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«Ich rate, zum Kundenbedürfnis zurückzukehren»
Thomas D. Meyer, zvg.

«Ich rate, zum Kundenbedürfnis zurückzukehren»

Wenn grosse Unternehmen versuchen, ihre Komplexität zu reduzieren, stossen sie dabei an ihre eigenen Grenzen. Ein Gespräch über Organisationsprobleme, Aufklärung im Alltag und überregulierte Versicherungen.

Herr Meyer, der Begriff «Aufklärung» wirkt heute etwas altertümlich. Spricht man von der Erhellung der Zustände, sagt man meistens «Transparenz». Geht sie vielleicht manchmal auch zu weit?
Ich führe viele Gespräche über den Verlust der Privatsphäre, meiner Meinung nach wird sie nur schwer zu verteidigen sein. Alle Informationen, die man irgendwie mal verwendet hat, sind irgendwo verfügbar. Zugleich sind viele in sozialen Medien aktiv, ohne sich bewusst zu sein, dass sie sich auch öffentlich äussern. Mit der Verletzlichkeit, die daraus erfolgt, müssen wir uns auseinandersetzen.

Ist diese Haltung, dass ohnehin alles transparent ist oder wird, nicht ein wenig fatalistisch? Müssen wir im Sinne der Aufklärung nicht dagegen ankämpfen?
Die Erfahrung zeigt doch, dass sich Technologien, die ursprünglich als Bedrohungen wahrgenommen wurden, oft zum Guten und Nützlichen entwickeln: Schiffe zum Beispiel wurden für Eroberungen erfunden, heute nutzen wir sie zivil. Darüber hinaus haben wir mit China ein Beispiel vor Augen, das uns zeigt, wie sich ein Überwachungsstaat technischer Möglichkeiten bedient. Es wird aber auch in China entscheidend sein, ob die Masse der Individuen ein solches System als sinnvoll oder schädlich empfindet. Das Individuum und die Familie werden sich auch dort irgendwann gegen einen allzu übergriffigen Staat auflehnen.

China hat keine Aufklärung nach europäischem Vorbild durchlaufen; westliche, aufklärerische Werte sind dort eher fremd. Meine Befürchtung ist, dass ein Erfolg des chinesischen Modells auch bei uns zu Rufen nach einem Systemwechsel führen wird, zu Stimmen, die eine Abschaffung der Demokratie und eine Abkehr vom Individualismus fordern werden. Teilen Sie diese Bedenken?
Diese Befürchtung teile ich durchaus. Die direkte Demokratie, wie sie in der Schweiz gepflegt wird, halte ich trotz all ihrer Mängel für eine grosse Errungenschaft. Wir sollten sie in die Welt hin­austragen und propagieren. Womöglich ist die Technologie auch eine Chance: Virtuell liesse sich doch eine riesige Schweiz aufbauen!

Die Digitalisierung hat einen massiven Strukturwandel ausgelöst, was zu einer immer komplexer werdenden Realität führt.
Viele Probleme lassen sich nicht mehr innerhalb von Unternehmensgrenzen lösen. Denn die Wertschöpfungsketten gehen dar­über hinaus und werden immer komplexer. Bei der Konzernverantwortungsinitiative wird uns das noch bewusst werden: Obwohl ich aus ethischen Gründen die Anliegen der Initiative verstehe, halte ich sie praktisch für schlicht nicht umsetzbar und brandgefährlich.

Sie versuchen, diese Komplexität für Ihre Kunden in den Griff zu bekommen.
Wir helfen ihnen, unternehmensübergreifende Kollaboration zu orchestrieren. Unternehmen treffen sich bei uns mit ihren Abnehmern, Zulieferern und Kunden, wir fördern dann den Austausch zwischen diesen Parteien.

«Viele Probleme lassen sich nicht mehr innerhalb von Unternehmensgrenzen lösen.»

Und wer bezahlt die Rechnung?
Jene Partei, die ökonomisch den grössten Nutzen aus der Übung ziehen kann.

