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«Ideologie der Zerrüttung»

Während viele Menschen den Absturz fürchten, wird er im Silicon Valley zelebriert. Das ignoriere die Sehnsucht der Menschen nach Stabilität, sagt ein Kulturphilosoph aus Stanford.

«Ideologie der Zerrüttung»

Herr Pogue Harrison, das gegenwärtige Siliziumzeitalter ist ein Zeitalter der rasanten Veränderung. Kann der permanente Drang zum Neuen, der vom Silicon Valley ausgeht, die Welt retten?

 Das Silicon Valley will die Welt nicht retten, sondern verändern. Nur setzt man hier Veränderung fälschlicherweise mit mehr Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Weltverbesserung gleich. Ich glaube jedoch, dass permanente Umwälzungen durch das Neue genau das Gegenteil von Weltrettung bewirken. Konstante Erschütterung «entweltet» beziehungsweise «unweltet» die Welt. Wenn man die Welt retten möchte, muss man sich gegen diese Ideologie der Zerrüttung und Innovation stellen.

Das klingt nach einer Arendt’schen Kritik.

 Ich verstehe die Welt wie Hannah Arendt als Existenzform über Generationen hinweg, als Permanenz, gegen die wir unseren eigenen sterblichen Aufenthalt auf Erden bemessen. Der Drang zur permanenten Erneuerung nimmt der Welt ihre grundlegendste Eigenschaft, nämlich die Dauerhaftigkeit, über die wir uns ja ins Verhältnis zu ihr setzen. Die Welt wird für die, die vor 20, 30 oder 40 Jahren aufwuchsen, zunehmend unerkennbar.

Mark Zuckerbergs berühmter Satz «Move fast and break things» – sei schnell und zerbreche Dinge – beschreibt genau diesen Unternehmergeist der Veränderung des Tech.

 Genau. Kreative Erschütterung – wenn man nichts zerbricht, dann verändert man auch nicht. Ich glaube, das ist eine enge und vor allem sehr kindische Einstellung. Sie zieht das menschliche Bedürfnis nach relativer Stabilität und Kontinuität nicht ausreichend in Betracht. Das ist ein Problem, das nicht nur Amerika kennzeichnet.

Was genau für ein Problem?

 Die Menschen leiden – emotional, psychisch und existenziell – an einer Malaise, für die wir noch keine richtige Bezeichnung haben. Es ist eine Malaise, die durch den Verlust der Welt, durch «Entweltlichung», bewirkt wird. Viele fühlen sich der Welt beraubt, die sie für selbstverständlich gehalten hatten. Anstatt aber den Grund dieser Malaise in den durch die Technologie bewirkten Umbrüchen zu sehen, beginnen sie, anderen die Schuld für die Entweltlichung der Welt zuzuschieben, vermeintlichen Welträubern wie Einwanderern, Vertretern von «Political Correctness» und so fort.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dieser Malaise und dem US-Wahlresultat?

Ja. Das Silicon Valley geht selbstgefällig von der Annahme der Einfachgerichtetheit der Geschichte aus, die zu mehr und mehr Konnektivität über soziale Klassen hinweg führt. Es war ein Schock, dass man damit offenbar nur eine Schnittmenge der Gesellschaft repräsentiert. Bei den Wahlen wurde eine Bevölkerungsgruppe sichtbar, die eben nicht dieser Welt angehört, die das Silicon Valley für alle angenommen hatte. Diese Menschen sehnen sich nach Realität, nicht nach Virtualität. Ich sympathisiere nicht mit Wählern von Donald Trump, aber ich kann die dem Wahlverhalten zugrunde liegenden Traumata von Weltverlust und Weltlosigkeit nachvollziehen.

In den letzten Jahrzehnten ist in den USA die Kluft zwischen Arm und Reich gewachsen. Hängt der Entscheid der Trump-Wähler nicht eher mit ökonomischer Prekarität zusammen?

Ich glaube nicht, dass ökonomische Ungleichheit für die Wahl Trumps entscheidend war – im Gegensatz zu vergangenen US-Wahlen. Das wird überschätzt. Jede beliebige objektive Analyse käme zum Schluss, dass ökonomisch Leidende wie die Arbeiterklasse und die unterhalb der Armutsgrenze Lebenden demokratisch wählen müssten, wenn sie im eigenen wirtschaftlichen Interesse wählten, nicht republikanisch. Nein, es ging um kulturelle Identität. Wer bin ich, wer nimmt mir die Welt weg? Die Antwort hierauf war: die Demokraten, die Eliten das Silicon Valley. Die Demokratien, die in Amerika und in Teilen Europas in Gefahr sind, sind es aufgrund der Erschütterungen des menschlichen Lebens durch den Tech.

