem Buch beendet ist?

Nein, nein, das hängt von äusseren Umständen ab. Manchmal bleibe ich auch längere Zeit an einem Ort. Zum Beispiel habe ich drei, vier Jahre in der Nähe des Friedhofs Père-Lachaise gewohnt. Dort ist «Im Bauch des Wals» entstanden. Zu diesem Atelier gehörte der tägliche Gang auf den Friedhof. Schon immer bin ich ein Friedhofsgänger gewesen. Das war zu dieser Zeit mein Auslauf. Ich hatte dort eine kleine Wohnung. Gegenüber dem Haus war ein iranisches Restaurant mit einigen überaus schönen Frauen. Ich hörte, wenn manchmal am Nachmittag die eine, deren Wohnung an die meine grenzte, von ihrem Liebhaber besucht wurde.

Sie sind ein Friedhofsgänger?

Das kommt aus der Kindheit. Ich habe mit zwölf Jahren meinen Vater verloren und hatte statt einem Vater ein Vatergrab. Das war der äusserliche Anlass, auf den Friedhof zu gehen. Aber ich empfand diesen Ort auch als einen wunderbaren Auslauf. Der Friedhof war für mich ein Garten. Aber er hatte auch etwas von einer Stadt. Die Grabdeckel erinnerten an Häuserdächer. Diese Schwatzhaftigkeit der Grabinschriften und diese Vorstellung eines gewaltigen Lebenslärms, der dort begraben oder gebannt war, dieses riesige Geflecht von Erdendasein, das einen anrührt, ob man will oder nicht, verbunden mit der Einladung zum Spazieren oder zum Wandeln. Die wankenden Bäume, die Alleen, das Gesträuch, das sich im Wind wiegt… All das ergab für mich eine aufreizende Stimmung von Lebensappell und Nachdenklichkeit und einen Auslauf für die Gedanken. Ich hatte als Heranwachsender immer das Bedürfnis, mich wegzubegeben, um in Ruhe nachdenken zu können. Ich brauchte sehr viel Raum für dieses Nachdenken, für das Verarbeiten von Eindrücken, von Gefühlen. Deshalb ging ich dort spazieren. Man sieht die Friedhofsbesucher, die das Leid oder die Pflicht zu den Gräbern zieht. Und man sieht die Arbeiter, die die Erde ausheben, in der die Knochen liegen, und die schwarze Erde der neuen Grabhügel mit den frisch Begrabenen, und die Kränze. Ich weiss nicht warum, aber das hat mich stets unheimlich elektrisiert, und zwar immer im Sinn einer Lebensversammlung. Ich sage das im Unterschied zu Menschen, die zu Friedhöfen oder zu Spitälern ein problematisches Verhältnis haben, weil es dort nach Tod und Vergehen riecht. Bei mir ist das Gegenteil der Fall.

Ihr Verleger war viele Jahre lang Siegfried Unseld. Ihr erstes Buch, der Prosaband «Die gleitenden Plätze», erschien 1959 im Alfred Scherz Verlag in Bern. Aber schon das zweite, «Canto», kam 1963 bei Suhrkamp heraus. Wie war das Verhältnis zwischen Ihnen und Unseld?

Es war eine sehr enge, freundschaftliche Beziehung. Ich glaube, «Canto» war das zweite oder dritte von ihm selbst verantwortete Buch. Wir teilten also die Anfänge miteinander. Es gab Zeiten, da habe ich die Zugehörigkeit zum Verlag als meine engste Zugehörigkeit zu Menschen empfunden. Das war gerade zu Beginn meiner Pariser Zeit der Fall. Natürlich gab es zwischendurch auch Entfremdungen. Mitunter verblasste die Beziehung über mehrere Jahre. Das lag an den langen Entstehungszeiten meiner Romane. In den, wie ich sie immer nenne, sieben mageren Jahren zwischen «Canto» und dem Erscheinen von «Im Hause enden die Geschichten», schlief die Freundschaft für eine Weile ein. Aber als ich das Manuskript fertig hatte, da erwachte sie wieder. Ich merkte: für ihn war ein Autor nur dann eine wirkliche Bezugsperson, wenn er produzierte. Die problematischen, produktionslosen Zeiten waren ihm geradezu peinlich. Er war aber auch jemand, der gefordert hat. Er hat mich oft unter Druck gesetzt. Ich weiss noch, wie ich am «Stolz» war. Ich hatte den ersten Teil geschrieben, aber dann stürzte ich in eine Krise und hatte das Buch innerlich schon verworfen. Da sagte er zu mir: Deine Probleme interessieren mich überhaupt nicht. Nächstes Jahr will ich das Buch haben. Reiss dich zusammen! – Und so schrieb ich es dann zu Ende. Unseld kam oft nach Paris und suchte mich in meinen Ateliers auf, um die Nase in meine Küche zu stecken…

Er also durfte das Atelier betreten.