Was melden Ihre Kunden zurück, welche Probleme belasten sie?
Die Zusammenarbeit über Unternehmensgrenzen ist für bestimmte Branchen ein neues Thema. Viele neue Probleme entstehen im Zusammenspiel von Internet und Sicherheit. Auch die Frage «Wie bringe ich die Masse von Daten in einen sinnvollen Kontext?» stellt sich uns häufig.

Die Digitalisierung hat in relativ kurzer Zeit sehr viel geändert.
Die Digitalisierung ist ja seit der Erfindung des kommerziellen Computers in den 1950er Jahren in Gang: Wissen, Informationen, auch Brands sind heute allgemein und global verfügbar. Der Konsument ist viel stärker auf seine eigenen Bedürfnisse ausgerichtet, seine Erwartungshaltung richtet sich nach den Erfahrungen mit globalen Brands. Dennoch verfolgen viele Branchen einen produktgetriebenen Ansatz: Ein Produkt wird erfunden, worauf eine Vertriebsmannschaft beauftragt wird, es in den Markt zu drücken und möglichst vielen Leuten zu verkaufen. Schaut man sich jedoch Beispiele wie Airbnb, Uber, Amazon und andere an, so bemerkt man, dass der Konsument dort wie aus einem grossen Teich genau jene Dinge herausfischen kann, die er eigentlich haben möchte. Die Angebote im Teich werden sogar immer besser, weil ihm nur noch Dinge angeboten werden, die er wahrscheinlich auch mag. Dieser Wandel, dieser Umbruch verändert die Erwartungshaltung des Konsumenten und bedroht die klassischen Geschäftsmodelle. Ich rate, zum Kundenbedürfnis zurückzukehren, der eigentlichen «Raison d’être» eines Unternehmers.

Die Herkunft eines Produkts interessiert viele Konsumenten nur noch wenig, sie nutzen die Dienste von Marken, die ihnen bekannt sind. Wie sieht das bei den Versicherungen aus, sind dort ebenfalls Trends zur Internationalisierung sichtbar? Gibt es eine europäische oder eine internationale Versicherung?
Nein, das gibt es nicht wirklich. Versicherungen unterstehen jeweils nur einer lokalen, nationalen Regulierungsbehörde, was der Versicherungsbranche – «the regulator is our friend» – in die Hände spielt. Auch die europäische Versicherung ist da keine wirkliche Ausnahme. Da das Mass an Regulierungen sich je nach Land stark unterscheidet, ist es nicht einfach, ein globales, klassisches Versicherungsprodukt anzubieten. Auch in unserer aufgeklärten Welt gibt es eben Prozesse, die im Verdeckten abgewickelt werden. Das zu verhindern, hat selbst die EU nicht geschafft.

Mangelt es an Innovation in der Versicherungsbranche?
Sie lebt von einer relativ hohen Intransparenz bezüglich des eigenen Risikos und dessen Abdeckung. In einem von uns entwickelten Disruptivindex zeigte sich, dass die Versicherungsbranche durch die starke Regulierung, insbesondere in der Schweiz, relativ resistent ist gegenüber Veränderungen. Die Branche hätte eindeutig mehr Transparenz und Übersicht nötig. Dienste wie Comparis ermöglichen zwar den Vergleich der Preise, nicht aber wirklich den Vergleich der Versicherungsleistungen. Auch Comparis lebt vom klassischen Geschäftsmodell und dem Abschluss von Versicherungspolicen – sie erhalten nämlich bei der Vermittlung eine Kommission.

Die Konsumenten zahlen also zu viel. Und sie tun nichts, um das zu ändern.
Es denkt eben niemand oft über Versicherungen nach. Und die Versicherungsbranche hat kein Interesse daran, Transparenz zu schaffen. Im Ursprung mag die Sozialisierung von Risiko ein guter Gedanke gewesen sein; heute aber sind wir in vielen Bereichen doppelt oder dreifach versichert. Und die Prämieneinnahmen der Versicherungen sind heute oft signifikant höher als deren Ausgaben; das war früher nicht der Fall, im Gegenteil. Versicherungen waren nur profitabel, weil sie ihr Geld mit Profit anlegen konnten.

