Ignoranz als Leitkultur
Wer aus Ignoranz politisches Kapital schlagen und Planlosigkeit zum Programm machen will, denkt wohl kaum vom Ende her. Dort droht der Gesellschaft nämlich irreparabler Schaden. Wie gelingt es Politikern, die nicht wissen oder nicht wissen wollen, was sie eigentlich wissen sollten, kapitale Fehler in Erfolge umzumünzen?
Dass die deutsche Bundesregierung mit der Grenzöffnung im Herbst 2015 und der Aufnahme von Hunderttausenden von Migranten, die über andere europäische Länder einreisten, rechtens gehandelt habe, ist unlängst durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bestätigt worden. Danach darf ein EU-Land Asylbewerber aus humanitären Gründen freiwillig aufnehmen – selbst wenn es für deren Anträge gar nicht zuständig ist. Gleichwohl gelten auch weiterhin die Dublin-Regeln, wonach jenes Land, in dem ein Asylbewerber erstmals EU-Boden betritt, dessen Antrag prüfen muss.
Die Richter des EuGH appellieren damit an die Solidarität der europäischen Länder bei der Aufnahme und Verteilung von Migranten. Angesichts der Weigerung Ungarns und der Slowakei, Flüchtlinge aufzunehmen, ist das Urteil purer Sprengstoff für die EU. Das Recht erlaube zwar Solidarität, könne sie aber nicht herstellen, meint der Göttinger Staatsrechtler Alexander Thiele. Die Bereitschaft dieser Länder, Flüchtlinge aufzunehmen, sei nicht das Problem des EuGH. Im Streit um die EU-Migrationspolitik wird der Ball also an die Politik zurückgespielt.
Womit sich die Frage stellt, ob den politisch Handelnden der Unterschied zwischen Risiko und Gefahr bewusst ist. Während Risiken vom einzelnen kontrollierbar sind, liegen Gefahren ausserhalb individueller Beherrschbarkeit. Wer ein Risiko wie die Grenzöffnung einzugehen für praktisch unausweichlich hält, sollte also wissen, dass viele Bürger darin womöglich eine Beeinträchtigung ihres Rechts auf demokratische Teilhabe und ihres Lebensalltags sehen.
Merkels Flüchtlingspolitik vermittelt immer mehr Menschen das Gefühl, Regierenden ausgeliefert zu sein, die die soziale Virulenz der Risiko-Gefahr-Unterscheidung ignorieren, einsam über die Beherrschbarkeit gesellschaftlicher Grossrisiken entscheiden, umfassende Sozialexperimente veranstalten und sich dann verwundert die Augen reiben, wenn ihnen die Gesellschaft eines Tages wegen «Demokratie-Entleerung» um die Ohren fliegt.
Unkontrollierte Zuwanderung berührt ja nicht nur die kulturelle, sondern auch die ökonomische Zukunft der Gesellschaft. Deren Wachstums- und Entwicklungschancen beruhen nicht nur auf ihrem Real- und Humankapital, sondern vor allem auf ihrem Sozialkapital – auf ihrer Fähigkeit zu Kooperation, Ausgleich und Inklusion. Die wirkliche Gefahr, welcher die Bürger also ausgesetzt sind, ist mithin der Verlust von sozialem Vertrauen und Zusammenhalt.
Als Sprengsatz für die geplante «Jamaika»-Koalition könnte sich nun eine Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages erweisen, die zwei Tage vor der Bundestagswahl durch einen Bericht in der «Welt» publik wurde. Die Juristen bemängeln, dass die Bundesregierung keinerlei Angaben über die rechtlichen Grundlagen der Grenzöffnung gemacht hat.
Weil die Flüchtlinge aus einem sicheren Drittstaat kamen, hätten sie an der Grenze abgewiesen werden müssen. In jedem Falle wäre eine Parlamentsentscheidung geboten gewesen. Warum schweigt das Bundesverfassungsgericht so beharrlich zu der Frage, ob demokratische Rechte beeinträchtigt werden, wenn das Parlament bei derart wichtigen Entscheidungen übergangen wird?
