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«Ich kann nur mich selbst kontrollieren»

Geld drucken und Schulden machen: westliche Länder praktizieren heute ein ökonomisches Verhalten, das sie vor 50 Jahren Entwicklungsländern vorwarfen. Wohin führt das? Dambisa Moyo über Chinas Griff nach Rohstoffquellen, Afrikas Wachstumschancen und vier globale Szenarien.

«Ich kann nur mich selbst  kontrollieren»
Dambisa Moyo, photographiert von Thomas Burla.

Die hohe Staatsverschuldung in China, das langsame Wachstum in den USA, in Europa und anderen wichtigen Ländern –  wie schwer ist es da, ein rationaler Optimist zu sein?

Optimistisch zu sein, ist schwierig. Nicht nur Chinas, auch Europas Verschuldung ist beunruhigend. Von den USA ganz zu schweigen. Traditionelle Modelle der Wirtschaftslehre und der geopolitischen Analyse, der Diplomatie und Politikwissenschaften – Werkzeuge, die wir im 20. Jahrhundert verwendeten – greifen nicht mehr.

Wie kommen Sie darauf?

Wir stehen vor einer Menge unbeantworteter Fragen. Beispielsweise müssen wir darüber nachdenken, ob die technologische Entwicklung eine neue ökonomische Unterklasse schafft. Wie gehen wir mit der Ungleichverteilung der Einkommen um? Vor zehn Jahren hat sich niemand darum gekümmert. Heute steht die Frage im Zentrum der Debatten. Oder, um auf Ihre Eingangsfrage zurückzukommen: Schulden. Wie lange kann es mit den Negativzinsen weitergehen? Was machen wir gegen die abnehmende Produktivität? Wie gehen wir um mit wachsenden Populationen und gleichzeitig vorhandenen Versorgungsgrenzen – betreffe es fruchtbares Land, Trinkwasser, Energie oder Mineralien. Das sind nur einige wenige Anzeichen, dass die bisherigen Werkzeuge nicht funktionieren.

Ungelöste Ressourcenfragen können künftige Konflikte provozieren.

Schon im 18. Jahrhundert hat Thomas Malthus über die Problematik der Knappheit natürlicher Ressourcen geschrieben. Natürlich können wir solche Probleme bis zu einem gewissen Grad mit neuen, alternativen Energietechnologien meistern – das ändert aber nichts an der Tatsache, dass natürliche Ressourcen selten, begrenzt und schwindend sind.

Malthus hat sich getäuscht – beispielsweise, weil er die Agrarrevolution nicht kommen sah.

Ja. Doch was er korrekt vorhersagte, jedoch nicht richtig verstehen konnte, war die Geschwindigkeit des Bevölkerungswachstums. 1960 gab es drei Milliarden Menschen. Heute sind es 7,5 – und im Jahr 2100 werden es elf Milliarden sein. Es dauerte 125 Jahre, um von zwei auf drei Milliarden zu kommen. Jetzt aber hat es nur fünfzig Jahre gedauert für einen Anstieg von fast fünf Milliarden. In Indien kommen eine Million Menschen pro Monat dazu. Das ist unglaublich. Nie in der Geschichte gab es solche Zuwachsraten. Dieser Fakt alleine zwingt uns, einerseits zusätzliche Ressourcen zu erschliessen und sie andererseits innovativer einzusetzen. Andernfalls schaffen wir es nicht, die fossilen Energieträger zu ersetzen.

Also machte es für Investoren Sinn, in diesem Geschäftsfeld zu investieren?

Ja, ich bin optimistisch, was Investitionen in Rohstoffe betrifft. Wenn man wie ich überzeugt ist vom weiterhin steigenden Bevölkerungswachstum und zugleich ausgeht von der Begrenztheit natürlicher Ressourcen, landet man zwangsläufig bei einer Sicht der Dinge, die in Anlegerkreisen als bullish gilt.