Ja, er durfte. Dann sass er in meinem Sessel und liess sich das Tonband vorspielen mit dem, was ich geschrieben hatte. Und wenn es ihm gefiel, wenn er roch, dass daraus etwas werden könnte, dann war er Feuer und Flamme. Man hatte den Eindruck, die ganze Welt zähle für ihn nicht mehr, nur noch wir zwei. Er verbreitete eine Euphorie! Und das war natürlich eine ungeheure Ermutigung. In prächtigen Farben malte er mir alle möglichen Perspektiven aus, die er für mich und das neue Buch sah. Er sagte mir Auszeichnungen und Preise voraus. Er redete vom Erfolg, als ob er schon da wäre. In seinen Augen gehörte zu einem Schriftsteller der sichtbare Erfolg. Und daran fehlte es mir. Ich merkte, dass er viel von mir hielt. Aber er hatte den Eindruck, dass er mich als Verleger nicht so durchsetzen konnte, wie er wollte. Darunter hat er auch gelitten. Das hat mir Ulla Berkéwicz erzählt. Und er hat mit einigem Missmut zur Kenntnis genommen, dass meine Bücher vom französischen Publikum mit viel mehr Zustimmung aufgenommen wurden als im deutschsprachigen Raum.

Aber das hat Ihr persönliches Verhältnis nicht getrübt.

Nein, nein. Zu meinem fünfzigsten Geburtstag zum Beispiel kam er angereist, um mich, wie er sagte, in den Kreis der Erwachsenen aufzunehmen. Dieser fünfzigste Geburtstag war ihm ein wichtiges Ereignis. Er kam mit einem schönen Präsent, einer Schreibgarnitur von Dupont. Ich war auch oft bei ihm in Frankfurt und habe in seinem Haus in der Klettenbergstrasse gewohnt. Manchmal hat er sogar selber für mich gekocht. Als ich von seinem Tod hörte, hatte ich eine Nacht lang eine richtige Verstörung. Wir hatten auch oft Krieg, der sich in Worten und Briefen niedergeschlagen hat. Es war schon eine Schicksalsbeziehung, die uns verband. Als wir zusammen anfingen mit «Canto», das war 1962. Er starb 2002. Das sind vierzig Jahre. Das kann man sich kaum vorstellen. Ich weiss noch, wie hingerissen er war von diesem Buch.

Erzählen Sie! Wann sind Sie Unseld das erste Mal begegnet?

Das war im Herbst 1961. Zwei Jahre zuvor war bei Scherz mein Erstling erschienen, ein kleines Buch mit zehn Skizzen in einer lyrischen Prosa. Darauf schickte mir Reinhard Baumgart, der damals Lektor bei Piper war, einen Brief. Er würde gern einen Vertrag abschliessen auf ein kommendes Buch. Aber ich hatte zu diesem Zeitpunkt kein kommendes Buch unter der Hand. Erst einige Zeit später, als ich mit «Canto» anfing, habe ich mich wieder bei Piper gemeldet. Dort wollte man mich gleich unter Vertrag nehmen. Da traf ich in Zürich auf der Strasse Max Frisch und erzählte ihm, dass ich einen Vertrag mit Piper unterschreiben würde. Er riet mir, noch zu warten. Ich solle erst die Suhrkamp-Leute sehen, die gerade in der Stadt wären, nämlich Siegfried Unseld und Walter Boehlich. Sie bestellten mich ins Hotel Urban, das es heute nicht mehr gibt, und ich ging dorthin, mit ein paar Entwürfen und einem auf Tonband gesprochenen Text. Ich spielte das Tonband im Hotelzimmer ab und las einige Seiten vor. Das ging etwa eine Stunde. Als ich fertig war, sah ich, wie Unseld fragend zu Boehlich hinüberblickte, und dann nickten die beiden sich zu. Wie lange ich brauchen würde, um das Buch zu schreiben? Sie setzten mir gleich einen Vertrag auf, mit monatlichen Vorauszahlungen, und ich unterschrieb. Das ging blitzartig. Und dann schrieb ich das Buch in nur acht Monaten nieder, in einem fast rauschhaften Zustand. Um so grösser war dann die Enttäuschung, als der Erfolg ausblieb, den sich der Verlag erhofft hatte. Unseld hatte sich ja einen Welterfolg erwartet, wie er mir sagte.