Zunehmende Verstösse gegen die Grundregeln einer Rechts- und Vertrauenskultur (Eurorettung, Dieselskandal) lassen darauf schliessen, dass nicht nur Langeweile als dominante politische Kraft zum Machterhalt beiträgt, wie Peter Sloterdijk (NZZ vom 18.9.2017) meint, sondern auch eine Art struktureller Ignoranz in praktischer Absicht, die sich als fixes Orientierungsmuster in die Handlungsstrukturen moderner Demokratien einzuschreiben scheint.
Armin Nassehi hat im Novemberheft des «Schweizer Monats» ein fulminantes Plädoyer für die Suche nach einer «intellektuell kongruenten Position» des Liberalismus beigetragen, welche uns in die Lage versetzen könnte, kulturelle, politische und wirtschaftliche Uneinheitlichkeit nicht als Problem, sondern als Kompensation schwindender Gefühle kultureller Identität und Erwartungssicherheit zu betrachten.
Luzide beschreibt er Demokratie als Mechanismus, der es ermögliche, dass kollektiv bindende Entscheidungen auch von denen loyal getragen werden, die nicht zu jenen gehören, die diese Entscheidungen auch so getroffen hätten. Es gehe darum, Macht kontrollierbar zu machen und in die Schranken einer «kontrollierten Willkür» zu verweisen, die darin bestehe, dass auch andere Möglichkeiten im öffentlichen Diskurs sagbar seien. Der Lackmustest fürs Demokratische sei die kulturelle Fähigkeit, dass gleichzeitig unterschiedliche Lösungen sagbar seien und dass letztlich fast alle Themen politisierbar würden.
Darin ist dem Autor ebenso zuzustimmen wie seiner Aussage, es fehle an der Fähigkeit, die Abweichung von machtnahen Lösungskonzepten, Narrativen und «Framings» überhaupt legitim sagbar zu machen. Nassehi meint zu Recht, allein das Gefühl, dass die Dinge mit Konsequenzen auch anders gesagt werden könnten, erzeuge einen Legitimationsschub für jene Entscheidungen, die tatsächlich gefällt würden.
Je deutlicher indes das Funktionieren komplexer Demokratien davon abhängt, dass Abweichungen und Opposition sich entfalten können, desto sichtbarer wird der im Raume stehende Elefant namens «strukturelle Ignoranz». Wenn Opposition den Machthaber zwinge, wie Nassehi schreibt, für jene Entscheidungen, die dieser ohnehin treffen könne, gute Gründe parat zu haben, dann bewiesen die Ereignisse der letzten Jahre, dass Regieren in Deutschland auch ohne Opposition funktioniere. Wenn Opposition für die Selbstkontrolle des Machthabers unabdingbar sei, weil sie ihn zu verständigungsorientiertem Kommunikationsverhalten und verstärkter Responsivität zwinge, weil er stets damit rechnen müsse, gute Gründe für Entscheidungen angeben zu müssen, wenn er gefragt werde, dann bleibe rätselhaft, warum das «Nichtalternativlose», das Kontingente, für dessen Ausflaggen die Opposition zuständig sei, in der deutschen Politik gegenwärtig so chancenlos sei. Offenbar kann hier weder ein auf intellektuelle Höchstleistung getrimmter Liberalismus noch eine brillante soziologische Theorie Abhilfe schaffen.
