Illusion eines Nullrisikos
Die US-Regierung versteht die Drohne als Wunderwaffe gegen den Terror. Doch ihre Attraktivität als vermeintlich risikoloses Instrument verleitet dazu, übermässig viele Einsätze zu fliegen. Das könnte kontraproduktiv sein.
«Wir werden den Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan und in anderen Ländern fortsetzen. Wir brauchen dafür auch keinen Bodenkrieg mehr zu führen. Wir verfügen über sogenannte ‹Über den Horizont›-Fähigkeiten, was bedeutet, dass wir Terroristen und Ziele angreifen können, ohne dass amerikanische Bodentruppen vor Ort sind – oder nur sehr wenige, falls notwendig.»
US-Präsident Joe Biden, 31. August 2021.
In seiner Rede, in der er den Abzug der amerikanischen Streitkräfte aus Afghanistan ankündigte, wies Präsident Joe Biden darauf hin, dass die US-Mission zur Terrorismusbekämpfung auch ohne Bodentruppen weltweit fortgesetzt werden könne, da die USA im Krieg gegen den Terror über die Fähigkeit zur Bekämpfung «über den Horizont» verfügten. Diese Fähigkeit würde eine Mischung aus Drohnen und bemannten Flugzeugen bedingen, die von einer umfangreichen Überwachungs- und Nachrichtendienstinfrastruktur unterstützt werden, um ohne Bodentruppen in Afghanistan oder anderen chaotischen Kriegsschauplätzen rund um den Globus Terroristen ausschalten zu können. Im Kern ist eine «Over the Horizon»-Strategie eine Absage an das Konzept des «Nation Building» und ein Versuch, terroristische Bedrohungen im Ausland durch Luftüberwachung einzudämmen. Unbemannte Fluggeräte, besser bekannt als Drohnen, sind der zentrale Bestandteil dieser Strategie: Sie ermöglichen es Amerika, ausgewählte Ziele bzw. Zielpersonen sauber und aus der Ferne zu töten, ohne dass eigene Piloten einem Risiko ausgesetzt werden müssen. Mit diesen Vorteilen der Drohnentechnologie, so die Schlussfolgerung der Biden-Regierung, könne der Bodenkrieg in Afghanistan getrost aufgegeben werden – auch wenn der Kampf gegen den Terrorismus weitergeht.
Es ist nicht das erste Mal, dass ein US-Präsident auf Drohnen zurückgreift, um eine schnelle Lösung für ein drängendes politisches Problem zu finden. Präsident Barack Obama zum Beispiel hat sich stark auf Drohnenangriffe gestützt, auch wenn er sich rhetorisch von Präsident George W. Bushs Krieg gegen den Terror distanzieren wollte: Um militante Netzwerke zu zerstören, hat Obama in den acht Jahren seiner Amtszeit gemäss einer Schätzung beispielsweise 373 Drohnenangriffe in Pakistan durchgeführt.1 Obamas Bilanz zeigt, dass Drohnen nicht zwangsläufig ein Allheilmittel sind: Die Mission in Afghanistan scheiterte – einem ausgeklügelten Drohnenprogramm zum Trotz. Der Islamische Staat stieg auf, erlebte dann aber einen Niedergang im Irak und in Syrien, schlug aber in Europa heftig gegen zivile Ziele zu. Drohnenangriffe im Jemen schwächten Al-Qaida, hinterliessen aber einen Bürgerkrieg und eine Hungersnot. Zugegeben: Die angesprochenen Ereignisse sind komplex und lassen sich in ihrer Kausalität nicht nur auf den amerikanischen Drohneneinsatz reduzieren. Nichtsdestotrotz sollten die ausbleibenden Erfolge im Krieg gegen den Terror Präsident Biden zu denken geben.
