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Ich zweifle, also hoffe ich!

Versuch einer Einordnung des weltwirtschaftlichen Geschehens. Und eine persönliche Betrachtung.

Ich zweifle, also hoffe ich!
Kaspar Villiger, photographiert von Philipp Baer.

Während über fünfundvierzig Jahren trug ich in Wirtschaft und Politik Verantwortung. Ich erlebte Aufschwünge, Abschwünge, Euphorien, Krisen, Stagnationen, Aufstiege und Abstiege, und so richtig einfach war es eigentlich nie. Heute allerdings hat man den Eindruck, die Dinge seien besonders kompliziert und verworren und überforderten zusehends die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft. Die Halbwertszeit vermeintlich gesicherter Erkenntnisse nimmt kontinuierlich ab. In solcher Zeit steigt das Bedürfnis nach einer Standortbestimmung.

Nachdem ich nicht mehr in die Hektik von Tagesgeschäften verstrickt bin, habe ich versucht, die gewonnene Distanz zum täglichen Geschehen zu nutzen und nach jenen Triebkräften zu suchen, die das künftige weltwirtschaftliche Geschehen langfristig beeinflussen könnten. Dabei bin ich zusammengefasst zu fünf Ergebnissen gekommen, die ich im folgenden begründen möchte. Weil die fundamentalen Probleme, die angesichts der kurzfristigen Schwankungen der Stimmung in Politik und Wirtschaft oft verdrängt werden, alles andere als gelöst sind, sehe ich der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung vor allem der Industrieländer mit einiger Besorgnis entgegen. Chaostheorie und Erfahrung lehren uns allerdings, dass komplexe Systeme wie die Weltwirtschaft plötzliche heftige und unvorhersehbare Reaktionen entwickeln können. Alles kann immer auch ganz anders kommen, als man denkt, manchmal sogar besser. Hoffen wir’s!

Erstens spricht vieles dafür, dass die Finanzkrise noch nicht ausgestanden ist und dass – politischer Schönwetterrhetorik zum Trotz – der Weg zurück zu einem nachhaltigen Wachstum vor allem der Industrieländer lang und steinig sein wird.

Zweitens ist die gewaltige Flutung der Märkte mit frisch geschöpftem Geld zwar schmerzlindernd. Die Aktienmärkte boomten im Jahre 2013, die Finanzmärkte haben sich beruhigt und die Risiken des Auseinanderbrechens der Eurozone und eines weltweit synchronen Abschwunges sind kleiner geworden. Die strukturellen Probleme sind jedoch alles andere als gelöst, und die Nebenwirkungen können derart intensiv werden, dass sie den Patienten stärker bedrohen als die ursprüngliche Krankheit. Zu erwarten ist eine schleichende, aber gigantische Umverteilung von Gläubigern zu Schuldnern, eine Enteignung einfacher, ehrlicher Sparer und eine Minderung des Wohlstands breiter Bevölkerungsschichten. Pensionskassen werden enteignet, und durch zu billige Kredite verursachte Fehlallokationen werden zu strukturellen Verwerfungen ganzer Volkswirtschaften und zu neuen Blasen führen. Der Druck auf die Politiker zu den notwendigen strukturellen Reformen lässt derweil nach.

Drittens opfert die Europäische Union zentrale historische Stärken Europas und läuft Gefahr, dass der Wirtschaftsstandort gegenüber Asien und den USA langfristig ins Hintertreffen gerät. Wegen der zu erwartenden wirtschaftlichen Schwäche rückt auch das Ziel, ein wichtiger politischer Mitspieler in der Welt zu werden, in weite Ferne.

Viertens ist die beliebte These zu einfach, wonach die Krise allein auf masslos gierige Banker zurückzuführen sei. Die eigentlichen Ursachen der Krise sind vielmehr in der politischen Arena zu orten. Von fehlbaren Regierungen und Behörden nun plötzlich alles Heil zu erwarten, ist ein gefährlicher Trugschluss.

Fünftens haben die Märkte nicht versagt, sondern sie sind logisch falschen institutionellen Anreizen gefolgt. Deshalb ist die beliebte These zu simpel, die Märkte müssten gebändigt werden und der Primat der Politik sei wieder herzustellen. Im Gegenteil – solches Denken droht die Krise zu verstetigen.

1. Risiken der Weltwirtschaft

Die Welt ist in ein komplexes Geflecht aus politischen, ökologischen und wirtschaftlichen Krisen verstrickt. Jede einzelne davon wäre schon schwer genug zu bewältigen, aber in Kombination stellen sie eine enorme Herausforderung dar. Ich will indessen die politischen Krisenherde ausklammern und mich auf die wirtschaftspolitischen Fragen beschränken, obwohl mir bewusst ist, dass zwischen den beiden komplizierte Wechselwirkungen bestehen.

Ich sehe vier wesentliche Faktoren, welche die weltwirtschaftliche Entwicklung belasten: erstens die Anfechtung der Marktwirtschaft im Nachgang zur Finanzkrise und die sich daraus ergebende Tendenz zur Überregulierung; zweitens die demographischen Veränderungen in wichtigen Ländern; drittens der neu aufkeimende Protektionismus und schliesslich viertens die Geldpolitik der wichtigsten Notenbanken, von der weder die Wissenschaft noch die Politik genau weiss, an welchem Punkt sie sich von heilsamer Medizin in reinstes Gift verwandelt.

2. Die Krise der Marktwirtschaft

Lehnen wir uns einen Augenblick zurück und betrachten die Situation mit der nötigen Distanz. Nüchtern betrachtet, ist der Zustand der Welt besser, als wir dies normalerweise empfinden. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte ist mehr als überzeugend. Nur Marktwirtschaft schafft Wohlstand. Nur Länder mit marktwirtschaftlichen Verfassungen und klugen Regierungen, die auf Märkte setzen, haben zureichende Werte für ihre Völker geschaffen. Der Siegeszug marktwirtschaftlicher Ideen und die weltweite Schleifung von Marktzutrittsbarrieren haben sich als beispiellos erfolgreich erwiesen – in der ganzen Welt.

Das lässt sich mit Zahlen belegen: Trotz Verdoppelung der Weltbevölkerung in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts stieg die Versorgung mit Kalorien pro Kopf um 25 Prozent. Die mittlere Lebenserwartung aller Völker erhöhte sich im zwanzigsten Jahrhundert von 31 auf 66 Jahre. Die Kindersterblichkeit ist markant gesunken. Die Weltbank wies unlängst in einem Bericht nach, dass sich der Anteil der extrem Armen von 1990 bis 2010 in den Entwicklungsländern mehr als halbiert hat. Hunderte Millionen sind Armut und Hunger entkommen. Trotz wachsender Weltbevölkerung ist auch die absolute Zahl der Armen zurückgegangen. Zwar bestehen nach wie vor grosse Differenzen bei den Prokopfeinkommen zwischen den aufstrebenden Staaten und den Entwicklungsländern, aber die zunehmende Konvergenz der Lebensqualität ist erstaunlich – und es ist ebenso erstaunlich, dass kaum jemand über diese Leistung der Marktwirtschaft staunt.

Denn dies alles wurde nicht durch Umverteilung von Norden nach Süden bewirkt, schon gar nicht durch Entwicklungshilfe, sondern durch mehr Marktwirtschaft und durch die Verbreitung von Ideen und Technologien in sich global öffnenden Märkten. In Asien sind die Fortschritte am überzeugendsten. Auch die liberalisierten Finanzmärkte haben mitgeholfen, denn Kapital kann weltweit effizienten Einsatz suchen. Natürlich darf noch niemand mit dieser Welt zufrieden sein, solange es noch so viel Not, Hunger und Armut gibt. Aber es ist offensichtlich, dass Linderung nur mit mehr und nicht mit weniger Marktwirtschaft möglich ist. Gerade die kleine Schweiz ist ein gutes Beispiel. Ohne den marktwirtschaftlichen Austausch von Waren und Dienstleistungen mit dem Ausland wäre sie heute wohl ein Entwicklungsland.

Aber jetzt plötzlich, nachdem die Wirtschaft krisenbedingt vor allem in den Industrieländern stottert, soll das alles nicht mehr wahr sein. Am World Economic Forum 2012 in Davos wurde Kapitalismus zeitgeistkonform geradezu zum Schimpfwort degradiert. Sogar in der Schweiz wird das Zerrbild eines kalten und ungerechten Wirtschaftssystems zelebriert, obwohl wir eines der reichsten Länder der Welt mit einer der höchsten Beschäftigungsraten, mit einer der ausgeglichensten Einkommensverteilungen und mit gesunden Finanzen sind.

