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Ich weiss nicht, was eine Muttersprache ist

Mit einem Porträt und Texten von Aglaja Veteranyi eröffnen wir in der vorliegenden Ausgabe der Schweizer Monatshefte die Vorstellung von Preisträgern des Adelbert-von-Chamisso-Preises, der seit 1985 an Autorinnen und Autoren nichtdeutscher Muttersprache für ihre Beiträge zur deutschen Literatur vergeben wird.

«Ich habe wie eine Wahnsinnige um mein Leben geschrieben», bekannte die gebürtige Rumänin Aglaja Veteranyi nach der Veröffentlichung ihres stark autobiographischen Erstlingsromans «Warum das Kind in der Polenta kocht», mit dem der «Paradiesvogel» 1999 in der deutschsprachigen Literaturszene aufhorchen liess und im Jahr darauf mit dem Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis ausgezeichnet wurde. Es sind dies die Worte einer Frau, für die der sprachliche Ausdruck eine existentielle Dringlichkeit darstellte. Bis zu ihrem siebzehnten Lebensjahr Analphabetin und der deutschen Sprache nicht mächtig, wurde sich Aglaja Veteranyi, die Sprachen bisher «immer zweckmässig gelernt und sie dann wieder vergessen [hatte]», ihrer Situation erst nach ihrer Ankunft in der Schweiz bewusst: «Ich wuchs mit dem Gefühl auf, alles zu können. Aber vor allem war ich ignorant. Ich hatte ein ignorantes Selbstbewusstsein. Ignoranz kann ein grosser Schutz sein. Als ich anfing, meine Situation zu begreifen, mit 2 oder so, brach mein Leben mehr oder weniger zusammen. Ich habe mich dann gewaltsam von meiner Familie, meiner Mutter und ihren Geschichten gelöst, ich wollte nichts mehr damit zu tun haben. Andererseits hatte ich ausserhalb dieses Kreises nicht die geringste Basis, keine Kontakte, keine Schulbildung. Ich getraute mich fast nicht alleine auf die Strasse. Ich war sozusagen in der ganzen Welt aufgewachsen. Und isoliert von der Welt.» Wie tiefgreifend ihre Erfahrungen waren, spiegelt sich in der Intensität ihrer Bilder sowie der beengenden Dichte ihrer Sätze wieder:

Hier ist jedes Land im Ausland.

Der Zirkus ist immer im Ausland. Aber im Wohnwagen ist das Zuhause. Ich öffne die Tür vom Wohnwagen so wenig wie möglich, damit das Zuhause nicht verdampft.

Mit diesen Sätzen führt sie den Leser der «Polenta» in eine haptische Welt, in der alles schmeckt, riecht und tastbar ist. Es ist die ebenso traurige wie heitere Geschichte eines Mädchens, das mit der Familie aus Rumänien flüchtet, mit dem Zirkus um die halbe Welt reist und in einem ständigen, allesbegleitenden Gefühl der Angst lebt: in der Angst, als Regimeflüchtling erkannt und verraten zu werden, in der Angst um das Leben der als Zirkusartistin an den Haaren hängenden Mutter, in der Angst, wieder und wieder verlassen zu werden. Aus dem Mädchen spricht die Stimme einer Heimatlosen, die sich in ihrer rastlosen Existenz vor allem nach einem zu sehnen scheint: dem Gefühl der Ankunft.

Aglaja Veteranyi suchte ihr Defizit schliesslich durch jahrelange, autodidaktische Studien auszugleichen und fand über die dergestalt intensive Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache zu einem Instrument, das ihr vor allem eines ermöglichte: die eigene Geschichte reflektiert zu betrachten und den Stoff ihrer Kindheit und Jugend künstlerisch aufzuarbeiten. «Ich schöpfe aus einer wuchernden Familiengeschichte, aus einer wuchernden Phantasie […] Durch die deutsche Sprache kann ich diesem Wuchern eine Kargheit entgegensetzen, dadurch schaffe ich Distanz zum Erzählten. Diese Distanz oder Verfremdung erlaubt mit aber eine andere Form von Nähe, eine viel grössere als in der Realität möglich wäre, eine erfundene.» Diese ihr notwendige Di- stanz erreichte sie vor allem durch eine radikale sprachliche Reduktion, die auch die unzähligen Kurztexte auszeichnet, die sie seit 1988 verfasst hat, und sie wurde so zum künstlerischen Programm der Autorin: «Das Weglassen ist mir etwas vom Wichtigsten, das, was nicht gesagt werden muss und trotzdem im Text vorhanden ist. So etwas wie Magie.» Es ist auch das assoziative Spiel mit der Sprache, das vielen ihrer Texte gemein ist. Veteranyi selbst konstatierte hierzu in einem Interview, dass sie «noch nie eine Geschichte nur um der Geschichte willen geschrieben [hätte]», und ihr «die Umsetzung […] genauso wichtig wie der Inhalt [wäre].» Ihre Lust am Entwerfen von poetischen Bildern schlägt sich in neuen Wortschöpfungen nieder, denen sie lautmalerische Elemente zur Seite stellt.

Aglaja Veteranyi war eine Suchende, die die Sprache gleich einem ihr unbekannten Land zu erforschen und für sich nutzbar zu machen begann. Durch ihre langjährige literarische Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache konnte sie schliesslich eine autonome (Sprach-)Kultur entwickeln, in der sie Asyl und Heimat zugleich fand. Die Literatur erlaubte es ihr, an einem Ort anzukommen, an dem sie der eigenen Existenz Ausdruck verleihen konnte, indem sie in ihr eine neue Sprache erfand: eine Sprache, die in ihrer Rhythmik, ihrem polyphonen Klang und ihrem Bilderreichtum ganz dem Wesen und den Erfahrungen Aglaja Veteranyis entsprach.

Nina Neudecker, geboren 1972, hat in Wien Germanistik studiert und sich in ihrer Diplomarbeit «Ich habe wie eine Wahnsinnige um mein Leben geschrieben» (2003) mit Aglaja Veteranyi und ihrem Werk auseinandergesetzt.

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