China scheint sich rund um die Welt den Zugang zu Rohstoffquellen zu sichern. Wie schätzen Sie das ein?

Da ist einmal das Offensichtliche: China war unglaublich aggressiv in den vergangenen zehn Jahren. Es entwickelte raffinierte Kooperationen mit vielen Ländern – sowohl entwickelten als auch Entwicklungsländern. Was denken Sie – wohin fliessen am meisten chinesische Investitionen?

Nach Nigeria oder Indonesien?

Nein. Nach Australien und nach Kanada. Der Energiesektor dort profitiert enorm. Das wissen viele nicht. Die meisten nehmen an, dass primär Entwicklungsländer in den Genuss chinesischer Investments kämen. Chinas Strategie ist bewusst gewählt. Man muss 1,3 Milliarden Leute ernähren, verfügt aber nur über sieben Prozent fruchtbares Land. Warum also nicht nach Südamerika oder Afrika? Es macht Sinn, und es bringt beiden Seiten etwas. Die Emerging Markets brauchen ihrerseits Investitionen, sie wollen Handel treiben und den Lebensstandard der eigenen Bevölkerung steigern.

Wie gestalten sich diese Verträge zwischen China und Ländern mit Rohstoffquellen?

China kommuniziert inzwischen sehr offen. In Südamerika etwa wollen sie eine Strasse bauen, die möglichst viele Länder durchquert. Im Gegenzug sollen sie Zugang zu natürlichen Ressourcen erhalten. Gleichzeitig erhalten die Emerging Markets so Infrastruktur und die Möglichkeit, Handel zu betreiben. Es handelt sich um ein klassisches Quidproquo.

Chinas Vorgehen ist pragmatisch – man importiert aus verschiedenen Ländern, was man braucht, und gibt den Ländern, was sie brauchen. Warum macht das nur China in diesem Ausmass?

(Lacht) Na ja – China hat rund drei Billionen Dollar Reserven. Ausserdem sind grosse Teile der Wirtschaft durch staatliche Betriebe dominiert. Das ermöglicht ein sehr einheitliches Vorgehen. Viele westliche Länder haben eine strikte Trennung zwischen staatlichen und privaten Wirtschaftsteilnehmern und dem NGO-Sektor. In China sind diese Grenzen verschwommen.

Im Westen gibt es grosse Kritik um Chinas Engagement, besonders in Sachen Arbeits- und Umweltaspekte: hat China tatsächlich einen «Der Zweck heiligt die Mittel»-Ansatz?

In solchen westlich geprägten Diskursen sind meiner Ansicht nach zu viel Emotion und zu wenig Rationalität im Spiel. Brasilianer sollten jederzeit in der Lage sein, ihre eigene Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Welchen Sinn aber hat es, das aus Genf oder Zürich zu kommentieren? Neulich wurde der britische Premier David Cameron dabei ertappt, wie er mit der Queen über die Teilnehmerländer einer in London stattfindenden Antikorruptionstagung herzog. Er sagte Dinge wie: «Oh, da kommen die Korrupten zur Antikorruptionstagung» – explizit erwähnte er Nigeria. Der nigerianische Staatschef wurde später gefragt, ob er eine Entschuldigung wolle. Er verneinte – ihm wäre es lieber, wenn der Finanzplatz London das Geld zurückschicken würde, das die so offensichtlich korrupten Vertreter des Systems auf die Insel bringen. Es macht keinen Sinn, mit den Fingern auf die Leute zu zeigen. Das ist zu einfach und bequem. Und es verhindert, dass man über die Schwächen der eigenen Wirtschaft nachdenken muss.

Angela Merkel redet von der Formel 7-25-50. 7 Prozent der Weltbevölkerung, 25 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts – und 50 Prozent der weltweiten Sozialausgaben.