3. Einwände gegen die Marktwirtschaft

Ich will hier auf zwei Einwände eingehen, die nicht nur von Politikern der Linken gegen marktwirtschaftliche Lösungen vorgebracht werden. Erstens seien Märkte kalt, unsozial und herzlos, zudem manipulierbar und undemokratisch. Deshalb müsse zur Bändigung der Märkte der Primat der Politik wiederhergestellt werden. Zweitens habe die Krise unter den Verantwortlichen der Wirtschaft einen erschreckenden Mangel an Moral und ein schockierendes Mass an Arroganz, Rücksichtslosigkeit und Eigennutz zutage gefördert, was durch verschärfte Regulierung zu korrigieren sei.

Zum ersten Einwand ist zunächst festzuhalten, dass die Märkte keineswegs böswillige, eigennützige und von bösen Mächten gesteuerte Gebilde sind. Sie sind nichts anderes als das Kondensat von Millionen autonomer und freiwilliger Einzelentscheide unabhängig handelnder Individuen. Eigentlich kann man sich nichts vorstellen, das demokratischer wäre. Politiker finden das lästig, weil es sich ihrem Einfluss entzieht. Natürlich bedarf das Ergebnis von Märkten in einigen Bereichen der Korrektur, etwa durch den Schutz der Menschen vor den Wechselfällen des Lebens mittels des Sozialstaats. Aber Märkte sind letztlich immer stärker als die Politik. Versuche, sie zu unterdrücken, lenken ihre Wucht mit oft unvorhersehbaren Folgen um. Es ist wie bei einem alten Brunnenstock: Wenn man die Brunnenröhre zuhält, spritzt es unkontrolliert aus allen Löchern und Ritzen.

Wenn Länder wie Italien, Spanien oder Griechenland untragbare Zinsen für ihre Anleihen zahlen mussten, war dies nicht die Schuld böswilliger Spekulanten. Die Anleger – etwa Private, Pensionskassen und Versicherungen – trafen vielmehr rationale Entscheide. Oder würden Sie, lieber Leser, wollen, dass Ihre Pensionskasse wegen der attraktiven Zinsen griechische Bonds kauft? Märkte, das heisst die Menschen, welche die infinitesimalen Teilelemente der Märkte sind, reagieren auf Anreize. Diese Anreize verändern sich, wenn Politiker eingreifen, und zwar häufig in einer Weise, die Politiker nicht vorausgesehen haben und die ihnen missfällt. Ich machte während meiner politischen Laufbahn immer wieder die Erfahrung, dass aus diesem Grund Regulierungen anderes bewirkten, als ihre Schöpfer wollten. Die Beispiele sind Legion. Horst Siebert, ein deutscher Ökonom, nannte dies den Kobra-Effekt. Vor Jahrzehnten musste sich der indische Vizekönig offenbar mit Klagen wegen einer zunehmenden Kobraplage herumschlagen. Um die Kobrapopulation zu reduzieren, bezahlte er jedem eine Prämie, der einen Kobrakopf ablieferte. Das Gegenteil geschah: Die Kobras begannen sich noch viel rascher zu vermehren. Die Menschen hatten begonnen, Kobras zu züchten, um in den Genuss der Prämie zu kommen.

Ich erwähne einige Beispiele für den Kobra-Effekt aus der politischen Praxis. Zu viel Kündigungsschutz erhöht die Arbeitslosigkeit, weil die Unternehmen mit Anstellungen zurückhaltend sein werden. Mit der politischen Festlegung eines Mindestzinses und eines Umwandlungssatzes wollte man bei der 2. Säule der Altersvorsorge die Renten sichern. Gerade dies aber destabilisiert sie zurzeit. Unter Basel I, II und III verzichtete man auf die Forderung zur Kapitalunterlegung für die sinnigerweise als risikolos betrachteten Staatsanleihen, um den Banken einen Anreiz zu geben, solche zu halten und damit die Finanzierung von Staaten zu erleichtern. Gerade dadurch gerieten viele Banken in Probleme. Um Griechenland zu stützen, zwang man Privatanleger mit griechischen Bonds zu einem Schuldenschnitt, nicht aber öffentliche Gläubiger. Die logische Folge ist, dass kein halbwegs vernünftiger Privater mehr Bonds aus europäischen Peripheriestaaten zeichnet. Die amerikanischen Politiker wollten weniger bemittelte Wähler mit günstigem Hauseigentum beglücken – an sich löblich – und zwangen den Finanzsektor faktisch, Hypotheken an Leute zu vergeben, von denen man wusste, dass sie nicht über zureichende Kreditwürdigkeit verfügten. Sie trieben damit nicht nur viele Banken, sondern auch zahllose Hausbesitzer in den Ruin. Die Kobras sind in der Politik also omnipräsent. Unter nichts haben Völker in der Geschichte so sehr gelitten wie unter dem ungebändigten und falsch verstandenen Primat der Politik.

Natürlich braucht eine Marktwirtschaft auch Regeln. Aber ihre Erneuerungskraft, ihre Innovationsfähigkeit und ihre leistungsfördernden Anreize dürfen nicht paralysiert werden. Überregulierung bewirkt aber genau das. Deshalb führt der Versuch der Bändigung der Marktwirtschaft durch Über- und Kobraregulierung zu ihrer Strangulierung. Damit sind die drängendsten Probleme der Welt nicht mehr lösbar.

Der zweite Einwand fusst auf der populären Vorstellung, gierige und ruchlose Manager ohne jede Moral und Ethik hätten die Weltwirtschaft ins Elend gestürzt. In der Tat gibt es am Verhalten vieler Exponenten der Wirtschaft nichts zu beschönigen. Halten wir jedoch nüchtern fest: Wirtschaft braucht, um hinreichenden Wohlstand zu schaffen, Freiheit. Dabei ist Freiheit nur dann Freiheit, wenn sie auch missbraucht werden kann. Missbräuche aber, wie wir sie auch in der Krise erlebten, erzeugen in der Politik sofort den Ruf nach Einschränkung der Freiheit. Deshalb bedarf die Freiheit der verantwortlichen Nutzung, sonst gefährdet sie sich selbst. Gleichzeitig ist Überregulierung kontraproduktiv. Sie tötet das Verantwortungsgefühl langsam ab und lässt Führungskräfte mit gutem Gewissen tun, was noch nicht verboten ist. Zur verantworteten Freiheit gehört aber auch, dass, wer frei entscheidet, auch die Konsequenzen seiner Entscheidungen tragen muss.

Gewiss, es werden nie immer alle verantwortlich handeln. Die Mehrheit aber tut es, auch unter Managern. Mit einem gewissen Bodensatz an Verantwortungslosen muss eine freie Gesellschaft leben können, sonst ist es keine freie Gesellschaft mehr. Bei der Unternehmensführung wird allerdings ethisches und faires Verhalten unter dem wachsamen Auge von Politik, NGOs, Medien und kritischen Konsumenten zu einem wichtigen Erfolgsfaktor. Das ist gut so. Unethisches Verhalten kann die Reputation eines Unternehmens nachhaltig beschädigen – mit gravierenden Folgen. Deshalb wird die bewusste Pflege einer Unternehmenskultur, die sich beispielsweise am Leitbild des «ehrbaren Kaufmanns» orientieren kann, immer wichtiger.

Gerade die Politiker haben jedoch wenig Grund, mit der Moralkeule auf die Wirtschaft einzudreschen. Ist es moralisch, wenn Politiker durch Schuldenwirtschaft die Chancen der Kinder und der noch Ungeborenen in sträflicher Weise beeinträchtigen? Ist es moralisch, wenn in der EU die Maastricht-Verträge und die No-Bail-out-Vorschriften im Vertrag von Lissabon unter Berufung auf irgendwelche höheren Zwecke systematisch gebrochen werden? Ist es moralisch, wenn deutsche SPD-Vertreter die Abgeltungssteuer mit nachweislich unwahren Argumenten bekämpfen? Vielen Politikern ist für die Wiederwahl jedes Mittel recht. Bewusste Täuschung und irrationales Verhalten, wie es die moderne Verhaltensökonomik erforscht, finden sich bei ihnen genauso wie bei Managern.

