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Ich weiss etwas, das du auch weisst – aber weisst du auch, dass ich es weiss?
Wenn alle wissen, dass alle wissen..., Steven Pinker.

Ich weiss etwas, das du auch weisst – aber weisst du auch, dass ich es weiss?

In seinem neuen Buch zeigt Steven Pinker, wie die scheinbar einfache Idee des gemeinsamen Wissens grosse Teile des sozialen Lebens erklären kann.

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Dass der Kaiser keine Kleider trägt, können in Hans Christian Andersens berühmtem Märchen alle sehen. Doch nur ein Kind hat den Mut – wenn auch aus Unwissenheit –, es laut auszusprechen. Damit entsteht das gemeinsame Wissen, dass der Kaiser nackt ist – und erst dadurch kann die Revolte beginnen.

Steven Pinker untersucht in seinem neuen Buch «Wenn alle wissen, dass alle wissen …» genau solche Phänomene. Der kanadische Kognitionspsychologe formalisiert die Logik des gemeinsamen Wissens: «Bei privatem Wissen weiß Person A etwas und Person B weiß es auch. Bei gemeinsamem Wissen weiß A etwas und B weiß es auch, aber darüber hinaus weiß A, dass B es weiß, und B weiß, dass A es weiß. Und außerdem weiß A, dass B weiß, dass A es weiß, und B weiß, dass A weiß, dass B es weiß, und immer so weiter.»(S. 13) Was zunächst wie eine einfache Geschichte über kindliche Ehrlichkeit wirkt, erweist sich als Schlüssel zum Verständnis dafür, wie das Bewusstsein geteilter Wahrnehmung zu kollektiver Koordination führt.

Wenn Informationen von privatem zu geteiltem und schliesslich zu gemeinsamem Wissen werden, verändert dies das Handeln der Menschen. Pinker illustriert dies mit einem alten sowjetischen Witz über einen Mann, der in Moskau leere Flugblätter verteilt. Als ihn die Polizei festnimmt und verhört, sagt er: «Was soll man da schon schreiben? Das liegt doch auf der Hand!»(S. 37) Diktatoren fürchten Worte, so Pinker, nicht nur, weil sie Meinungen verändern, sondern weil sie zeigen, dass sich die Meinungen bereits geändert haben. Unzufriedenheit wird erst gefährlich, wenn sie öffentlich sichtbar wird, etwa in einer Demonstration. «Jeder Demonstrant kann nicht nur die anderen sehen, sondern sehen, dass die anderen die anderen sehen.» (S. 38)

«Was zunächst wie eine einfache Geschichte über kindliche Ehrlichkeit wirkt, erweist sich als Schlüssel zum Verständnis dafür, wie das Bewusstsein geteilter Wahrnehmung zu kollektiver Koordination führt.»

Was Pinker allerdings zu wenig hervorhebt, ist, dass der äussere Auslöser, der gemeinsames Wissen schafft, aus inneren Unterschieden der Gruppe hervorgehen kann. Menschen unterscheiden sich in jeder erdenklichen Dimension: in Mut, Intelligenz und vielem mehr. So kann eine einzelne Person, sei es das Kind, das die Wahrheit über den Kaiser ausspricht, oder der Dissident, der ein leeres Blatt hochhält, zum Signal werden, auf das alle anderen gewartet haben. Das Signal bleibt äusserlich, wird aber aus dem Inneren der Gruppe erzeugt; die Struktur der Unterschiede selbst wird zur Quelle des gemeinsamen Wissens. Sowohl das Kind als auch der Dissident wussten, dass andere sich womöglich nicht an derselben Schwelle befanden. Gerade das machte ihre öffentliche Geste sinnvoll. Unterschiede schaffen Gelegenheiten für soziale Ausgleichsbewegungen.

Auch in unseren Beziehungen navigieren wir ständig, was öffentlich werden darf und was besser unausgesprochen bleibt. Welche Wahrheiten sind sozial verträglich, welche sollten im Privaten verharren? Taktvolle Unaufrichtigkeiten ermöglichen erst das Zusammenleben, weil sie verhindern, dass jede Wahrnehmung zu gemeinsamem Wissen wird. «Man wäre schlecht beraten, seiner Chefin zu erzählen, man habe sich genüsslich vorgestellt, sie umzubringen, oder den Ehepartner oder einen Kollegen darüber in Kenntnis zu setzen, man träume mit offenen Augen davon, mit Letzterem ins Bett gehen» (S. 333), schreibt Pinker. Eine solche Offenbarung würde das stillschweigende Gefüge gemeinsamer Annahmen zerstören, das ein gutes Miteinander ermöglicht.

Indem wir unsere Gedanken nicht äussern, beweisen wir Selbstkontrolle; wir zeigen anderen, dass wir Impulse beherrschen können. Es ist, als besitze man eine Waffe, lasse sie aber in der Tasche: Wenn Menschen die soziale Regel befolgen, ihre «Waffen» nicht zu ziehen oder Kollegen nichts von ihren Begierden zu erzählen, kommt es zu weniger Gewalttaten und Übergriffen.

«Unterschiede schaffen Gelegenheiten für soziale Ausgleichsbewegungen.»

Im digitalen Zeitalter löst sich diese Grenze auf. «Wenn es gemeinsames Wissen ist, dass jemand gegen eine Norm verstoßen hat, meinem die Menschen, es müsse zu gemeinsamem Wissen werden, dass man sie bestraft» (S. 45), so Pinker. Empörung entsteht, weil Sichtbarkeit zur Selbstverständlichkeit geworden ist, und jeder Akt des Sehens bestätigt, dass alle anderen ebenfalls gesehen haben. Derselbe Mechanismus, der einst Imperien zu Fall brachte, treibt heute die Empörungswellen der sozialen Medien an.

Pinker zeigt, wie eine scheinbar einfache Idee einen Grossteil des sozialen Lebens erklären kann. Dieselbe Logik erklärt, warum Witze sich verbreiten, warum Diktatoren das Lachen fürchten, Märkte kollabieren und Entschuldigungen Vertrauen wiederherstellen, alles durch den fragilen Übergang vom privaten zum geteilten und schliesslich zum gemeinsamen Wissen. Dieses Buch verändert, wie man die Gesellschaft wahrnimmt. Nach der Lektüre erkennt man überall die leise Choreografie des Bewusstseins: wer etwas weiss, wer weiss, dass andere es wissen, und wer so tut, als wüsste er es nicht.

Steven Pinker: Wenn alle wissen, dass alle wissen … Gemeinsames Wissen und sein verblüffender Einfluss auf Geld, Macht und das tägliche Leben. Frankfurt am Main: S.-Fischer-Verlag, 2025.

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