Gemeinsame Feinde
Präsident Bidens «Over the Horizon»-Strategie beruht auf einer Reihe von sich überschneidenden Grundannahmen, die mindestens fragwürdig sind. So spielt beispielsweise der Faktor Entfernung nach wie vor eine entscheidende Rolle: Selbst wenn Drohnen aus der Ferne «über den Horizont» hinweg eingesetzt werden können, müssen sie weiterhin noch vor Ort gestartet werden. Die Drohne MQ-9 Reaper hat eine Reichweite von 1850 Kilometern, fliegt in der Praxis hingegen oft nur kürzere Strecken von einigen hundert Kilometern.2 Das bedeutet, dass die USA befreundete Luftwaffenstützpunkte in der Nähe von Afghanistan benötigen, damit diese Strategie funktioniert. Die USA sind somit auch nach ihrem Abzug aus Afghanistan von der Kooperation Pakistans und anderer Regierungen in der unmittelbaren Nähe abhängig. Dies hat sich in der jüngeren Vergangenheit als ein Hindernis erwiesen: Die USA haben nicht bedacht, dass der mächtige pakistanische Geheimdienst ISI einer der grössten Unterstützer der Taliban ist.
«Durch die Kombination von Eigenschaften wie Geschwindigkeit,
Präzision, Anpassungsfähigkeit und Distanziertheit üben Drohnen
eine nahezu unwiderstehliche Anziehungskraft auf politische
Entscheidungsträger aus – ohne dass sich diese dessen bewusst sind.»
Präsident Bidens «Over the Horizon»-Strategie verkennt auch, dass der Feind reagieren wird: Die Taliban sind nicht verpflichtet, den USA zu erlauben, nach Belieben Drohnenangriffe durchzuführen. Tatsächlich haben sie bereits erklärt, dass sie Drohnenangriffe im eigenen Land nicht tolerieren werden. Halten die USA dennoch daran fest und führen die Angriffe durch, könnten die Talibanführer versucht sein, Terrorgruppen wie Al-Qaida oder sogar dem erklärten Feind, der lokalen Organisation des Islamischen Staats Khorasan (IS-K), einen sicheren Zufluchtsort zu bieten, anstatt zuzusehen, wie amerikanische Drohnen afghanisches Gebiet bombardieren. Es ist auch nicht anzunehmen, dass eine solche Tötungsoffensive, die in Israel euphemistisch als «Gras mähen» bezeichnet wird3, die Zahl der terroristischen Gruppen tatsächlich verringern wird: In Afghanistan könnten Anti-US-Gruppen wie Al-Qaida oder das Haqqani-Netzwerk an Popularität und Rückhalt gewinnen, wenn die Drohnenangriffe fortgesetzt werden. Eine Zunahme der Todesopfer könnte in der Zivilbevölkerung eine Welle des Unmuts gegen die USA hervorrufen.
Erhöhte Risikobereitschaft
Zudem birgt eine «Over the Horizon»-Strategie eine weitere Reihe an Risiken, die mit dem Stand der Drohnentechnologie zusammenhängen. Es überrascht kaum, dass sich die Abhängigkeit der USA von ferngesteuerten Technologien wie Drohnen in den letzten zwanzig Jahren erheblich verstärkt hat. Moderne Drohnen sind verführerisch, weil sie Merkmale anderer Waffensysteme zu vereinen scheinen, und das zu sehr geringen Einsatzkosten: Sie verfügen über die Geschwindigkeit und Präzision eines Marschflugkörpers, gleichzeitig aber auch über die Robustheit und Reaktionsfähigkeit eines bemannten Flugzeugs. Sie liefern Bilder, die verblüffend real und genau sind, sind aber viel näher am Geschehen als etwa ein Satellit. Durch die Kombination von Eigenschaften wie Geschwindigkeit, Präzision, Anpassungsfähigkeit und Distanziertheit üben Drohnen eine nahezu unwiderstehliche Anziehungskraft auf politische Entscheidungsträger aus – ohne dass sich diese dessen bewusst sind.