Es kann nun nicht darum gehen, das Verhalten der Manager und jenes der Politiker in bezug auf Moral und Ethik gegeneinander auszuspielen. Beide Gattungen setzen sich aus fehlbaren Menschen zusammen, deren Verhalten zudem stark von institutionell gesetzten Anreizen beeinflusst wird. Der kürzlich verstorbene Wirtschaftsnobelpreisträger James Buchanan hat anhand zahlreicher Studien gezeigt, dass die Akteure in der Politik genauso ihre persönlichen Interessen verfolgen wie diejenigen in der Wirtschaft (Public-Choice-Theorie). Der Unterschied des Handelns liegt nicht in den handelnsleitenden Motiven, sondern in den unterschiedlichen Restriktionen, welche die jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen den Handelnden auferlegen. Die Anreize richtig zu setzen, ist die Kunst der Politik. Deshalb hat die Politik in einer Marktwirtschaft keinesfalls abgedankt, wie häufig behauptet wird. Im Gegenteil. Wie sie die Anreize setzt, entscheidet über Wohlstand oder Armut. Wenn sie dies ignoriert und aus einem längst überholten Machbarkeitswahn heraus glaubt, immer klüger als die Märkte zu sein, hat sie die ersten Weichen auf dem Pfad in die Armut gestellt.

4. Der demographische Wandel

In vielen Ländern wird die Veränderung des Verhältnisses der Anzahl Rentner zur Anzahl der Erwerbstätigen die Finanzierung der Altersvorsorge und des Gesundheitswesens unter Druck setzen. Es ist zwingend, diese Sozialwerke rechtzeitig zu reformieren. Das sind politische Herkulesarbeiten. Diese Aufgabe mit immer neuen Ausreden ständig zu verschieben, ist gerade aus ethischer Sicht mehr als verwerflich. Leider zeigen die publizierten Staatsrechnungen nur die halbe Wahrheit. Die sogenannte implizite Verschuldung, also die nicht publizierte und damit nicht sichtbare Verschuldung durch nicht finanzierte soziale Leistungsversprechen, übersteigt die sichtbare explizite Verschuldung um ein Mehrfaches und ist in den Risikozuschlägen der Märkte noch nicht eingespeist.

5. Protektionismus

Lange hat man geglaubt, die Globalisierung mit zunehmend frei zugänglichen Märkten sei wegen ihrer wohlstandsfördernden Wirkung irreversibel. Das erweist sich als Trugschluss. Die WTO hat unlängst festgestellt, dass erstmals weltweit mehr protektionistische als liberalisierende Massnahmen getroffen worden seien. Die Doha-Runde zur weiteren Liberalisierung des Welthandels wurde faktisch beerdigt. Dabei wäre ein solcher Impuls ein hervorragendes Mittel zur Belebung des Wachstums auf globaler Ebene. Gewiss sind regionale Freihandelsabkommen da und dort in Arbeit, aber aus Sicht des Welthandels sind multilaterale Abkommen weit wirksamer. Die lokalen Politiker sind sich leider nicht bewusst, dass das, was sie als wohlstandsbewahrenden Schutz empfinden, den Wohlstand gefährdet. Wir haben vergessen, dass der Entglobalisierungsprozess vor dem Ersten Weltkrieg eine der Ursachen dieser Katastrophe war. Ein kleiner Lichtblick ist die Absicht, am kommenden Ministertreffen der WTO in Bali ein Massnahmenpaket für vereinheitlichte und vereinfachte Zollformalitäten zu verabschieden. Dies würde die Rahmenbedingungen für die modernen und weltweit ausgreifenden Zuliefer- und Logistikketten mit positiven Folgen für den Wohlstand markant verbessern.

6. Einige nützliche Erkenntnisse aus der Ökonomie

Bevor ich nun auf die Schuldenkrise und ihre Bekämpfung eingehe, möchte ich aus Sicht eines Praktikers einige Überlegungen zur Volkswirtschaftslehre anstellen. Dass die Politiker in bezug auf Rezepte zur Bewältigung der Krise uneinig sind, ist in Demokratien selbstverständlich. Verwirrlicher für Politiker und Laien ist jedoch die Uneinigkeit der Ökonomen. Während etwa Barry Eichengreen und Paul Krugman noch viel umfangreichere Gelddruckaktionen der Notenbanken zur Finanzierung grosser Ausgabenprogramme als notwendig erachten, warnt William White, früherer Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, vor den gravierenden Folgen schon der aktuellen aggressiven Geldpolitik: Fehlinvestitionen, Erhaltung nicht wettbewerbsfähiger Strukturen, Enteignung der Sparer, Verlust der Signalwirkung der Zinsen sowie Gefährdung der Unabhängigkeit der Notenbanken. Anne Krueger, die Grand Old Lady der amerikanischen Ökonomie, hält es für unerklärlich, wie man das Schuldenproblem mit ständig mehr Schulden lösen solle. Sie meint, die Völker müssten unnötig lange leiden, wenn man die Lösung der fundamentalen Probleme immer wieder hinausschiebe. Martin Feldstein, Professor in Harvard, schreibt im «Wall Street Journal» vom 4. Januar 2013, die Geldpolitik des Federal Reserve (Fed) verursache gefährliche Blasen, die eine höhere künftige Inflation zur Folge hätten und das explosive Wachstum der nationalen Verschuldung unterstützten.

Um sich ein eigenes Urteil zu bilden, ist es nützlich, sich einige Erkenntnisse der Ökonomie zu vergegenwärtigen, über die mehr oder weniger Einigkeit besteht. Ich will einige davon summarisch aufzählen:

Finanzkrisen hat es seit Jahrhunderten immer wieder gegeben. Obwohl immer klare Indizien auf die kommende Krise hindeuteten, hielt man sich stets für klüger als die Verantwortlichen vor früheren Krisen und schlug Warnungen in den Wind. «This time is different» ist der vielsagende Titel des lesenswerten Buches von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff über acht Jahrhunderte Finanzkrisen. Immer war der Verlauf ähnlich, und immer waren es wie heute auch wieder klassische Kreditkrisen. Sie haben tiefgreifende und lang andauernde negative Effekte auf Staatsverschuldung, Preise von Vermögenswerten, Wachstum und Beschäftigung.

In den betroffenen Ländern entsteht ein Teufelskreis: zuerst Vertrauensverlust, deshalb hohe Risikoprämien in Form hoher Zinsen, deshalb noch mehr Vertrauensverlust und deshalb noch höhere Zinsen usw. Dabei sind für das Vertrauen der Märkte nicht nur Kennziffern wie Schuldenquoten oder Primärsaldo wichtig. Auch Faktoren wie Regierungsführung, Ausgestaltung der Institutionen oder Ausmass der Korruption sind von entscheidender Bedeutung. Dabei kommt es vor, dass die Märkte auf eine Verschlechterung solcher Faktoren lange wenig reagieren, bis sie es aus irgendeinem letztlich zufälligen Anlass sprunghaft tun. Spekulanten können Auslöser sein, aber entscheidend sind immer die fundamentalen Mängel, die ungelösten Hausaufgaben.

Wegen der durch staatliche Sparmassnahmen entstehenden Härten wird die Austeritätspolitik vieler Staaten zunehmend kritisiert. Die Kritiker meinen, Mehrausgaben für Konjunkturstimulierungspakete wären die bessere Therapie. Sie übersehen allerdings, dass die betroffenen Länder, die zu vernünftigen Bedingungen sich ohnehin kaum mehr Geld am Markt beschaffen können, über den finanziellen Handlungsspielraum für solche Programme gar nicht mehr verfügen. Die Mehrausgaben könnten gar den eigentlichen finanziellen Kollaps zur Folge haben. Deshalb führt trotz rezessiven Effekten nichts um die harte Sanierung der Finanzen und Strukturen herum. Eine im Monatsbericht vom April 2006 der Europäischen Zentralbank publizierte empirische Studie zeigt, dass Reformländer, die sogar in Rezessionszeiten ihre Finanzen ausgabenseitig sanierten, nachher ein rascheres Wachstum als Nichtreformländer erzielten. Das hat damit zu tun, dass die Kürzung staatlicher Ausgaben zwar einen dämpfenden Effekt auf die Wirtschaft hat. Dieser wird aber überkompensiert durch positive privatwirtschaftliche Anreize, die durch das wieder wachsende Vertrauen der Investoren und Unternehmen entstehen. Zeigt sich die Politik hingegen unfähig, die Finanzdisziplin wiederherzustellen, verlieren die Investoren das Vertrauen in die Politik vollends – und die Initiative potentieller Unternehmer kommt zum Stillstand. Sie befürchten spätere Steuererhöhungen und eine weitere Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, was ihre Investitionsbereitschaft gegen den Nullpunkt tendieren lässt. Ein gutes Beispiel ist auch die Schweiz. Die wirtschaftliche Stagnation der 1990er Jahre wurde erst überwunden, als dank Haushaltziel 2001, Schuldenbremse und drei grossen Sparpakten die Ausgabendisziplin wiederhergestellt wurde. Überhaupt sind erfahrungsgemäss nur schwergewichtig ausgabenseitige Sanierungsprogramme erfolgreich. Roberto Alesina (Harvard) und Silvia Ardagna (Goldman Sachs) haben nachgewiesen, dass in der Haushaltssanierung erfolgreiche Länder im Durchschnitt zu 72 Prozent auf Ausgabensenkungen und nur zu 28 Prozent auf Mehreinnahmen setzten. Bei einnahmenseitigen Sanierungsprogrammen wird das Geld in der Regel sofort ausgegeben, gemäss dem Bonmot meines früheren politischen Weggefährten Hans Letsch, wonach es einfacher sei, einem Bernhardinerhund ein Wurstlager zur Bewachung zu überlassen als einem Parlament eine Milliarde.

