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Lisa Lutz, Bild: Ronnie Grob.

«Ich würde sogar einen Ikea-Stuhl flicken»

Lisa Lutz, Antikschreinerin, Feldmeilen

Die Aussicht aus der Werkstatt von Lisa Lutz über den Zürichsee ist wunderbar; der Sprung ins erfrischende Wasser nur wenige Minuten entfernt. Lutz hat sich im stillgelegten SBB-Schalterraum von Herrliberg-Feldmeilen eingemietet. Die metallenen Drehscheiben, an denen Bahnkunden einst Bargeld gegen Zugbilletts getauscht haben, funktionieren noch immer. Seit bald drei Jahren ist die Meilemerin hier mit ihrer Antikschreinerei tätig. Gegründet hat sie das Unternehmen vor sechs Jahren.

Als ich in die Werkstatt trete, fliegt der Pinsel über die Tischbeine; Lutz ist im Flow und erschreckt sich fast etwas, als ich mich bemerkbar mache. Beim Kaffee vor der Werkstatt sagt sie, sie ziehe einen grossen Teil ihrer Befriedigung an der Arbeit daraus, dass sie nicht daran beteiligt sei, noch mehr zu produzieren. Stattdessen könne sie Dinge erhalten, was für sie sehr wertvoll sei. Und vor allem: «Ich sehe am Abend, was ich gemacht habe, und schaffe etwas, das bleibt.» Sie verrechnet ihre Leistungen nach fixem Stundenansatz, in dem das Kleinmaterial inkludiert ist. Aber nicht allzu viel, findet sie: «Ich habe auch noch nie den Preis der Offerte überschritten, darauf achte ich. Das schenkt Vertrauen.»

Sie bearbeitet alles aus Holz, am häufigsten Stühle: Verleimen, Teile ersetzen, die Oberfläche auffrischen, auch von Tischen, Sekretären und Kommoden. Kürzlich wurde ihr eine kleine Truhe aus dem Jahr 1675 in Auftrag gegeben, schön verziert, geschnitzt und mit Initialen versehen – ein Stück, das schon immer innerhalb der Familie weitergegeben wurde. Dass so ein kleines und vermeintlich unnützes Ding von allen Beteiligten mit viel Liebe behandelt wird, findet sie grossartig. Überhaupt liebt sie all die Geschichten über das Mobiliar: «Ich bin dann zu einem kleinen Teil dafür verantwortlich, dass die Geschichte eines Möbelstücks weitergeht und es erhalten bleibt.» Sie zögert einen Moment und ruft dann lachend: «Ich würde sogar einen Ikea-Stuhl flicken!»

Etwas Mühe hat sie mit der zuweilen fehlenden Fähigkeit der Kunden, klar zu kommunizieren: «Ich will meine Arbeit sehr gut machen. Doch wenn ich nicht genau weiss, was der Kunde möchte, dann muss ich rätseln.» Manchmal liegt die Perfektionistin nachts wach und denkt nach: «Soll ich diese Kommode jetzt nochmals ölen? Soll ich die Offerte anders formulieren? Soll ich die geplanten Arbeitsschritte in einer anderen Reihenfolge ausführen?» Dieses Jahr habe sie ein Pensum von ungefähr 90 Prozent geleistet. Am Abend kommen noch Telefonate, Offerten und die Besorgung von Material dazu. Auch die drei Kinder wollen betreut werden, der Jüngste ist in der Primarschule.

«Ich sehe am Abend, was ich gemacht habe, und schaffe etwas, das bleibt.» – Lutz

Als Handwerkerin in der Schweiz fühlt sie sich wohl, denn anders als beispielsweise in Deutschland seien die Lehre und der handwerkliche Beruf in der Gesellschaft hoch angesehen: «Ich jedenfalls find’s richtig cool, Handwerkerin zu sein. Natürlich auch, als Frau in einer Männerdomäne selbständig erfolgreich zu sein.» Um sich die Kenntnisse des Schreinerhandwerks profund zu erwerben, hat sie nach einer Erstausbildung als Erzieherin mit Anfang zwanzig eine Zweitausbildung in Angriff genommen. Sie absolvierte eine vierjährige Schreinerlehre im Zürcher Niederdorf, bei Massimo Biondi. Auch ihre beiden Töchter machen nun eine Lehre: Die ältere ist auf dem Weg zur Köchin, die jüngere wird Fachfrau Betreuung Kinder.

Von den Kunden fühlt sie sich wertgeschätzt. Es gebe nur wenige, die ihr kaum Zutrauen schenkten oder sie gar rumkommandieren wollten. Sie habe aber inzwischen gut gelernt, sich hier abzugrenzen.

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Das Licht brennt, das Gebäude steht, das Auto läuft wieder: Manuelle Arbeit hat etwas Befriedigendes. Bild: Keystone / Ennio Leanza
Resultate statt Identitätskrise

Ich wuchs in einer Sekte auf. Mein Job als Hilfselektriker lehrte mich, Verantwortung zu übernehmen. Die Klarheit des Tuns führt zu einer Klarheit des Denkens.

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