Sie haben bei der Gruppe 47 aus dem Manuskript gelesen. Wie kam es dazu?

Man musste vorgeschlagen sein, und das war ich von Ingeborg Bachmann, von Günter Grass und Martin Walser. Ich stak mitten im «Canto». Unseld riet mir ab. Er sagte: Geh da nicht hin! Es gab da ja diesen berühmten elektrischen Stuhl, und er hat wohl gedacht, es wäre besser, das Buch nicht schon den Wölfen zum Frass vorzuwerfen, bevor es überhaupt erschienen wäre. Aber ich wollte gehen. Ich wollte die Leute sehen, die meine Konkurrenz waren. Einige kannte ich freilich schon von Zürich her. Ingeborg Bachmann kannte ich sehr gut. Ich war keineswegs eingeschüchtert. Im Gegenteil: ich war damals in einer unglaublichen Euphorie. Ich dachte, ich hätte eigentlich keine Konkurrenz. Und das, was ich hörte, beeindruckte mich nicht sonderlich. Die Reaktion auf meine Lesung war dann auch sehr gut. Der Bruch kam erst mit dem grossen Misserfolg von «Canto». Da stürzte ich aus einer gewaltigen Höhe ab. Und es brauchte diese sieben Jahre, um mich wieder in die Literatur zurückzuschreiben. Von da an war mir bewusst, dass ich nicht dazugehörte. Das war das entscheidende Erlebnis bei «Canto». Ich spürte, zwischen mir und der deutschen Literatur klaffte ein Graben, den ich nicht zuschütten konnte. Damit begann, zunächst umständehalber, dann bewusst, meine Aussenseiterexistenz.

Davon ist oft die Rede in Ihren Journalen. Das erste, «Die Innenseite des Mantels», erschien 1995. Inzwischen gibt es drei weitere Bände, mit Aufzeichnungen aus den sechziger, siebziger und neunziger Jahren. Wie sind die Journale entstanden?

Lange Zeit habe ich diese Journale geführt, ohne jeden Gedanken an eine Veröffentlichung. Sie sind wie nebenbei entstanden, vor Arbeitsbeginn oder in der Nacht, unzählige Seiten, ein riesiger Haufen Papier, den ich lange nicht zur Kenntnis nahm. Inzwischen sind mir die Journale sehr wichtig. Sie zeigen die andere Seite meines Schreibens. Ich brauche sehr lange für das Schreiben der Romane, aber diese Aufzeichnungen schrieb ich sehr schnell. Als ich vor zehn Jahren Stadtschreiber in Bergen-Enkheim war, beschloss ich, die Blätter zu sichten und in eine Ordnung zu bringen. Mir zur Seite stand damals Maria Gazzetti, die heute das Literaturhaus in Frankfurt leitet. Die folgenden Bände habe ich gemeinsam mit Wend Kässens zusammengestellt. Allein hätte ich es nicht geschafft. Es gibt ja so viel. Wissen Sie, wir haben jedesmal nur einen Zehntel des Materials veröffentlicht. Es gibt also zehnmal mehr! Wir fingen mit den achtziger Jahren an, weil diese noch nicht so weit zurücklagen. Das hatte ich selber noch einigermassen im Kopf. Der Verlag reagierte zunächst zurückhaltend. Unseld war sehr skeptisch. Aber nachdem er das Manuskript von «Die Innenseite des Mantels» gelesen hatte, schrieb er mir einen langen Brief, der ungefähr so begann: Dieses Wochenende werde ich nicht so leicht vergessen. – Er hatte angefangen zu lesen, und dann hatte er nicht mehr aufhören können. In diesem Frühjahr ist der vierte Journalband erschienen.

Renatus Deckert, geboren 1977, lebt als Essayist und Lyriker in Berlin. Zuletzt erschien von ihm «Das erste Buch. Schriftsteller über ihr literarisches Debüt» (Suhrkamp, 2007).

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