Verschiedene empirische Studien zeigen, dass eine Schuldenquote von 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts das Wachstum mässig, eine Quote von 90 bis 100 Prozent dasselbe hingegen massiv beeinträchtigt. Die USA befinden sich mit 107 Prozent bereits tief in dieser Gefahrenzone, einige europäische Länder weit darüber.

Notenbanken müssen politisch unabhängig sein und sollten nur einen Zweck haben: die Wahrung der Geldwertstabilität. Die sogenannte Tinbergen-Regel sagt generell, dass ein ökonomisches Instrument nur einem Zweck dienen kann. Ein zweiter Zweck, wie etwa die Maximierung der Beschäftigung bei der US-Notenbank Fed, führt zu Zielkonflikten und damit zur Politisierung der Notenbank. Das Doppelziel ist meines Erachtens ein folgenschwerer Konstruktionsfehler. Politischer Druck wird der Notenbank unter Berufung auf dieses zweite Ziel in der Regel verunmöglichen, die Geldpolitik rechtzeitig zu straffen.

Regierungen fühlen sich stets versucht, Schulden durch Inflation zu reduzieren. Das ist der vermeintlich schmerzfreiere Weg für die Politiker als der Weg über Reformen und Finanzdisziplin. Das gelingt aber nur, wenn die Inflationserwartungen stets hinter der wahren Inflation herhinken und dadurch negative Realzinsen entstehen. Da sich aber die Erwartungen jeweils erst mit Verzögerung anpassen, neigt dieses Vorgehen zu einer ständigen Beschleunigung der Inflation – immer mehr, immer schneller. Niemand kann sicher sein, ob eine aufkeimende Inflation ohne sofortige drastische Gegenmassnahmen mit ebenfalls negativen ökonomischen Folgen nicht ausser Kontrolle gerät. Die Stagflation der 1970er Jahre sollte uns eine Warnung sein. Zugleich ist Inflation die ungerechteste aller Steuern, gegen die sich jene, denen sie aufgebürdet wird, nicht wehren können. Gläubiger und Sparer werden kalt enteignet, Schuldner profitieren. Es kommt zu Fehlallokationen von Kapital. Die negativen Folgen der für die Korrektur schliesslich unabwendbaren Hochzinspolitik sind beträchtlich.

Die schwerwiegenden Effekte zu tiefer Zinsen treten aber schon auf, bevor Inflation als Folge der explodierenden Geldmenge entsteht. Es geht auch hier um Anreize. Mit zu billigem Geld werden nichtnachhaltige Projekte realisiert, die bei normalen Zinsen nicht rentabel wären. Gleichzeitig bleiben unter normalen Umständen unrentable Unternehmen erhalten. Beides führt zu nicht nachhaltigen Strukturen, deren schmerzliche Korrektur früher oder später unausweichlich ist. Sparer werden darüber hinaus mit negativen Realzinsen um die Früchte ihrer Arbeit geprellt. In den USA und der Eurozone sind negative Realzinsen heute Realität. Der «dritte Beitragszahler» bei Pensionskassen fällt aus, und weil der Gegenwartswert der Verpflichtungen der Pensionskassen steigt, entstehen Deckungslücken, welche die Unternehmen oft mit Cash decken müssen, für das sie weit rentablere Verwendung hätten. Aller Erfahrung nach lässt die stimulierende Wirkung auf die Wirtschaft gemäss dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens bald nach und verschwindet schliesslich ganz. Zudem nimmt der Reformwille der Politiker rasch ab, wenn die Zinsen nicht mehr strafen.

Die Verhaltensökonomie zeigt auf, was jeder von uns im Grunde schon immer gewusst hat: Die Menschen handeln nicht wie der Homo oeconomicus im Theoriebuch stets rational, sondern häufig irrational. Das trifft nicht nur auf Politiker zu, sondern auch auf Wirtschaftsführer. Ich will beispielhaft sechs Grundtypen solch irrationalen Verhaltens kurz beschreiben. Dabei halte ich mich an die Typologie, wie sie der Verhaltensökonom Hersh Shifrin von der Santa Clara University in Kalifornien verwendet.

«Opac Framing» bedeutet, dass man, seinem Gefühl folgend, Risiken eingeht, die man intellektuell gar nicht versteht. So haben die meisten Banken während der Subprimekrise die Risiken vieler strukturierter Produkte völlig falsch eingeschätzt. Beim «Excessive Optimism» sieht man angesichts des momentanen Erfolges die Welt durch eine rosa Brille und setzt unrealistische Ziele. Das geschah beispielsweise bei jener Schweizer Bank, die sich das wahnwitzige Ziel setzte, an der Wall Street die grösste zu werden. «Over Confidence» führt zur Überschätzung der eigenen Kompetenz und damit zur Unterschätzung der Risiken der eigenen Entscheide. Daniel Kahnemann schildert in seinem neuesten Buch mit dem Titel «Schnelles Denken, langsames Denken» eindrücklich die menschliche Eigenschaft der Selbstüberschätzung. «Extrapolation Bias» ist das Phänomen, wonach man glaubt, der bisherige Trend werde sich ewig fortsetzen. Darunter fiel etwa der Irrglaube, dass die Häuserpreise in den USA stetig weitersteigen würden. Beim «Confirmation Bias» gewichtet man Meinungen stärker, welche die eigene Meinung bestätigen, und blendet berechtigte widersprechende Ansichten aus. Das führt zu einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit. So wurden auch in einigen Grossbanken und sogar in Notenbanken Warnungen vor der Krise als lästig empfunden und verdrängt. Wir alle kennen die Beispiele jener Chefs, die mit oft fatalen Folgen unbequeme Querdenker systematisch entfernen. «Group Think» bedeutet, dass sich auch zweifelnde Leute der überwiegenden Gruppenmeinung oder der Meinung des Chefs anschliessen, um keine Probleme zu bekommen. Solche Effekte hat schon Elisabeth Noelle-Neumann mit ihrer Theorie der Informationsspirale geschildert. Zyniker könnten sogar den in vielen Parlamenten herrschenden Fraktionszwang geradezu als die Institutionalisierung des «Group Think» bezeichnen. Man könnte noch den «Authority Bias» beifügen, dem der unkritische Glaube an Experten und Autoritäten entspringt. Ihm ist der blinde Glaube vieler Manager an die statistischen Risikomodelle der Mathematiker und an die Ratings der Ratingagenturen zuzuschreiben.

Eigentlich kennen wir das alles aus dem täglichen Leben. Es wissenschaftlich bestätigt zu finden, fördert die Sensibilisierung dafür und müsste es einfacher machen, solches Denken bzw. Verhalten bei sich selber oder in einer Geschäftsführung bewusst zu kontrollieren. Doch offenbar agiert der Mensch auch hier noch nicht immer auf der Höhe seiner eigenen Erkenntnisse.

7. Die USA und der Ursprung der Krise

Ich möchte nun versuchen, das Verhalten der Politik und der Notenbanken im Lichte dieser Erkenntnisse zu beurteilen. Auch wenn sich das Epizentrum der Krise nach Europa verschoben hat, liegt deren Ursprung klar in den USA. Das hat vier Hauptgründe: Erstens befürchtete das Fed nach dem Platzen der Internetblase eine Deflation und führte im Lichte des Beschäftigungsziels die zunächst richtige expansive Geldpolitik viel zu lange weiter. Kapitalzuflüsse aus dem Ausland drückten zusätzlich auf die Zinsen. Die zu lange zu tiefen Zinsen hatten die eben geschilderten Folgen und legten den Boden für die nächste Blase.

