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Idiotische Streitereien
Servan Grüninger, zvg.

Idiotische Streitereien

Forscher beraten Politiker, ohne sie zu respektieren. Politiker verweisen auf die Wissenschaft, ohne sie zu würdigen. Das ist keine gute Grundlage für eine konstruktive Zusammenarbeit.

 

Wissenschaft ist fehlbar, ausser in der Politik. Dort gilt: Wenn wissenschaftliche Fakten die eigene Argumentation stützen, dann gelten sie absolut – und sonst sind es keine wissenschaftlichen Fakten. Das ist natürlich überspitzt wie eine «Blick»-Schlagzeile, aber es trifft den Kern des bisweilen widersprüch­lichen Umgangs mit Wissenschaft in der Politik.

Paradigmatisch zeigte sich das in den jüngsten Verhandlungen über das Gentech-Moratorium. Eine Minderheit des Nationalrats machte geltend, dass die wissenschaftliche Faktenlage gut genug sei, um zumindest die neuen Züchtungsmethoden vom ­Moratorium zu befreien. Eine deutliche Mehrheit fand jedoch, es brauche «mehr Daten» und «mehr Zeit», um faktenbasierte Entscheidungen treffen zu können, und verlängerte das Moratorium um weitere vier Jahre.

Spannend ist dabei, dass Befürworter und Gegner der Vorlage mit Verweis auf die Wissenschaft argumentierten – und damit implizit oder explizit der Gegenseite vorwarfen, unwissenschaftlich zu agieren. Der Entscheid über das Gentech-Moratorium sollte deshalb nicht als Prüfstein für die Wissenschaftsfreundlichkeit der involvierten Politiker betrachtet werden. Vielmehr ist es Ausdruck davon, dass Wissenschaft oft bloss als rhetorische Munition in politische Debatten einfliesst.

Manchmal braucht es dafür freilich die eine oder andere argumentative Verrenkung. So fand Bundesrätin Simonetta Sommaruga, dass die rasche Weiterentwicklung der gentechnischen Verfahren auch für eine Verlängerung des Moratoriums spreche – und vollendete damit einen fast zwanzigjährigen Zirkelschluss: Das Gentech-Moratorium, das 2005 befristet eingeführt wurde, um die Gentechnik besser erforschen und weiterentwickeln zu können, wurde 2021 verlängert, weil die Gentechnik besser erforscht und weiterentwickelt wurde. «Das macht intellektuell, wissenschaftlich und praktisch überhaupt keinen Sinn, aber das ist eben Politik, das muss mit Logik offenbar nichts zu tun haben», meinte FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen sarkastisch.

Wissenschaft à la carte

Die Wissenschaften verdanken ihre politische Glaubwürdigkeit zu einem wesentlichen Teil der Erwartung, empirisch überprüfbares und theoretisch abgestütztes Wissen zu präsentieren, das sich in seiner Verlässlichkeit und Unvoreingenommenheit von blossen Mutmassungen und ideologisch motivierten Behauptungen abgrenzt. «Wissenschaftlich» wird deshalb gerne synonym mit «wirklich» oder «wahr» verwendet und verstanden. Das macht die Wissenschaften attraktiv, um sie für politische Zwecke zu vereinnahmen. Denn mit der Wirklichkeit lässt sich nicht verhandeln, also ist es gut, die Wissenschaft als «Hüterin der Wirklichkeit» auf der eigenen Seite zu wissen – oder zumindest so zu tun als ob.

Viele Politiker benutzen wissenschaftliche Informationen lediglich als rhetorische Wegwerfprodukte: Wer die wissenschaft­liche Sichtweise bei einem Thema noch für sich vereinnahmt, kann sie beim nächsten Thema bereits wieder in Frage stellen – die Allianzen zwischen Wissenschaftern und Politikern sind so situativ wie kurzlebig. Wie viel Bedeutung Politiker der Wissenschaft jenseits rhetorischer Nützlichkeit entgegenbringen, ist deshalb schwierig zu beurteilen. Zurzeit laufen verschiedene Projekte, die Licht ins Dunkel bringen sollen. So erkundet die Junge Akademie Schweiz, wie wissenschaftliche Expertise im parlamentarischen Gesetzgebungsprozess eingebunden wird. Und die neugegründete Organisation CH++ arbeitet an einem Parlaments­rating, das erfassen soll, wie wissenschafts- und technikaffin angehende und bestehende Parlamentarier tatsächlich sind.