Institutionelle Akteure reagieren nämlich reflexartig mit «defensiver Strukturierung», wenn sie sich von externem Wissen in ihrer Funktionsfähigkeit oder Existenz bedroht sehen. Was ihnen nicht in den Kram passt, wird ignoriert oder umdefiniert. Absichtsvolle Borniertheit schützt vor der Aufweichung etablierter Strukturen. Dass nicht nur überforderte Politiker, sinistre Notenbanker und arrogante Autobosse davon betroffen sind, sondern auch weite Teile der deutschen Leitmedien, zeigt eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung zum Medienverhalten in der Flüchtlingskrise: Haben sich die Journalisten erkennbar bemüht, die kritischen Fragen und die verschiedenen, auch kontroversen Positionen in der Bevölkerung aufzugreifen, zu durchleuchten und zu vermitteln? Wurde der mediale Diskurs so gestaltet, dass er integrativ und insofern gemeinwohlorientiert wirken konnte? Auf diese Fragen gibt die Studie nur eine Antwort: nein.
Die meinungsführenden Medien hätten sich in ihrer Flüchtlingsberichterstattung immer weiter von der Erfahrungsebene der Bürgergesellschaft entfernt und das virulente Thema «in ein abstraktes Aushandlungsobjekt der institutionellen Politik überführt». Politik, so die Studie, werde in den Medien überwiegend nicht als Prozess der Entscheidungsfindung, sondern als Schlagabtausch unter Mandatsträgern inszeniert. Ereignisthemen würden auf der abstrakten Ebene politischer Institutionen bearbeitet und ihres Ereigniszusammenhangs entkleidet.
Die Alltagswelt mit ihren Akteuren sei kaum zur Sprache gekommen, ausgenommen im Zusammenhang mit rechtsradikalen Gewaltakten. Doch auch dann sei die Sicht der politischen Elite eingenommen und durchgehalten worden. Ein demokratietheoretisch geforderter, verständigungsorientierter Diskurs sei im redaktionellen Teil der drei grossen deutschen Leitmedien («Frankfurter Allgemeine Zeitung», «Die Welt», «Süddeutsche Zeitung») im Verlauf des Jahres 2015 schlichtweg nicht zu finden gewesen.
Die Studie macht deutlich, dass es bei der Vermittlung des Flüchtlingsthemas zwischen Bundespolitikern, den Leitmedien und der Lokalpresse in bezug auf die politische Linie der Bundeskanzlerin einen bemerkenswerten Gleichklang gab. Das wird in einem Land, das seine Pressefreiheit so hochhält, durch «Framing» möglich: Vermittels der Medien wird ein thematischer Kontext erzeugt, der eine bestimmte politische Ziel- oder Einstellung verbindlich macht und zum Common Sense erhebt – etwa die «offene Gesellschaft» oder die «europäische Solidarität».
Damit sei eine spezifische Diktion des Komplexes Flüchtlingspolitik/Willkommenskultur verbreitet worden, die im Frühsommer 2015 die öffentliche Meinung so stark prägte, dass abweichende Positionen nicht gehört, geschweige denn diskutiert wurden. Politiker und Medien hätten die Willkommenskultur herbeigeredet und gegen Kritik immunisiert. In der Folge wurde daraus ein ethisch-moralischer Imperativ, ein von Politik und Wirtschaft erwünschtes Verhaltensmuster, das den dringend benötigten Fachkräften ein förderliches Umfeld schaffen sollte.
Warum das Narrativ Willkommenskultur eine derartige Konformität der Meinungen produzieren konnte, ist teilweise erklärbar. In den Medien treten nämlich fast nur Angehörige der politischen Elite in Erscheinung. Sie verhandeln die Themeninhalte und bestimmen die Agenda. Demgegenüber erscheinen diejenigen, die sich in den Behörden und Einrichtungen um die Bewältigung der ungeheuren Aufgaben und Probleme des Vollzugsalltags kümmern, aus der medial vermittelten Sicht der politischen Elite als wenig relevant. So sollte die deutsche Öffentlichkeit auf den «Kampf gegen rechts» eingeschworen werden – als habe Deutschland kein Migrations-, sondern ein Populismusproblem.