Das Weisse Haus und der Kongress übten zweitens starken Druck auf den Finanzsektor aus, um auch Leuten mit offensichtlich mangelnder Kreditwürdigkeit billige Hypotheken aufzudrängen. Man kann mit Fug und Recht von der Gier der Politiker reden, Wähler mit Geschenken zu beglücken, die andere zu berappen haben. Deshalb entstand die Blase im Immobiliensektor. Sie platzte, als die Zinsen zu steigen begannen. Durch die globale Vernetzung der Finanzmärkte schliesslich schwappte die Krise auf weitere Regionen über. In Europa traf sie auf durch eine unverantwortliche Finanzpolitik überschuldete Staaten, so dass aus der amerikanischen Subprimekrise die Eurokrise wurde.

Drittens erwies sich die Regulierung in der Krise als prozyklisch und verschärfte sie. Und viertens versagte die Aufsicht mindestens so sehr wie die Finanzbranche selber.

Es zeigt sich also, dass die eigentlichen Ursachen der Krise im politischen Bereich liegen. Allerdings können viele Banker von einer gravierenden Mitschuld nicht freigesprochen werden. Sie tappten in sämtliche Fallen des geschilderten irrationalen Verhaltens und folgten fast naiv jedem Fehlanreiz. Durch Verbriefung von Hypotheken und durch Verkauf dieser neuverpackten Risiken an Dritte verloren die Banken das Interesse an einer sauberen Bonitätsprüfung der Hausbesitzer. Sie glaubten, die Risiken losgeworden zu sein. Die Aktiven wurden, um im Tiefzinsumfeld noch Gewinne zu erzielen, mit immer kurzfristigeren Krediten refinanziert. Weil hohe Gebühren winkten, gaben die Agenturen zu gute Ratings ab. Der erwähnte blinde Glaube an statistische Risikomodelle und Ratings führte zu einem zu nachlässigen Risikomanagement. Die immer komplexeren Vergütungssysteme ohne angemessene Berücksichtigung der eingegangenen Risiken schufen fatale Fehlanreize.

Im Moment steht Europa im Zentrum der Krise. Allerdings halte ich die finanzielle Situation der USA und deren Aussichten für mehr als prekär. Die amerikanische Verschuldungssituation ist schlimmer als diejenige der Eurozone als ganzer. Ich denke dabei nicht nur an die noch fehlenden wirksamen Sparprogramme. Irgendeinmal wird auch die enorme Geldschwemme ihren Tribut fordern. Wegen des Beschäftigungsziels wird es dem Fed politisch kaum möglich sein, im richtigen Moment die Liquidität wieder «abzuschöpfen», wie es so schön heisst. Neue Blasen und Inflation werden die Folge sein. Der faule Übergangskompromiss Ende 2012 beim Problem des sogenannten «Fiscal Cliff» hat das Sparen einmal mehr verschoben, und die Steuererhöhungen leisten keinen nennenswerten Beitrag zur Problemlösung. Die offenkundige Unfähigkeit der Amerikaner, ihr drängendstes Problem wirklich zu lösen, dürfte die internationalen Finanzmärkte mit der Zeit merklich belasten.

Paul Krugman, der eine noch grössere Geldschwemme fordert, begründet dies damit, dass die USA in der gleichen Situation seien wie in der Depression der 1930er Jahre und dass man die damaligen Fehler nicht wiederholen dürfe. Diese Sicht ist falsch. Die Industrieproduktion ging damals um fast die Hälfte zurück, heute wächst die US-Wirtschaft. Damals betrug die Arbeitslosigkeit 25 Prozent, und dies ohne Arbeitslosenversicherung, heute sind es weniger als 8 Prozent. Und eine neue Studie vom September 2012 der beiden Ökonomen Bruce Meyer (Chicago) und James Sullivan (Notre Dame) zeigt, dass die effektive Armut in den USA entgegen dem gängigen Messmodell seit 1980 nicht zugenommen, sondern abgenommen hat. Zudem scheint der Immobilienmarkt Boden gefunden zu haben. Man hat die Fehler der 1930er Jahre eben gerade nicht gemacht. Die expansive Geldpolitik unmittelbar nach dem Platzen der Blase war durchaus während einer angemessenen Zeit richtig und nötig.

Mit der Ankündigung Bernankes vom letzten Dezember, die Nullzinspolitik so lange fortzusetzen, bis die Arbeitslosigkeit auf 6,5 Prozent gesunken sei, hat das Fed jedoch die Preisstabilität klar zum sekundären Ziel degradiert. Auch wenn das Wachstum der USA noch moderat ist, wäre es im Gegenteil richtig, die Geldpolitik endlich zu straffen, statt die zu lockere Geldpolitik zu verstetigen. Womöglich wären die Börsianer nicht begeistert, denn diese scheinen sich mit ihrer krankhaften Sucht nach Liquidität immer weniger an Fundamentaldaten zu orientieren. Den Kranken ständig mit der Medizin zu behandeln, welche die Ursache der Krankheit war, kann auf Dauer nicht gut gehen. Weil das so ist, drängt sich der Verdacht auf, letztlich wollten die USA die Schuldenlast eben trotzdem mittels Inflation – also letztlich mittels stiller Enteignung – reduzieren.

Wenn man die Reden einiger Ökonomen, Notenbanker oder Politiker liest oder die Diskussionen am diesjährigen WEF betrachtet, hat man den Eindruck, das «This time is different»-Syndrom feiere auch diesmal wieder fröhlich Urständ. Diesmal, glaubt man, schafft Geldpolitik im Unterschied zu früher nachhaltig Arbeitsplätze, diesmal finden wir den richtigen Zeitpunkt zum Ausstieg, diesmal gibt es weder Blasen noch Inflation. Die Situation ist wieder einmal historisch einzigartig, deshalb gelten andere Regeln. Die Bibel weiss es besser: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Interessanterweise ist der Dollar trotz dieser auf Dauer unhaltbaren Situation bisher nicht unter Druck. Das hat wahrscheinlich drei Gründe: Erstens ist der Dollar globale Leitwährung, und die grössten Gläubiger haben kein Interesse am Wertzerfall derselben. Zweitens traut man der amerikanischen Wirtschaft mehr zu als der europäischen Wirtschaft in den Peripherieländern. Drittens hilft einem amerikanischen Bundesstaat niemand, wenn er Pleite geht – weder andere Gliedstaaten noch die ganze Nation haften. Der Ökonom Markus Brunnermeier hat es kürzlich in Zürich auf den Punkt gebracht: Der Dollar ist so lange sicher, als er als sicher perzipiert wird. Wehe, wenn er diese Perzeption verliert!

8. Die Eurokrise

Obwohl einige Ökonomen warnten, habe ich seinerzeit an den Euro geglaubt. Die damals zitierten wirtschaftlichen Vorteile leuchteten mir ein, und die politischen und ökonomischen Risiken erkannte ich zu wenig. Mein Optimismus war insofern berechtigt, als der Euro – zumindest bis jetzt – eine stabile Währung geblieben ist. Die Grundidee des Euro war gut, aber der Euroraum erfüllt die ökonomischen Bedingungen eines lebensfähigen Währungsraumes ungenügend. Da habe ich mich getäuscht. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) ist nicht für jedes Land richtig. Dem Währungsraum fehlen wichtige Instrumente zum Ausgleich von Ungleichgewichten zwischen strukturell und kulturell ungleichen Ländern, beispielsweise eine zureichende Mobilität der Arbeitskräfte und ein effizientes Transfersystem. Man hätte deshalb niemals alle Länder in die Eurozone aufnehmen dürfen.

Aber zwei Fakten sind nun zur Kenntnis zu nehmen. Erstens sind die Konstruktionsfehler kurzfristig nicht zu beheben, und zweitens ist der politische Wille zur Erhaltung des Euro innerhalb der heutigen Euroländer unverbrüchlich. Man befürchtet im Falle eines Auseinanderbrechens der Eurozone nicht nur einen zerstörerischen wirtschaftlichen Schock, sondern auch ein katastrophales politisches Signal für die ganze EU. Man muss deshalb notgedrungen ständig an der Eurozone herumflicken, um sie über die Runden zu bringen. Die Frage ist, ob dies gelingen kann. Oder anders gefragt: Wie kann man das Vertrauen der Märkte zurückgewinnen?

Die Europäische Union verfolgt, vereinfacht gesagt, eine dreifache Strategie:

1. Weil die fehlende Wettbewerbsfähigkeit der Peripherieländer das Hauptproblem ist und weil das Instrument der Abwertung nicht zur Verfügung steht, verordnet man die sogenannte «innere Abwertung» durch strukturelle Reformen, Lohnsenkungen und Schuldenabbau. Das ist unausweichlich, obwohl es schmerzhaft ist. Es macht Sinn. Italien, Griechenland, Portugal und Irland haben schon beachtliche Anstrengungen unternommen. Der spanische Ökonom Jesùs Huerta de Soto sieht denn auch in einem Aufsatz in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 22. Oktober 2012 im Euro den Vorzug, dass er den einzelnen Ländern nicht mehr erlaubt, ihre Währung zu manipulieren und notwendige, aber schmerzhafte Strukturreformen durch Abwertung zu umgehen. Allerdings muss man feststellen, dass die Reformen bei weitem noch nicht genügen und politisch zunehmend umstritten sind.