Der US-Drohnenkrieg in Afghanistan
Eine Suche nach verlässlichen Zahlen zum amerikanischen Drohnenprogramm entpuppt sich als knifflig: Das Pentagon publiziert keine offiziellen Statistiken und bestätigt ausgewählte Drohneneinsätze nur im Einzelfall. Ein bisschen Licht ins Dunkel bringen die Recherchen der Organisation Bureau of Investigative Journalism: Sie durchstöbert in den von Drohnenangriffen betroffenen Ländern die lokalen Zeitungen und Zeitschriften und hält nach Meldungen über Einschläge Ausschau. Sobald drei für glaubwürdig eingestufte Quellen unabhängig voneinander über denselben Angriff berichten, wird der Drohneneinsatz in der Datenbank vermerkt und genauer überprüft. Da sich die Quellen hinsichtlich der Opferzahlen teilweise widersprechen, legen die Autoren hier eine Unter- und Obergrenze fest. Für den konkreten Fall Afghanistan geht die Organisation davon aus, dass sie nicht alle Drohneneinschläge ausfindig machen kann: Aufgrund der schieren Menge sei es vielen lokalen Journalisten schlicht nicht möglich, über sämtliche Vorfälle zu berichten.
Tote im Rekordjahr 2019: 118–4476
Davon bestätigte zivile Opfer: 80–361
Mit den Drohnenangriffen in Afghanistan verfolgten die USA in den vergangenen Jahren vor allem zwei Ziele: Einerseits bekämpften sie Aufstände, indem sie lokale Terrornetzwerke, wie das Haqqani-Netzwerk der Taliban, Verbündete von Al-Qaida oder den Islamischen Staat Khorasan (IS-K) gezielt schwächten. Dabei wurden entweder Zielpersonen getötet oder kritische Infrastruktur zerstört – beispielsweise Fabriken zur Herstellung von Heroin, das für die Taliban eine wichtige Finanzierungsquelle ist. Andererseits dienten die Drohnenangriffe dem Schutz der eigenen Bodentruppen; mit dem endgültigen Abzug der amerikanischen Streitkräfte im August 2021 hat sich diese Einsatzform erledigt. (jb)
Zusammengenommen können diese Eigenschaften zu einem übermässigen Einsatz von Drohnen und einer höheren Risikobereitschaft führen, was wiederum das Leid der Zivilbevölkerung vergrössert. Während Präsident George W. Bush relativ wenige Drohnenangriffe gegen bekannte Al-Qaida-Aktivisten durchführte, nutzte die Obama-Regierung ihre wachsende Drohnenflotte, um das Spektrum der Ziele auf lokale und Stammesnetzwerke sowie lose definierte Al-Qaida-«Verbündete» in Pakistan, Jemen und anderen Ländern auszuweiten. Ausgestattet mit noch leistungsfähigeren Drohnen ging Präsident Trump sogar noch weiter und führte eine Welle von Angriffen gegen Al-Shabaab in Somalia und andere Gruppen durch, die nur entfernt mit Al-Qaida oder dem IS verbunden sind. Beide US-Administrationen waren offiziell bestrebt, zivile Opfer zu vermeiden – gleichzeitig genehmigten beide schliesslich Angriffe auf Ziele, bei denen weniger sicher war, dass Schaden an Zivilisten vermieden wurde, als ihre öffentlichen Erklärungen vermuten liessen.
Während der Obama-Regierung setzten das Pentagon und die CIA sogenannte «Signature Strikes» ein, bei denen alle männlichen Personen im militärischen Alter aufgrund ihres Verhaltensmusters als Ziel eingestuft werden konnten – selbst wenn ihre Identität und ihre Beteiligung an militanten Aktivitäten unbekannt waren. Die Obama-Regierung gab die «Signature Strikes» schliesslich im Mai 2013 auf. Die Trump-Regierung lockerte die Zielvorgaben jedoch, indem sie die Schwelle für die Zulassung von Angriffen auf den Status «angemessene Sicherheit» herabsetzte, so dass bei dem geplanten Drohneneinsatz keine zivilen Opfer zu beklagen sind. Damit räumte sie den lokalen Militärbefehlshabern mehr Flexibilität ein – in der Hoffnung, dem Pentagon eine freie Hand im Kampf gegen den Islamischen Staat zu ermöglichen.4 Das Ergebnis war ein anderes: Das Drohnenprogramm wurde undurchsichtiger, und die Zahl der getöteten Zivilisten nahm zu. Das Muster ist klar: Der zunehmende Einsatz von Drohnen unter Obama und Trump war mit einer erhöhten Risikobereitschaft und einer nominellen Toleranz gegenüber zivilen Opfern verbunden. Der Drohnenangriff des Pentagons in Kabul vom 29. August 2021 offenbart das augenscheinlich: Zehn Zivilisten, darunter auch sieben Kinder, wurden aufgrund eines falschen Verdachts getötet, vom Pentagon wurde das Ausmass der Zerstörung gemäss Recherchen der «New York Times» vertuscht.5 Der Vorfall zeigt anschaulich, wie das Leid der Zivilbevölkerung zunehmen kann, wenn Drohnenangriffe wiederholt aus der Ferne in einem chaotischen, informationsarmen Umfeld durchgeführt werden.