Konkrete Analysen oder Lösungsvorschläge hat Trump allerdings auch keine präsentiert.

Nein. Aber das Gefühl vieler Menschen, dass etwas dort draussen ihnen die Welt wegnimmt, führt zu verschiedensten Verschwörungstheorien und Projektionen. Wenn jemand wie Trump «we will make America great again» sagt, verspricht er eben doch implizit die Rückgabe der Welt. Und viele Amerikaner wollen tatsächlich die Welt zurück, wohingegen wir im Silicon Valley in einer ganz anderen Realität leben, in der die wahre Heimat eine sich ankündigende Zukunft ist. Ein unglaublich kindischer Gedanke.

Was ist dies für eine zukünftige Welt, von der die Technologen träumen?

Sie ist vollkommen virtuell: zweidimensional, körperlos und auf den Bildschirm reduziert. Diese Virtualisierung – der Verlust der Dreidimensionalität, die Miniaturwelt des Bildschirms – ist das giftigste Nebenprodukt der ansonsten kreativen und innovativen Technologien des Silicon Valley.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ich bin nun 30 Jahre Professor hier in Stanford und ich sehe die verheerende Wirkung des Tech auf die verschiedenen Generationen von Studenten. Ich sehe, welcher Student mit iPhone und iPad aufgewachsen ist, mit PC oder mit gar nichts von alldem. In den 1980ern, als der PC noch neu war, konnte man von den Studierenden noch lineares Denken erwarten, heute nicht mehr. Die heutigen Studenten sind sehr intelligent, aber sie denken in Fragmenten. Unterbrochen und nebeneinandergestellt. Die intelligentesten Studenten Amerikas, aber in den Hausarbeiten bezieht sich kein Satz auf den nächsten.

Ein Denken, das sich selbst unterbricht wie beim Durchklicken zu immer neuen Websites. Man könnte auch optimistisch feststellen, die Technologie steigere die kognitiven Fähigkeiten, simultan und effizient zu hören, denken und swipen.

Wenn Heidegger vom Zeitalter der Technologie sprach, unterschied er Technologie von Technizität. Letztere meint die Essenz der Technologie, den Rahmen, durch den wir die Welt betrachten und den er «Gestell» nannte. Ein Gestell, die Rahmung aller Dinge – das buchstäbliche Touchscreen, durch das wir die Welt sehen. Das Schicksal der Welt wird von Technizität bestimmt, deren erstes Opfer das Denken an sich ist. Aber nichts als das Denken wäre wichtiger, um der Technizität adäquat zu entgegnen.

Vor noch nicht allzu langer Zeit war die Gründung eines Start-up ähnlich rebellisch wie die Gründung einer Rockband oder der Protest gegen den Vietnamkrieg. Das ist nicht mehr so. Welche Art der Rebellion bräuchte es, um der völligen Virtualisierung zu widerstehen?

Wenn ich zum Beispiel Trump wäre, würde ich, anders als die bisherige Regierung, die dem technologischen Fortschrittsdrang des Silicon Valley einen Freifahrtschein erteilte, alle Erzeugnisse des Silicon Valley gründlich überwachen. Bisher taten dies nur ein paar Bioethik-Professoren, blinde analytische Philosophen. Es wird einfach dem Gefühl vertraut, dass am Ende schon Gutes aus dem Tech kommen wird. Das Prinzip des Hippokratischen Eids wird systematisch vernachlässigt. Was besagt dieser Eid? «Richte keinen Schaden an.» Dies ist der Imperativ eines jeden Arztes. Nicht «Tue Gutes», sondern «Richte keinen Schaden an». Und deswegen muss  Tech überwacht werden.

Wie stellen Sie sich das denn vor?

Es stünde beispielsweise im Einklang mit Trumps Wirtschaftspopulismus, die Rolle künstlicher Intelligenz kritisch zu hinterfragen, ebenso den Einfluss der Robotik auf die menschliche Arbeitskraft und überdies die Entwicklung selbstfahrender Fahrzeuge zu verbieten, an denen jeder hier im Silicon Valley arbeitet, weil alle denken, diesen gehöre die Zukunft. Das ist übrigens eine weitere Eigenschaft des Silicon Valley: es entwirft erst ein Zukunftsszenario und glaubt dann, dieses sei unvermeidlich. Derzeit ist, natürlich im Namen des Guten, zur Entstopfung der Welt, die Abschaffung des menschlichen Fahrers die neue Unvermeidbarkeit.