2. Es ist die Sicht der EU-Bürokraten und vieler Ökonomen, dass eine stabile Währungsunion nur in einer politischen Union möglich sei. Um die Voraussetzung für einen einheitlichen Währungsraum zu verbessern, will man deshalb einen grossen Schritt in dieser Richtung tun und vorerst die Wirtschafts- und Bankenunion schaffen. Man denkt an mehr fiskalische und wirtschaftspolitische Integration, an die zentrale Überwachung (sprich: Kontrolle!) der Haushalte, an Mindeststandards für die Wettbewerbsfähigkeit und mehr Regulierungskompetenz auf EU-Ebene.

3. Mit allen Mitteln will die EU den Bankrott oder den Austritt einzelner Länder aus der Eurozone verhindern, dies auch deshalb, weil sie selbst zuvor solche Szenarien a priori ausgeschlossen und mit dem Ende des Projekts EU gleichgesetzt hat. Mit einer ultraexpansiven Geldpolitik und den verschiedenen Rettungsschirmen sollen die Zinsen der Problemländer auf ein erträgliches Mass gesenkt werden. Dabei nimmt man in Kauf, dass sich die Bilanz der EZB qualitativ markant verschlechtert (manche sprechen schon von einer gigantischen «Bad Bank»!) und dass faktisch auch die noch soliden Länder Haftung für die Problemländer übernehmen. Die Ankündigung der EZB, den Euro «um jeden Preis» zu verteidigen und notfalls unbegrenzt Staatsanleihen von Problemländern zu kaufen, hat die Finanzmärkte vorderhand beruhigt und soll mehr Zeit für Reformen schaffen.

Dieser Strategie ist eine gewisse Logik nicht abzusprechen, und die europäischen Notenbanker und Politiker haben bei deren Implementierung unter schwierigsten Umständen Beachtliches erreicht. Wer das aus sicherer helvetischer Distanz geringschätzt, möge sich einmal vorstellen, wie einfach wohl ein vergleichbares Problem von fünfundzwanzig unabhängigen Kantonsregierungen gelöst werden könnte. Oder er möge sich vergegenwärtigen, dass es der Schweizer Politik bisher auch nicht gelungen ist, das schwerwiegende Problem der langfristigen Konsolidierung der Sozialwerke zu lösen. Ich hege trotz der momentanen Beruhigung der
Finanzmärkte indessen grösste Zweifel an der Nachhaltigkeit des von der EU eingeschlagenen Weges. Ich will deshalb jedes der drei oben beschriebenen strategischen Elemente kritisch hinterfragen.

Dass bei einem entschlossenen Vorgehen die innere Abwertung sehr erfolgreich sein kann, haben die Türkei, Estland und Lettland bewiesen. Die Türkei stand vor zwölf Jahren so hoffnungslos da wie Griechenland. Mit rigorosen Ausgabenkürzungen, forcierten Privatisierungen, konsequenter Restrukturierung des Bankensektors, Befreiung der Notenbank von der Politik, Durchsetzung von insgesamt neunzehn Strukturreformgesetzen und Lohnzurückhaltung hat sie trotz hoher sozialer Kosten ein eigentliches Wirtschaftswunder geschaffen. Allerdings kam eine markante Abwertung der Lira dazu, was die Frage aufwirft, ob ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone nicht doch eine mögliche Lösung wäre. Ohne Abwertung schaffte es Estland. Ein starkes Fiskalprogramm führte 2009 zu einem Einbruch des BIP von 14,6 Prozent. Achtzehn Monate später wuchs Estlands Wirtschaft wieder kräftig. Auch Lettland unterzog sich einer schmerzhaften Rosskur mit markanten Ausgabenschnitten, Lohnkürzungen und Steuererhöhungen, die von einigen Ökonomen heftig kritisiert worden war. Aber die Kur wirkte. Das Wachstum lag schon letztes Jahr wieder über 5 Prozent. Es ist nicht unbegründet, wenn Anne Krueger überzeugt ist, dass Griechenland über zehn Jahre ein Wirtschaftswachstum von 8 bis 10 Prozent pro Jahr erreichen könnte, wenn man den Privatsektor rigoros freigeben und die administrativen Hürden eliminieren würde. Solches ist aber nicht in Sicht. Obwohl Griechenland beachtliche Fortschritte gemacht und deshalb erneut finanzielle Hilfe erhalten hat, ist das Erzielen eines nachhaltigen Schuldenstandes unrealistisch. Griechenland wird seine Schulden niemals zurückzahlen können. Ohne einen Schuldenschnitt ist das Griechenlandproblem deshalb nicht nachhaltig zu lösen. Das nächste viel dramatischere Problem könnte aber Frankreich mit seiner überheblichen Reformresistenz sein. Was das bedeuten könnte, wagt man sich noch nicht vorzustellen.

Was die Frage der künftigen Struktur der EU als Institution betrifft, ist zunächst festzuhalten, dass auf den Finanzmärkten nach wie vor Misstrauen gegenüber der EU besteht. Das ist durchaus begründet. Die Eurokrise ist nämlich auch eine Geschichte gebrochener Verträge: Der Vertrag von Maastricht wurde gebrochen, der Vertrag von Lissabon wurde gebrochen, und niemand glaubt, dass die EZB dem politischen Druck wird standhalten können, wenn die Bedingungen der unbegrenzten Anleihenskäufe von den betroffenen Ländern nicht eingehalten würden.

Ich halte die Lösung über eine politische Union aber auch aus anderen Gründen für nicht zielführend. Sogar wenn sie umgesetzt würde, würde dies sehr viel mehr Zeit benötigen, als für die Lösung des Schuldenproblems zur Verfügung steht. Und die wenigen noch starken Staaten, allen voran Deutschland, werden nicht jetzt ständig neue Gemeinschaftslasten schultern können, ohne ihre eigene Kreditwürdigkeit zu gefährden, und dies in der Hoffnung, vielleicht später einmal Gliedstaat einer starken politischen Union zu sein, die dann kreditwürdig sei. Othmar Issing, der ehemalige Chefökonom der EZB, hat es in der «Financial Times» am 29. Juli 2012 so ausgedrückt: «…eine politische Union kann nicht innert weniger Jahre erreicht werden. Sie kann auch kein Instrument des Krisenmanagements sein (…). Das Versprechen einer späteren Aktion als Gegenleistung für mehr Geld heute sieht nicht nach einer glaubwürdigen Strategie aus.»

Auch die viel zitierte Bankenunion, bestehend aus einer EU-weit zentralisierten Bankenaufsicht, einer gemeinsamen Einlagensicherung und einem gemeinsamen Abwicklungsverfahren für Banken, wird das gleiche Problem aufwerfen, weil, wenn überhaupt, nur das erste Element, die Aufsicht, in einigermassen nützlicher Frist realisiert werden kann. Es ist davon auszugehen, dass die Schaffung der politischen Union daran scheitern wird, dass die Länder ihre Nationalstaatlichkeit gar nicht werden aufgeben wollen. Die politische Union ist ein von Eliten erdachtes Konstrukt, das von den Völkern nicht getragen wird. Daran ändern auch die beinahe rührenden Versuche der Brüsseler Zentrale nichts, über Zückerchen wie die Regelung der Entschädigung für Flugverspätungen die Herzen der Bürger zu gewinnen. Jesùs Huertas de Soto führt im erwähnten Aufsatz auch einen gewichtigen prinzipiellen Grund gegen eine politische Union ins Feld: Er hält sie für gefährlich, weil sie der Staatsfinanzierung durch die Notenpresse zur Vermeidung der notwendigen Reformen Tür und Tor öffnet. Wer die Grundhaltung der Mehrheit der europäischen Politiker und das bisherige Verhalten der EZB in Betracht zieht, kann diesen Bedenken nur zustimmen.

Das Denken der europäischen politischen Eliten ist stark geprägt von der Idealisierung des Primats der Politik. Dieses wird so verstanden, dass man die Bürger und die Wirtschaft mittels Regulierung und Kontrolle zu jenem Verhalten zwingen kann, das die Politik für richtig hält. Das führt dann zu an sich vernünftig klingenden Vorschriften: Es müssen Schuldenbremsen eingeführt werden, x Milliarden sind bis zum Zeitpunkt y einzusparen, Steuerdumping ist zu ahnden. Die Nettozahler legen zu Recht Wert darauf, dass das alles von Brüssel auch kontrolliert wird. Im Falle der Verletzung solcher Regeln werden Sanktionen verfügt. Leider führt dieses Denken zwangsläufig immer wieder zu Kobra-Effekten. Denn die reale Reaktion der Menschen auf die neuen Strukturen wird vernachlässigt.