Bereits 2015 führte der Schweizerische Nationalfonds zusammen mit den Akademien der Wissenschaften unter dem Namen «Science Debate» eine entsprechende Umfrage unter Parteien und Parlamentariern durch. Das Ergebnis: «Die» Wissenschaftspartei gibt es nicht – und Politiker achten genau darauf, dass die etablierte Rollenteilung gewahrt bleibt. Will heissen: Die Wissenschaften sollen Informationen liefern, die Politik entscheidet letztlich aber selber. Es wird spannend sein zu sehen, ob sich diese Haltung in der Zwischenzeit verändert hat. Denn etwas ist auf ­jeden Fall anders: Nach Klimastreik und Coronapandemie haben viele Wissenschafter gemerkt, wie gross ihre diskursive Macht sein kann. Immer häufiger drängen sie deshalb selbst in die politische Arena.

Politisierte Forschende werden zu politisierenden Forschenden

So forderten Wissenschafter jüngst von Bundesrat und Parlament, den «wissenschaftlichen Konsens» in bezug auf die grüne Gentechnik anzuerkennen und das Gentech-Moratorium in der Landwirtschaft zu kippen. Bei der Abstimmung über das CO2-Gesetz setzten sich namhafte Klimawissenschafter für ein Ja ein – wofür ihnen SVP-Nationalrat Christian Imark prompt die Wissenschaftlichkeit absprach. Und natürlich sind auch die Ausein­andersetzungen zwischen Mitgliedern der Covid-Taskforce und politischen Entscheidungsträgern mittlerweile Legion. Der Epidemiologe Christian Althaus forderte beispielsweise, die Politik müsse lernen, der Wissenschaft auf Augenhöhe zu begegnen. Sein Fachkollege Marcel Salathé lancierte zeitgleich mit seinem Rücktritt aus der Taskforce die Organisation CH++, die unter anderem aufzeigen will, wo Politik und Verwaltung technologisch und wissenschaftlich im Rückstand sind. Und der Neurowissenschafter Dominique de Quervain gab beim Rücktritt an, sich zu sehr vom «politischen Korsett» eingeengt zu fühlen. Er wolle sich fortan «ungefiltert» an die Bevölkerung wenden.

Solche Aussagen machen klar: Einige Forschende möchten sich nicht länger mit der Rolle als wissenschaftliche Berater im Hintergrund begnügen, sondern bei bestimmten politischen Fragen proaktiv und gleichberechtigt – eben «auf Augenhöhe» – mitreden. Ein solches Engagement kann durchaus befruchtend sein für den politischen Prozess, zum Beispiel indem es die Vermittlung wissenschaftlicher Informationen vereinfacht und neue ­Impulse für politische Lösungen gibt.

Damit das gelingt, müssen sich aber alle Beteiligten im Klaren darüber sein, dass sich aus rein empirischen Aussagen keine moralischen Urteile und auch keine normativen Handlungsempfehlungen ableiten lassen. Leider scheinen das fast 300 Jahre nach David Humes Beschreibung des Sein-Sollen-Fehlschlusses noch nicht alle politischen und wissenschaftlichen Akteure verinnerlicht zu haben. So werden politische Forderungen auch von Wissenschaftern schnell einmal als rein wissenschaftlich begründet dargestellt, obwohl das schlicht nicht möglich ist: Ob Coronakrise, Klimaerwärmung oder Transformation der Arbeit – ohne Annahmen und Mutmassungen, die sich der direkten empirischen Überprüfung entziehen, lässt sich kein politisches Thema sinnvoll diskutieren.

Wenn Forschende jedoch so tun, als würden ihre politischen Empfehlungen ausschliesslich auf wissenschaftlichen Informationen gründen, dann entlarvt das im besten Fall Inkompetenz in der Politikberatung, im schlimmsten Fall eine versteckte politische Agenda. So oder so tun Wissenschafter weder der wissenschaftlichen noch der politischen Debatte einen Gefallen, wenn sie – zumindest implizit – in naive «Follow the Science»-Rufe verfallen und lediglich in Alternativlosigkeiten denken. Wissenschaft ist schliesslich keine Prophetie1:  Detailgenaue Voraus­sagen kann sie nur hinsichtlich eng umrissener und experimentell kon­trollierter Ereignisse machen.

«Wenn Forschende so tun, als würden ihre

politischen Empfehlungen ausschliesslich

auf wissenschaftlichen Informationen

gründen, dann entlarvt das im besten Fall

Inkompetenz in der Politikberatung, im

schlimmsten Fall eine versteckte politische Agenda.»