Accenture ist eine weltweite Unternehmensberatung mit rund 450 000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von über 40 Milliarden Franken. Der Accenture-Aktienkurs hat sich in den letzten zehn Jahren verfünffacht. Was ist das Erfolgsgeheimnis von Accenture?
Unser einziger Produktionsfaktor sind Menschen, unsere Mitarbeiter. Offenbar gesteht uns der Markt zu, dass wir diese Menschen in produktiver Art zum Nutzen unserer Klienten zusammenbringen können. Wir haben uns aber nicht der Digitalisierung, sondern der Innovation verschrieben. Immerhin haben dank dem omnipräsenten Stichwort «Digitalisierung» zahlreiche Geschäftsleitungen begriffen, dass man sich mit Themen der Innovation auseinandersetzen muss. Sie haben verstanden, dass sich derartige Probleme heute nicht mehr einfach an einen internen Chief Digital Officer delegieren lassen. Man muss die Themen auch selbst verstehen.

«In einem von uns entwickelten Disruptivindex zeigte sich, dass die Versicherungsbranche, insbesondere in der Schweiz, relativ resistent ist gegenüber Veränderungen. Die Branche hätte eindeutig mehr Transparenz und Übersicht nötig.»

Sie beschäftigen sich auch mit «Design Thinking». Was ist das?
Dieser Begriff hat sich vor rund zehn Jahren durchgesetzt. Für mich funktioniert «Design Thinking» so: Man hat eine Problemstellung, die man in Gruppen erläutert, modelliert und in der Realität testet. In einem kollaborativen Ansatz versucht man das Problem mit allen Beteiligten möglichst genau durchzudenken und Szenarien zu entwickeln, damit die Erfolgswahrscheinlichkeit der Lösung steigt und durch die Mitarbeit diverser Parteien gut abgesichert ist. Die Ergebnisse sind oftmals greifbar, vielleicht kommt sogar ein Prototyp dabei raus. Mit modernen Technologien wie «Augmented Reality» lässt sich das natürlich schön darstellen. Eine solche Visualisierung ist ein konkreter, handfester Ansatz für die Formulierung einer Unternehmensstrategie für die Zukunft. Natürlich funktioniert es auch noch immer mit Legobausteinen.

Was für Tips können Sie einem Unternehmer mit Organisations­problemen mitgeben?
Viele suchen bei Problemen einen Schuldigen, einen Sündenbock, sie externalisieren die Verantwortung: Schuld sind die Lieferanten, die Kunden, die Umwelt, die bösen Chinesen oder Amerikaner, die Konkurrenz, der Schweizer Franken und so weiter. Besser hinterfragt man sich selbst: Sind unsere Dienstleistungen noch relevant? Treffen wir überhaupt noch das Kundenbedürfnis?

Welche anderen Fehler geschehen häufig?
Es kommen Klienten zu uns, die sagen: «Ich möchte eine agilere Organisation.» Wenn ich dann nachfrage, wieso, höre ich, dass alle Konkurrenten eine agile Organisation hätten. Hier widerspreche ich: Eine Firma braucht doch nur dann eine agilere Organisation, wenn sie so einen Mehrwert stiften kann. Nur weil es alle anderen tun und englische Wörter wie «agile» aktuell im Trend sind, heisst das nicht zwingend, dass das auch meine Firma braucht.

Es sind fast immer etablierte Unternehmen, die bei Ihnen eine Reduktion von Komplexität nachfragen. Denn Start-ups konnten komplizierte Strukturen ja gar noch nicht erarbeiten.
Wir beobachten die Start-up-Szene natürlich und überlegen uns – Stichwort «Open Innovation» –, welche Elemente auch etablierte Unternehmen übernehmen könnten. Start-ups sollte man nicht unterbewerten, aber auch nicht überbewerten: Viele werden finanziell unterstützt und beenden ihre Mission nach drei Jahren, ohne einen nennenswerten Erfolg zu verzeichnen. So gesehen fühle ich mich nicht unwohl, dass ich grossen, etablierten Unternehmen helfe, wettbewerbsfähig zu bleiben. Sie tragen eine grosse gesellschaftliche Verantwortung.

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