Das hat zur Folge, dass die geknechteten und beaufsichtigten schwachen Länder (und das könnte bald die Mehrheit sein) die Lust an der Selbstverantwortung verlieren, sich auf Bittstellen in der Zentrale spezialisieren und gleichzeitig enormen Frust gegenüber dieser Zentrale sowie gegenüber den sie ständig bevormundenden Geberländern entwickeln. Die Geberländer ihrerseits werden des Gebens immer müder und ebenfalls Eurofrust entwickeln. Gleichzeitig nimmt die Brüsseler Regulierungswut weiter zu, weil man vermeintlich «unfaire» Konkurrenz verhindern und überall gleiche Bedingungen schaffen will. Dies ist leider der momentan wahrscheinlichste Weg. Er wird Europa als Wirtschaftsstandort hinter die USA und Asien zurückfallen lassen. Die vollmundigen Ziele des «innovativsten und fortschrittlichsten Wirtschaftsraums» bleiben hohle Phrasen, weil man solches nicht behördlich verfügen kann. Die augenscheinliche epochale Verlagerung der wirtschaftlichen und strategischen Gewichte nach Osten hat mit dem eklatanten Verlust an Wettbewerbsfähigkeit zu tun, der mit diesem Irrweg verbunden ist.

David Cameron hat in seiner bedeutenden Rede vom 23. Januar 2013 eine präzise Diagnose dieser europäischen Fehlentwicklungen formuliert. Er stellt zu Recht eine fundamentale Krise der europäischen Wettbewerbsfähigkeit fest und weist auf die Folgen des EU-Mantras des Stets-mehr-vom-Gleichen hin: weniger Wettbewerbsfähigkeit, weniger Wachstum, weniger Jobs. Wettbewerbsfähigkeit bedürfe der Flexibilisierung, der Wahlfreiheit und der Offenheit. Zu denken gibt vor allem die ungehaltene und gereizte Reaktion vieler europäischer Politiker auf diese Rede. Cameron hat recht, wenn er die grösste Gefahr für die EU nicht bei jenen sieht, die für einen Wandel einstehen, sondern bei jenen, die neue Gedanken als Ketzerei anprangern. Offensichtlich sind Politiker gegen den «Confirmation Bias» nicht gefeit.

Europa hat sich durch den, wie die Ökonomen sagen, Systemwettbewerb seit dem Mittelalter zur Wohlstandszone entwickelt, also durch den Wettbewerb zwischen selbstverantwortlichen Staaten. Genau diese zwei Pfeiler aber, Wettbewerb und Selbstverantwortung, müssen die Basis für die Gesundung Europas werden. Das hätte konkrete Folgen für die Gestaltung der Institutionen, die allerdings dem heutigen Trend diametral zuwiderlaufen: Zwischen den Staaten wäre der Wettbewerb zu fördern, nicht einzuebnen. Der Steuerwettbewerb ist das beste Mittel, um die Staaten zu einem optimalen Preis-Leistungs-Verhältnis für ihre Bürger wie bei einem Unternehmen zu zwingen. Staaten müssten auch wissen, dass ihnen im Falle zerrütteter Finanzen niemand hilft, und Staatsbankrotte wären nach vorher festzulegenden Regeln zuzulassen. Der Einflussbereich Brüssels wäre schärfer zu definieren und zu begrenzen, damit den Staaten nach dem Subsidiaritätsprinzip unverletzliche vergemeinschaftungsfreie Räume verbleiben. Da aber wegen unterschiedlicher natürlicher Voraussetzungen Wohlstandsunterschiede auch im besten Falle verbleiben werden, müsste ein durch Einzelstaaten nicht manipulierbares Transfersystem mit möglichst schwachen ökonomischen Fehlanreizen zur Milderung solcher Unterschiede eingeführt werden. Dabei wären möglichst keine zweckgebundenen Mittel zu verteilen, weil solche wiederum die Selbstverantwortung beeinträchtigen würden.

Gewiss, die These, wonach sich Europa politisch gegenüber den USA und China nur vereint behaupten kann, hat viel für sich. Aber ebenso wahr ist, dass dazu auch wirtschaftliche Stärke gehört. Die Einführung ökonomisch notwendiger Anreizsysteme zur Förderung von Wettbewerb und Selbstverantwortung braucht dabei nicht im Widerspruch zu einer verstärkten Konzentration der aussenpolitischen und militärischen Kräfte zu stehen. Auch die häufig und zu Recht beschworene friedenssichernde Funktion der EU, die sie im übrigen mit der Nato teilt, würde unter einer solchen Struktur nicht leiden.

Wer sich bei diesen Über­legungen an die Struk­turen der Schweiz erinnert fühlt, hat recht. Selbstverantwortung und Wettbewerb der Kantone sind Eckpfeiler des Erfolges der Schweiz. Man wird einwenden, Erfolgsfaktoren eines Kleinstaates liessen sich nur bedingt auf ein grosses Gebilde übertragen. Das mag richtig sein. Aber die Schweiz ist immerhin ein interessantes politisches Labor, das gross genug ist, um zu gestatten, daraus einige allgemeingültige Erkenntnisse abzuleiten. Es werden heutzutage anerkannte ökonomische Forschungsergebnisse aus sehr viel kleineren Laborversuchen gewonnen.

Die Frage ist, ob ein Übergang von der heute durch die EU verfolgten Strategie zu einer neuen überhaupt noch möglich ist. Ich meine ja, wenn der politische Wille dazu vorhanden wäre. Alle heutigen mit Fehlanreizen behafteten Instrumente müssten zeitlich verbindlich befristet werden, und die Schuldensituation wäre etwa im Sinne des vom Sachverständigenrat der Bundesrepublik vorgeschlagenen Schuldentilgungsfonds zu stabilisieren. Damit würden die gefährlichen und umstrittenen Solidaritäten begrenzt und befristet. Diese Befristung könnte sich über einen relativ langen Zeitraum erstrecken, um eine solide Vorbereitung für den definitiven Zustand zu ermöglichen. Aber nachher hätten die neuen Regeln konsequent zu gelten.

Zum dritten Element der Strategie der EU, der Flutung mit frischgedrucktem Geld, gibt es nach dem Gesagten wenig anzumerken. Ich befürchte, dass erstens die künstlich tiefen Zinsen den Reformdruck mindern und dass zweitens die EZB unter unwiderstehlich starken politischen Druck geraten wird, wenn sie die Geldpolitik zu gegebener Zeit straffen sollte. Und dann dürften sich alle die oben geschilderten Folgen einer zu lange zu tiefen Zinspolitik verstärkt bemerkbar machen.

Ich gehe trotz aller Probleme nicht davon aus, dass die Eurozone zerfällt. Sie wird sich aber noch lange von Krise zu Krise durchwursteln, bis sich hoffentlich eine Stabilisierung einstellt. Solange jedoch Europa nicht den Mut hat, die Sozialsysteme radikal zu reformieren, die Arbeitsmärkte zu flexibilisieren, die Regulierungsdichte auszudünnen und – statt zu harmonisieren – die Konkurrenz der Systeme und die Steuerkonkurrenz zuzulassen, wird Europa als Standort zwischen Asien und Amerika zunehmend an Bedeutung verlieren. Den Mut aber zu diesem Weg sehe ich in den meisten Ländern nicht. Camerons Rede als einziger kleiner Lichtblick droht ausserhalb Englands zu verpuffen. Weil deshalb der Wohlstand noch länger unter Druck bleiben wird, ist folgenschwere soziale und politische Unrast nicht auszuschliessen. Ich vermisse auch die politischen Persönlichkeiten, die den Mut haben, dem Volk die ungeschminkte Wahrheit zu sagen, und nicht nur an die eigene Wiederwahl denken. Gerade die Schweiz hat kein Interesse an einer wirtschaftlich schwachen und politisch instabilen EU. Es ist schwer vorstellbar, dass sie dabei auf Dauer eine Insel der Seligen bleiben könnte.