Nun, Entstopfung, saubere Verkehrsflüsse ohne Hupkonzert und Einparkstress, das ist doch tatsächlich attraktiv. Wieso sollten wir selbstfahrende Fahrzeuge verbieten?

Für den Kapitalismus ist dies der beste Weg, sich der menschlichen Arbeitskraft zu entledigen, in den USA der etwa 3,5 Millionen Lastwagenfahrer, Chauffeure, Taxi- und Uber-Fahrer. Wenn Trump Kohleminen wieder eröffnen kann, wie er dies ja ankündigt, dann sollte es ihm ebenfalls möglich sein, Robotern die Arbeit zu verbieten. Ist er aber sensibel, intelligent und einfallsreich genug dafür? Wahrscheinlich nicht. Aber dies ist eine menschliche Welt, und wir müssen dafür sorgen, dass sie für Menschen weiterhin bewohnbar bleibt.

Neben künstlicher Intelligenz ist die Weltraumforschung, die Erschliessung menschlichen Lebensraums im All ein weiteres grosses Forschungsanliegen des Silicon Valley.

Ja, Elon Musk geht da voran. Deswegen spreche ich in einem Artikel von «Kindern des Silicon Valley», denn die Phantasie der Besiedlung des Alls hat etwas so grundlegend Kindisches. Kindisch sein ist ja zunächst einmal nicht falsch, darin liegt viel kreative Stärke, und gute Ideen können daraus entstehen. Aber die Vorstellung, dass wir den Mars kolonisieren werden, mit all den Problemen hier auf der Erde … Ich glaube, diese Phantasie zeigt uns indirekt, dass sie die Erde für verloren hält und sich einem Anderswo verpflichtet fühlt, sie bestätigt auf eine Weise die Entweltlichung der Welt.

Irgendwas macht Technologie dennoch unwiderstehlich für Menschen.

Sie wendet sich an das Kindliche in uns. Wir alle können wie Kinder denken, weil wir selbst einmal Kinder waren, uns selbst einmal als kindlich erfahren haben. In meinem Buch «Juvenescence» (dt: «Ewige Jugend») sage ich, dass das menschliche Genie in Teilen kindliche Eigenschaften bewahrt, dass diese aber durch einen hohen Grad kultureller Reife kompensiert werden müssen, damit Kindlichkeit nicht selbstzerstörerisch wird. Im Silicon Valley sehe ich enorm viel kindliches Genie und nur wenig kulturelle Reife. Das gilt leider allerdings auch für die gegenwärtige Politik.  Unter Trump befürchte ich eine zunehmende allgemeine Infantilisierung des politischen Systems und der Leute mit öffentlichen Ämtern, der Wähler und der Journalisten.

Es braucht also eine gesunde Balance. Wie schaffen wir das?

Wir brauchen eine politische Position, die sich vernünftig mit der Frage der Entweltlichung und der entmenschlichenden Wirkung der Technologie beschäftigt. Es gibt im Moment keine politische Opposition zum Tech, weder rechts noch links, höchstens in Ansätzen bei den Grünen. Alle lieben Tech. Technologie gibt sich trügerischerweise ideologisch neutral, deswegen ist sie so kraftvoll und diabolisch. Sie passiert nahezu unbemerkt jeden Radar, ohne dass den Menschen wirklich klar ist, dass es der Tech ist, der alles verändert. Selbst die Art, wie wir wählen und politische Entscheidungen treffen.

«Kraftvoll und diabolisch»? Damit inszenieren Sie einen klassischen Kampf zwischen Gut und Böse.

Das tue nicht ich. Die Protagonisten des Wandels im Silicon Valley nehmen von sich an, sie kämpften auf der Seite der Engel gegen den Teufel, der sich beispielsweise in den Trump-Wählern zeigt. Aber wissen Sie was? Es könnte sein, dass es im 21. Jahrhundert nichts Diabolischeres gibt als das, was im Silicon Valley entsteht – trotz bester Absichten. Wir wissen nicht, was passiert, wenn neue Technologien entfesselt werden. Es ist ein Fehler anzunehmen, Technologie sei an sich gut.

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