In der Politik zählt Wissenschaft nur so viel, wie sie nützt

Das Nicht(an)erkennen der normativen Dimension der Politik macht Forschende dann auch leicht angreifbar.2 Denn je weniger Wissenschafter die getroffenen Annahmen und Mutmassungen in ihrer Kommunikation kenntlich machen, desto einfacher ist es, ihnen vorzuwerfen, eine eigene politische Agenda unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit zu verfolgen. Jene, denen wissenschaftliche Bedenken ein Dorn im Auge sind, können diese damit umso einfacher in den Wind schlagen – zum Beispiel, indem sie berechtigte Kritik an unwissenschaftlichen Behauptungen rhetorisch umdeuten zu einer technokratisch motivierten Einmischung in einen demokratisch legitimierten Prozess oder indem sie Wissenschaftern vorwerfen, «politisch motiviert» zu arbeiten, wenn ihnen die Ergebnisse dieser Arbeit nicht passen.

Es gibt aber noch einen zweiten wichtigen Grund für Forschende, von der naiven Vorstellung wegzukommen, gute Politik liesse sich allein mit wissenschaftlichen Fakten begründen: Es würde sie davor schützen, politische Entscheide, mit denen sie nicht einverstanden sind, primär als Ausdruck von mangelnden Informationen oder fehlendem Verständnis seitens der Politik zu interpretieren.

Auch wenn einige Wissenschafter im Frust das Gegenteil denken mögen: Die meisten Politiker sind weder dumm noch ignorant. Sie können wissenschaftliche Informationen durchaus werten und einordnen – nur tun sie das meist nach anderen Kriterien als logischer Stringenz und wissenschaftlicher Präzision. Entscheidender ist für Politiker, dass sie in den wissenschaftlichen Informationen einen offensichtlichen Nutzen erkennen können, um die Wähler- und Interessengruppen zufriedenzustellen, die sie vertreten.

Das zeigt beispielsweise der unterschiedliche politische Umgang mit der Gentechnik in der Biomedizin auf der einen Seite und in der Landwirtschaft auf der anderen Seite. All die gentechnischen Methoden, für die in der Landwirtschaft laut Bundesrat und Parlament die Daten für eine Risikoabwägung fehlen, werden routinemässig in der biomedizinischen Forschung und Entwicklung eingesetzt – auch in der Schweiz, wo Hunderte von Arzneimitteln zugelassen sind, die mittels gentechnischer Verfahren hergestellt werden. So wird Insulin für Diabetiker mit Hilfe eines Bakteriums produziert, dem das menschliche Insulin-Gen eingepflanzt wurde. Ein Politiker, der die Anwendung der Gentechnik in der Biomedizin verbieten möchte, müsste sich nicht nur den Vorwurf gefallen lassen, das Leben von Patienten zu gefährden, sondern würde auch auf einen Schlag Ärzte-, Patienten- und Wirtschaftsvertreter gegen sich aufbringen.

Ähnlich starke politische Argumente und Interessengruppen fehlen für den Einsatz der Gentechnik in der Landwirtschaft: Am ehesten könnten Konsumenten- und Bauernorganisationen politischen Druck für eine Zulassung in der Landwirtschaft aufbauen – doch die scheinen zurzeit wenig interessiert daran zu sein. Und da die Forschung mit der grünen Gentechnik unter hohen Auflagen erlaubt bleibt, haben auch wissenschaftliche Organisationen nur bedingt einen argumentativen Hebel, geschweige denn die Lobbyingressourcen, um in Bern für die Aufhebung des Moratoriums zu weibeln. Wer in der Verlängerung des Gentech-Moratoriums ausschliesslich wissenschaftliche Ignoranz sieht, ignoriert wesentliche Rahmenbedingungen politischen Handelns.

Die Arbeitsteilung gerät ins Stocken

Die Schweiz ist nicht nur das Land vierteljährlicher Volksentscheide, sondern auch jenes der Expertenkommissionen, in denen wissenschaftliche Expertise aufbereitet und politisch nutzbar gemacht wird. Demokratische Entscheide bilden dabei den Rahmen für die Tätigkeit der Experten, welche über die Zulassung von ­Medikamenten, die Überprüfung der Grundwasserqualität oder die Kontrolle der Stromnetzstabilität befinden und Grundlagen liefern für künftige demokratische Entscheide.

Bisweilen scheint diese Arbeitsteilung aber ins Stocken zu ­geraten. In der Coronakrise haben einige wissenschaftliche Berater des Bundesrates recht unverfroren Kritik an politischen Entscheiden geübt, während gewisse Parlamentarier im Gegenzug versucht haben, ein fixes Öffnungsdatum für Restaurants ins ­Gesetz zu schreiben – als liesse sich eine Infektionskrankheit per Parlamentsbeschluss zum Verschwinden bringen.