9. Wenige Bemerkungen zu den Emerging Markets

In den letzten zehn Jahren haben sich die Schwellenländer hervorragend entwickelt. Eine am 27. September 2012 veröffentlichte Untersuchung des IWF belegt, dass die Wachstumsphasen dieser Länder länger und die Abschwünge milder als bei den Industrieländern sind. Dieser Erfolg wurzelt in einer stärker stabilitätsorientierten Finanz- und Geldpolitik. Die Inflationsrate ist bei 80 Prozent der Entwicklungs- und Schwellenländer unter 10 Prozent gesunken, und die Aufschwungphasen sind bei der Gruppe mit einstelliger Inflationsrate 50 Prozent länger als in der Gruppe mit einer zweistelligen Inflationsrate. Die Verschuldungsquote ist seit den 1990er Jahren im Mittel von 65 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf 35 Prozent gefallen. Auch dies zeigt, dass eine niedrige Staatsverschuldung die Erholung beschleunigt. Aus diesen Gründen sind die Aussichten der Schwellenländer günstiger als die der Industrieländer, auch wenn das Wachstum dieser Länder durch die Probleme der Industrieländer merklich gedämpft wird.

10. Fünf Gedanken zum Schluss

Ich habe einleitend behauptet, dass die Finanzkrise noch nicht ausgestanden sei, dass die Nebenwirkungen der Medizin der Notenbanken gefährlicher als die Krankheit werden könnten, dass die EU zentrale Stärken Europas opfere, dass die eigentlichen Ursachen der Krise politischer Natur seien und dass die Märkte logisch falsch gesetzten institutionellen Anreizen gefolgt seien. Das sind pessimistische Befunde. Sie kontrastieren mit der als Folge der Beruhigung der Finanzmärkte plötzlich entstandenen Zuversicht, das Gröbste sei überstanden. Gewiss, eine verbesserte Stimmung kann eine Volkswirtschaft durchaus stimulieren. Die stark verbesserte Stimmung etwa am diesjährigen WEF in Davos und das zunehmende gegenseitige Schulterklopfen einiger Politiker erinnern indessen etwas zu stark an die Coué-Methode der autosuggestiven Behandlung von Krankheiten. Es ist zu befürchten, dass diese Stimmung den politischen Willen einiger Länder zur Durchsetzung von Reformen beeinträchtigen wird. Das könnte sich rächen.

Nun weiss man aus der Geschichte, dass Krisen immer auch Chancen sind, wenn die Menschen daraus die richtigen Lehren ziehen. Ich möchte zum Schluss fünf Gedanken zu solchen Lehren formulieren!

1. Auch Notenbanker sind fehlbare Menschen. Einige von ihnen sind Mitverursacher der Krise (hier nehme ich die Schweizerische Nationalbank ausdrücklich aus, die als Reaktion auf die Geldpolitik der global grössten Notenbanken keine Alternative zu ihrer heutigen Geldpolitik hat). Es ist erstaunlich, dass diese Notenbanker über jede Kritik erhaben zu sein scheinen. Das hat erstens mit ihrer erfolgreichen Politik der Verhinderung des Zusammenbruchs des Finanzsystems zu tun, die grosse Anerkennung verdient. Zweitens versuchen sie jetzt wirtschaftspolitische Aufgaben zu erfüllen, die eigentlich Sache der Politik wären. Das sichert ihnen den Applaus der Politiker, weil sie damit diese Politiker vom gröbsten Druck zur zwar dringlichen, aber unangenehmen Lösung der strukturellen Probleme der Staaten entlasten. Sehr ernst zu nehmende Kritik an der Geldpolitik äussert sich höchstens indirekt durch den zunehmenden Verlust des Vertrauens breiter Kreise ins Papiergeld. Notenbanken haben enorme Macht. Es ist empirisch belegt, dass sie von der Politik unabhängig sein müssen, wenn sie ihre Funktion zureichend erfüllen sollen. Von der Politik unabhängige Bürokratien mit Macht sind allerdings gefährlich, weil sie nicht genügend demokratisch kontrolliert sind. Die Notenbanken, die jetzt die Geldschleusen öffnen, tun dies trotz der enormen Konsequenzen ohne die demokratische Zustimmung ihrer Völker. Dieses Dilemma braucht zu seiner Auflösung zweierlei: Erstens muss der Zweck der Notenbank sehr eng definiert und auf das beschränkt werden, was eine Notenbank wirklich kann – die Geldwertstabilität sichern. Zweitens muss sie über die Erfüllung des Zwecks in nachvollziehbarer Weise periodisch Rechenschaft ablegen. Die Geldpolitik kann keine nachhaltigen Arbeitsplätze schaffen. Das hat die Geschichte zur Genüge gezeigt, auch wenn einige Notenbanker offenbar erneut einem längst widerlegten Machbarkeitsglauben huldigen.

2. Selbstverantwortung muss wieder ein Pfeiler unserer Gesellschaft werden, und zwar in Wirtschaft, Politik und täglichem Leben. Die Marktwirtschaft basiert auf der Idee, dass Erfolg am Markt belohnt und Misserfolg bestraft wird und dass jene, die entscheiden, dafür auch die Verantwortung zu tragen haben. Wenn Gewinne aus Leistung und Investition wegbesteuert und Verluste sozialisiert werden, verliert das System seine wohlstandsmehrende Funktionsfähigkeit. Deshalb sind beispielsweise eine genügende Kapitaldecke bei Banken und deren Konkursfähigkeit wichtig. Bei Staaten und Gliedstaaten muss zur Erzwingung der Selbstverantwortung neben der Ermöglichung des Staatsbankrotts das fiskalische Äquivalenzprinzip durchgesetzt werden. Dieses Prinzip bedeutet, dass die Verantwortung für Entscheid, Finanzierung, Implementierung und Nutzniessung einer Aufgabe möglichst in einer Hand sein muss.

3. Die Finanzkrise ist eine Vertrauenskrise. Die Politiker misstrauen der Wirtschaft und umgekehrt, das Volk misstraut Politikern und Wirtschaft, die produzierende Wirtschaft misstraut dem Finanzsektor, und Banken misstrauen Banken. Ohne Vertrauen aber kann auf Dauer keine Gesellschaft erfolgreich überleben. Politik und Wirtschaft haben Vertrauen verspielt, die Politik durch nicht gehaltene Versprechen, Ausrichtung der Politik auf Umfragen und nicht auf die Notwendigkeiten für ihre Länder, Tabuisierung brennender Probleme oder verdeckte Interessenverfilzung und die Wirtschaft durch Missbräuche der in der Marktwirtschaft wesensnotwendigen Freiheit. Hier haben Wirtschaft und Politik eine Bringschuld. Gerade die Wirtschaft muss immer wieder den Tatbeweis verantwortlichen Handelns erbringen. Nur dann werden ihr Volk und Politik die notwendigen freiheitlichen Rahmenbedingungen gewähren. Ich glaube, dass die Krise den Verantwortlichen den Sinn für solche Fragen geschärft hat.

4. Trotz allem: Es gibt keine Alternative zur Demo­kratie! Dass Demokratien Mühe haben, ihre strukturellen Aufgaben zeitgerecht zu erfüllen und ihre Finanzen in Ordnung zu halten, hat ihnen viel von ihrem Glanz genommen. Gelenkte und autokratische Demokratien, die auf Märkte setzen, haben wirtschaftlichen Erfolg. Für viele Schwellenländer erscheint etwa China als das attraktivere Modell als Italien oder Frankreich. Gewiss, Demokratie ist mühselig, voller Risiken, komplex und oft entmutigend. Aber der ständige politische Wettstreit um bessere Lösungen, die unentwegte Anfechtung der Mächtigen, die Wächterfunktion freier Medien, der Wettbewerb der Systeme, der Rechtsstaat und die Wertschätzung der Menschenrechte: Das alles wird langfristig obsiegen. Und wir werden erleben, wie aufgestaute Probleme und Ungleichgewichte in den vielgerühmten effizienten und gelenkten Demokratien zu unerwarteten und heftigen Eruptionen führen können.

5. Alles das ist schwierig. Wenn man aber die Geschichte über längere Zeiträume verfolgt, so ist trotz aller Krisenrhetorik immer wieder Fortschritt festzustellen. Niemand möchte in die Verhältnisse früherer Jahrhunderte zurückfallen. In den Schwellenländern ist zudem wenig vom Krisenpessimismus zu spüren. Der Wille zur Leistung und zum Fortschritt ist dort ungebrochen. Viele Firmen auch in den Industrieländern sind gesund, gut kapitalisiert, innovativ und bereit für den Aufschwung. Menschen sind kreativ und anpassungsfähig. Eigentlich gäbe es keinen Grund, warum es nicht möglich sein sollte, früher oder später dem schier unentwirrbaren Krisengeflecht zu entkommen. Aber eben: wahrscheinlich eher später!

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