Auch die Schweiz soll bitte schön umdenken. Kijan Espahangizi, Geschäftsführer des Zentrums Geschichte des Wissens (ZGW) der ETH und Universität Zürich und einer der Wortführer der «postmigrantischen Gesellschaft» beim Berliner «Rat für Migration», meint: «Vor dem Hintergrund des bestehenden gesellschaftlichen Rassismus ist die schweizerische Dominanzgesellschaft in der Bringschuld. Es braucht ein deutliches Zeichen der bedingungslosen Inklusion faktischer Mitbürger. Nur so hat die Schweiz eine Zukunft als demokratisches Land.» (NZZ, 13.3.2015)
Der Vorwurf, Flüchtlinge aus dem Nahen Osten würden Rassismus und Antisemitismus in europäische Gesellschaften importieren, zeige auf die gesellschaftlichen Strukturen in der Schweiz zurück, welche rassistische Einstellungen förderten, ja allererst hervorbrächten. Doch nicht nur die Schweiz, ganz Europa sei auf «importierten Rassismus» geradezu angewiesen, da zur eigenen Entlastung Ausländer als Sündenböcke gebraucht würden. Antisemitische Einstellungen muslimischer Einwanderer stiessen in europäischen Ländern auf vielstimmige Resonanz. Daher schaffe sich Europa ein Gegenüber, dem es die Schuld für das Fortbestehen von Rassismus und Antisemitismus in seinem Innern geben könne.
«Tragischerweise» erhöhe diese Konstellation das identitätsstiftende Potenzial von antisemitischen Haltungen und Handlungen gerade bei jenen Muslimen, die hier wegen Rassismus marginalisiert würden. Unter solchen Bedingungen verstärkten sich importierter und hausgemachter Rassismus gegenseitig. Wer also hierzulande versuche, importierten Rassismus mit Integrationskursen zu bekämpfen, mache sich der strukturellen Ignoranz (sic!) gegenüber dem hausgemachten Rassismus und Antisemitismus schuldig. Über «importierten Rassismus» könne folglich nur klagen, wer selber ein Rassist sei.
Dieser bizarren Logik sekundiert die umstrittene Studie der Bertelsmann-Stiftung zur Integration von Muslimen in fünf europäischen Ländern («Religionsmonitor»), die behauptet, Migranten seien besser in den deutschen Arbeitsmarkt integriert als bisher angenommen. Ein anderes Bild zeigen die neuesten Daten der Bundesagentur für Arbeit sowie des Statistischen Bundesamtes. Danach hat sich die Arbeitsmarktlage für in den letzten sieben Jahren zugewanderte Muslime eher verschlechtert.
Seltsamerweise blendet der «Religionsmonitor», der die Rolle von Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt verstehen helfen soll, Fragen des religiösen Fundamentalismus, der Einstellung zur Gleichberechtigung von Frauen und zur Homosexualität aus. Gleichwohl titelte die FAZ willfährig: «Die Integration klappt, die Akzeptanz fehlt». Kulturelle und mentale Barrieren bestehen demnach nur auf Seiten der Bevölkerungsmehrheit und behindern die redlichen Integrationsbemühungen von Zuwanderern.
Strukturelle, auf handverlesene Fakten gestützte Ignoranz ist zur Maxime politischen und journalistischen Handelns geworden – man könnte auch sagen: zu einer Art Leitkultur moderner Demokratien, deren Bürger offenbar noch nicht so genau wissen, wovon sie eigentlich die Nase voll haben. Soziologische Aufklärung ist gefragter denn je.
Thomas A. Becker
ist Soziologe und ehemaliger Forschungsleiter des Gottlieb-Duttweiler-Instituts. Heute ist er Berater von Unternehmen und Institutionen der öffentlichen Verwaltung. Von ihm erschienen: «Kreativität – Letzte Hoffnung der blockierten Gesellschaft?» (UVK, 2007).