Im Garten mit Niki
Niki de Saint Phalle, «Der Tarotgarten». Wabern/Bern: Benteli, 2008.
Das Tarot mit seinen Karten – insbesondere die 22 grossen Arkana – geht vermutlich auf die Bildsymbole altägyptischer Priester zurück. Im 15. Jahrhundert sind in Italien die ersten Kartenspiele dieser Art nachweisbar; sie waren auch von Kirche und Päpsten geachtet. Die grossen Arkana, die vermutlich archetypische Vorstellungen abbilden, die auch kabbalistische Ursprünge haben und den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets entsprechen, findet man zum Beispiel im Dom von Siena dargestellt. Antonia Mantegna war nur einer der bekannteren unter zahllosen Künstlern, die Tarotkarten gestalteten. Das Tarot bedeutete auch für Niki de Saint Phalle eine Möglichkeit, tiefere Einsichten in das Leben zu erlangen. Sie hat mit unvorstellbarem Arbeitseinsatz ihre eigene plastische Variante monumentaler grosser Arkana im Süden der Toscana in einem Garten gestaltet, wobei sie ihrer Vision einer grossen Gartenanlage im Stil von Antonio Gaudís Parc Güell und dem Vorbild des verwunschenen Sacro Bosco in Bomarzo aus der Renaissancezeit folgte. Vor allem aus Keramik und Spiegelscherben gestaltete Oberflächen ermöglichen durch die Reflexion von Natur, Licht, Farben und Betrachter eine von ihrem Lebensgefährten und Mitgestalter Jean Tinguely vis-a-vis-ification genannte gleichzeitige Brechung und Sammlung des visuellen Mikro- und Makrokosmos.
«Der Tarotgarten» wird bereits in 5., unveränderter Auflage vom Benteli-Verlag herausgegeben. Auf vielen Fotos wird der in der Nähe von Capalbio in der Maremma gelegene Park in der Entstehungsphase und in seinem ursprünglichen, heute leider nicht mehr so schön erhaltenen Zustand gezeigt. Dazu kommen Niki de Saint Phalles Kommentare zu den begehbaren und sogar von ihr bewohnten monumentalen Skulpturen, übersetzt und typographisch in ihre Handschrift übertragen. Knapp und informativ wird am Ende der Lebenslauf der 2002 verstorbenen Künstlerin angefügt.
Mehr ist nicht nötig, um Lesern einen Eindruck zu vermitteln von der Buntheit, der Lebensfreude, der Monumentalität der Figuren und Gebäude. Kein Kunstkommentar, keine der hundertfach erschienenen biographisch-psychologisierenden Interpretationen könnte den Genius Loci so vermitteln, wie es dieses Büchlein tut, das somit auch keines Kommentars bedarf und allen ehemaligen und zukünftigen Gartenbesuchern, Niki-Fans oder Geniessern des Aussergewöhnlichen und Schönen empfohlen werden kann.
«Wenn das Leben ein Kartenspiel ist, dann sind wir geboren worden, ohne die Regeln zu kennen. Und doch müssen wir mitspielen…» Diese Aussage Niki de Saint Phalles in ihrem Kommentar zum Tarotgarten mag man als Lebensweisheit begreifen oder nur als hübsche Formulierung wertschätzen – deutlich wird durch ihre Texte in diesem Buch, wie auch in der im gleichen Verlag erschienenen bebilderten Autobiographie «Harry and Me. Die Familienjahre 1950–1960», dass sie nicht nur eine bildende Künstlerin war, sondern auch auf dem Gebiet der Schriftstellerei ihr trotz allen Lebensleiden ungebrochenes Multitalent auszuleben vermochte.
vorgestellt von Sabine Kulenkampff, Erlangen