Ich laufe Marathons. Dabei sage ich mir immer: «Kümmere dich nicht um die anderen!» Die kann ich nicht kontrollieren. Ich kann nur mich selbst kontrollieren: meine Diät und meine Schrittgeschwindigkeit etwa. Wir sind gut darin, China zu kritisieren. Aber keiner denkt über die Schwächen der eigenen Gesellschaft nach.

Wie beeinflusst die Tatsache, dass Sie in Afrika aufgewachsen sind, Ihre Sicht auf solche Fragen?

Anfänglich habe ich das westliche System für viel selbstkritischer und weniger doppelmoralisch gehalten, als es ist. Ich wuchs eben in der sogenannten Entwicklungswelt auf, wo man sich sagt, dass im Westen alles besser sei. Als ich dann im Westen lebte, war ich erstaunt, zu erkennen, wie der Diskurs hier läuft. Er ist gerade bei eminent wichtigen Themen enttäuschend. Der Westen praktiziert derzeit Massnahmen, die er vor fünfzig Jahren gegenüber Entwicklungsländern als falsch und problematisch bezeichnet hat. Man druckt Geld, hat Negativzinsen und spricht über Helikoptergeld. Das ist für mich seltsam: vielen afrikanischen Ländern wurde immer wieder gesagt, dass Gelddrucken Probleme verursache und keine Option sei. Was ist das für eine Welt? Ist das die «Topsy Turvy»-Welt von «Alice im Wunderland»? Solche Tatsachen erstaunen mich.

Es ist aber auch eine spannende Zeit – wenn so vieles, was man lange für unmöglich hielt, Tatsache wird…

Eine andere Sache, die mich erstaunt, ist die Kluft beim Thema Freiheit. In China geht man davon aus, dass das Individuum sein eigener grösster Feind ist. Individuen können Entscheidungen treffen, die nicht nur ihnen, sondern auch der Gesellschaft schaden können. Man geht davon aus, dass das Individuum keine grosse Selbstkontrolle hat. Das scheint uns im Westen natürlich falsch, wir sehen das anders. Aber nehmen wir die US-Immobilienkrise. Dort ging man davon aus, dass die Individuen in der Lage seien, sich selbst zu regulieren. Es stellte sich heraus, dass das nicht der Fall war.

Viele afrikanische Länder haben grosse Reserven an fruchtbarem Land oder anderen natürlichen Ressourcen. Welchen Einfluss hat das auf ihre Position in einer von Ressourcenknappheit geprägten Zukunft?

Die Lehrbuchmeinung, dass viele natürliche Ressourcen zu haben gut sei, ist schon oft genug in Frage gestellt worden. Die Frage lautet, ob die rohstoffreichen Länder sich selbst einschränken werden, um für die Zukunft vorzusorgen. Natürlich könnten sie es – schauen wir nur nach Norwegen, ein rohstoffreiches Land, das vorsorgte und seine Ressourcen im Griff hat. Bei vielen weniger reichen Ländern, etwa Brasilien, sieht das anders aus. Auf Brasilien lastet grosser ökonomischer Druck, seine Ressourcen so rasch wie möglich nutzbar zu machen.

Sehen Sie auch positive Beispiele des Umgangs mit Ressourcen?

Es gibt sie. Viele Länder – sei es in Afrika oder Nahost – haben Souveränitätsfonds. Das Problem ist, dass die Rohstoffpreise sinken, sobald die Reserven abgebaut sind. Viele Regierungen haben in der Boomphase erkannt, wie wichtig es ist, etwas auf die Seite zu legen. Was aber, wenn die Preise sinken? Diese Risiken müssen angegangen werden.

Was macht gutes Risikomanagement aus?

Zu einem guten Risikomanagement gehört natürlich das Denken in Szenarien. Die Frage ist, ob wir die passenden Szenarien finden werden für diese herausfordernde Zeit.

Sie haben in Ihrem Buch «How the West Was Lost» verschiedene mögliche Zukunftsszenarien entwickelt: die Beibehaltung des Status quo, die Szenarien «China schwächelt», «Die USA kämpfen sich zurück» und das Szenario «Amerikas wirtschaftliche Nuklearwaffen», insbesondere Protektionismus. Wie hat sich die Welt inzwischen in bezug auf Ihre Szenarien entwickelt?