Das passiert, wenn die Welten von Politik und Wissenschaften aufeinanderprallen, ohne dass eine gemeinsame Vorstellung darüber besteht, wie eine Zusammenarbeit im konkreten Fall aussehen soll. In der Konsequenz kommt es zu Streitereien, die wortwörtlich idiotisch sind. Nicht deshalb, weil die Debattenteilnehmer dumm wären, sondern weil sie unfähig sind, von der eigenen Sichtweise Abstand zu nehmen und das Gemeinsame zu sehen.

Der Philosoph Daniel-Pascal Zorn hat dies in seinem Essay «Shooting Stars» folgendermassen beschrieben: «Solange das ­Eigene – griechisch: ‹idion› – verabsolutiert wird, kann das Gemeinsame nicht eingesehen werden. Der Idiot ist nicht derjenige, der zu dumm ist, um zu verstehen, sondern derjenige, der das, was er für selbstverständlich hält, voraussetzt und so gar nicht in der Lage ist, überhaupt nur den gemeinsamen Grund einzusehen.» Eine Auseinandersetzung im Sinne einer genauen Beschäftigung mit anderen Perspektiven und Argumenten ist so ausgeschlossen. Wenn nur der eigene Standpunkt massgeblich ist, hat man recht, bevor die Debatte überhaupt begonnen hat. Alle anderen, die den eigenen Standpunkt nicht teilen, müssen demnach falsch liegen, womit sich eine Auseinandersetzung erübrigt.

Das Gemeinsame ins Zentrum rücken

Wer die Welten von Politik und Wissenschaften überbrücken möchte, muss nicht nur die wissenschaftliche Dyskalkulie in der Politik überwinden, sondern auch den politischen Analphabetismus in den Wissenschaften. Diesem Ziel hat sich das «Franxini-Projekt» verschrieben. Initiiert von der wissenschaftlichen Ideenschmiede «Reatch» und inspiriert von Stefano Franscini, Statistiker und Mitglied des ersten Bundesrats der Schweiz3, will es die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich engagierte Wissenschafter und Politiker besser verstehen und miteinander reden statt aneinander vorbeireden. Das Gemeinsame soll zum Kriterium der Debatte gemacht werden, nicht das Trennende.

Dazu gehört von wissenschaftlicher Seite her die Einsicht, dass demokratische Politik eben nicht bloss unproduktives «Blabla» ist, wie das manche Forschende despektierlich behaupten, sondern eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe erfüllt: Sie ­ermöglicht es, Perspektiven aus unterschiedlichen Teilen der ­Gesellschaft zusammenzubringen und zu verhandeln, ohne dass diese Teilperspektiven deswegen aufgegeben werden müssten.2 Und natürlich gilt das nicht nur für wissenschaftliche, sondern auch für unwissenschaftliche Perspektiven.

Von Seiten der Politik benötigt es für eine konstruktive Zusammenarbeit die Einsicht, dass auch der argumentative Opportunismus im Umgang mit der Wissenschaft irgendwann seine Grenzen hat. Denn Erkenntnisse, über die sich ein wissenschaftlicher Konsens etabliert hat, weisen das politisch Denk- und Machbare oft in Schranken, die sich auch mit dem grössten politischen Wunschdenken nicht überwinden lassen. Natürlich kann man hoffen, die Klimaerwärmung würde ohne negative Konsequenzen bleiben – darauf wetten sollte man angesichts der eindringlichen, seit Jahrzehnten anhaltenden Warnungen von Klimawissenschaftern besser nicht. Wenn Politiker den Anspruch haben, nachhaltige Lösungen zu schaffen, werden sie an wissenschaftlichen Realitäten über kurz oder lang nicht vorbeikommen.

  1. Servan Grüninger: Wissenschaft als Kassandra: «Wir haben es doch voraus­gesagt!» In: Medienwoche, 27.10.2020. http://www.medienwoche.ch/2020/10/27/­wissenschaft-als-kassandra-wir-haben-es-doch-vorausgesagt/

  2. Servan Grüninger: Denn sie wissen, was sie tun: Warum Forschende aufhören sollten, Politiker zu unterschätzen. In: Neue Zürcher Zeitung, 28.4.2021.

    http://www.nzz.ch/zuerich/meinung/corona-debatte-forscher-sollten-politik-nicht-unterschaetzen-ld.1613550

  3. Servan Grüninger: Das Franxini-Projekt sorgt dafür, dass sich Wissenschaft und Politik verstehen. In: VSH-Bulletin, 2.8.2021. http://www.ac-landing-pages-user-­uploads-production.s3.amazonaws.com/0000072119/8b496d6a-78a1-432d-9b8f-6bf4aa7f08ce.pdf

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