Die Geister, die ich rief
Unmittelbar nach dem 11. September 2001 war die Drohnentechnologie wenig überzeugend: US-Drohnenbetreiber erklärten etwa, sie würden durch einen Strohhalm auf den Boden schauen. Mit dem Fortschritt der Drohnentechnologie wurden die unbemannten Systeme leistungsfähiger und sammelten eine erstaunliche Fülle und Vielfalt von Fotos, Daten und anderen Signalen, um ein umfassendes Bild des Schlachtfelds zu erstellen. Moderne Überwachungsdrohnen wie die US-Drohne Global Hawk sind zunehmend in der Lage, grosse Teile einer Region realitätsgetreu abzubilden und Unmengen von Daten über ihre Ziele zu sammeln. Dies hat dazu geführt, dass die Geheimdienstmitarbeiter nun «in Sensoren schwimmen und in Daten ertrinken», wie die «New York Times» einmal titelte.6 Mit der Technologie änderten sich auch die Ziele: Ausgestattet mit der technologischen Fähigkeit, immer mehr zu wissen, erweitert das US-Militär seine Bestrebungen hin zu einer «Informationsdominanz». Das Weitwinkelüberwachungssystem Gorgon Stare kann beispielsweise im Handumdrehen eine ganze Kleinstadt durchsuchen, mittels Investitionen in künstliche Intelligenz (KI) sollen die Drohnendaten rasch ausgewertet werden. Was früher ein Versuch war, ein bestimmtes aktives Schlachtfeld zu verstehen, hat sich dazu gewandelt, die Welt als ein grosses potentielles Schlachtfeld zu betrachten – reich an Daten und ohne grosse Einschränkung, wie oder warum diese genutzt werden können. Eine «Over the Horizon»-Strategie ist ein Freibrief für noch mehr Überwachung in Afghanistan sowie auf anderen realen und potentiellen Schlachtfeldern der Welt.
Mit seinem Versuch, Drohnen als zentralen Bestandteil einer «Over the Horizon»-Strategie zur Terrorismusbekämpfung einzusetzen, muss Präsident Biden vorsichtig sein. Unbemannte Fluggeräte sind nicht neutral, da ihre Fernsteuerung und die zunehmende Entfernung zwischen Pilot und Ziel auf subtile Weise zur zusätzlichen Risikobereitschaft ermutigen. Präsident Biden mag annehmen, die USA könnten die Bedrohung durch den Terrorismus in Afghanistan aus sicherer Entfernung bewältigen. Das ist aber ein kurzsichtiger Glaube: Er wird sich vor der Versuchung hüten müssen, Drohnenangriffe und zunehmende Überwachung der Region rund um Afghanistan gutzuheissen, nur weil die Drohnentechnologie dies erlaubt. Wenn die USA den Versuchungen hinter der modernen Drohnentechnologie nicht widerstehen, könnten sie allmählich wieder in die schmutzige Aufstandsbekämpfung hineingezogen werden, die sie eigentlich hinter sich lassen wollen.
Gemäss Daten des Bureau of Investigative Journalism. ↩
http://www.af.mil/About-Us/Fact-Sheets/Display/Article/104470/mq-9-reaper/ ↩
http://www.jpost.com/Opinion/Columnists/Mowing-the-grass-in-Gaza-368516 ↩
http://www.nytimes.com/2021/05/01/us/politics/trump-drone-strike-rules.html ↩
http://www.nytimes.com/2021/09/10/world/asia/us-air-strike-drone-kabul-afghanistan-isis.html ↩