Auf eine gewisse Art haben wir von allem etwas gesehen. Wir haben immer noch viel vom Status quo. Von den wirtschaftlichen Nuklearoptionen der USA und Europas haben wir Kostproben gesehen: Negativzinsen, Helikoptergeld, Protektionismus. Das sind gefährliche Optionen für die Weltwirtschaft. Wir haben ausreichend Beweise, dass Deglobalisierung keine gute Sache ist.

Auch bei uns in der Schweiz haben es Freihandelsabkommen schwer bei Abstimmungen: allein der Widerstand der Bauernlobby kann vieles hinfällig machen.

Im Grunde sieht es in den USA nicht besser aus. Hillary Clinton und Donald Trump haben sich beide für mehr Protektionismus ausgesprochen.

Und was ist mit Ihrem Szenario «China schwächelt»?

Für grosse Marktwirtschaften sind Neuerungen schwierig. Oft begreift man das schiere Ausmass der Herausforderungen nicht, wenn man aus einer kleinen Wirtschaft kommt. China ist ein Markt von 1,3 Milliarden Menschen. Wenn China von einer export- und investitionsgeleiteten Wirtschaft zu einer konsumbasierten lokalen Wirtschaft werden will, ist das wagemutig. Solche Prozesse bleiben immer volatil. Wir sehen Warnzeichen auf dem Aktien- und Immobilienmarkt. China ging massiv gegen Korruption vor. Das ist eine gute Idee – mit dem unschönen Nebeneffekt, dass sich viele Investoren nicht mehr trauen, in China zu investieren.

Wie steht es um das Szenario «Die USA kämpfen sich zurück»?

Für mich ist das nicht möglich ohne einen harten, kalten Blick auf das existierende amerikanische Wirtschaftssystem. Wie kann man es verbessern? Möglicherweise ist es nicht klug, alle zwei Jahre Wahlen zu veranstalten, wenn Geschäftszyklen viel länger dauern. Brasilien und Mexiko machen das besser: dort dauert eine Wahlperiode acht oder neun Jahre. Das kommt einer praktikablen Lösung näher. Es gibt unzählige Beispiele wie diese, von denen Europa oder die USA sich eine Scheibe abschneiden könnten. Wir müssen die Möglichkeiten nur erkennen und dann willens sein, auch zu handeln.

Und wie optimistisch sind Sie in bezug auf Afrika?

Ich bin immer noch optimistisch, was Emerging Markets betrifft. Sie haben keine hohen Schulden und Defizite, viel weniger Probleme, was Qualität und Quantität der Arbeit betrifft. Was Produktivität betrifft, haben diese Wirtschaften mehr Luft gegen oben als andere.

Wir haben viel über die globale Ebene geredet. Was aber kann das Individuum tun, um sich den künftigen Risiken zu stellen?

Es gibt ein schönes Zitat von Mark Twain: «Nicht was wir nicht wissen, bereitet uns Probleme, sondern das, was wir als gesichert hinnehmen – und es nicht ist.» Wir müssen uns von der Sorge um die grossen Unbekannten lösen und uns der kritischen Hinterfragung dessen widmen, was wir als gegeben hinnehmen.

Dambisa Moyo trat am 10. Juni 2016 am Swiss Economic Forum auf. www.swisseconomic.ch


 

Dambisa Moyo
ist Ökonomin und Autorin von Büchern über globale -Makroökonomie und internationale Politik. Sie ist in Sambia auf-gewachsen, hat u.a. an der Harvard University studiert und an der Oxford University in Ökonomie promoviert.


 

Florian Rittmeyer
ist Chefredaktor dieser Zeitschrift.


 

Olivia Kühni
ist Redaktorin dieser Zeitschrift.

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