Ich habe mein Portemonnaie verloren – und den Glauben an die Ehrlichkeit gewonnen
Menschen sind viel selbstloser, als wir denken. Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft sind ein Zeichen einer gesunden Zivilisation, in der Vertrauen herrscht. Jeder kann dazu beitragen.
Als ich diesen Sommer aus den Ferien zurückreiste, verlor ich mein Portemonnaie in einem Bus in Südfrankreich. Damit begann ein Ritual, das mich viel Zeit und Geld kostete: Sperrung der Karten, Erneuerung derselben und schliesslich, ohne grosse Hoffnung, der Versuch, den Verlust zu melden.
Dabei begegnete ich der französischen Verwaltungsmaschinerie in ihrer ganzen Komplexität. Es gibt mehrere Websites, und es ist unklar, wo man einen Verlust in einem Regionalbus melden muss. Aber selbst mit dem (wie ich glaubte) richtigen Formular war ich in meiner vorurteilsbehafteten Gewissheit überzeugt, dass diese Meldung niemals zu etwas führen würde. Bestenfalls würde ich es ohne Bargeld, Schweizer Bank- und Identitätskarten zurückerhalten. Innerlich hatte ich mich bereits mit dem Verlust abgefunden.
Dann die Überraschung. Wochen später erhielt ich eine E-Mail, in der mir mitgeteilt wurde, dass mein Portemonnaie gefunden worden sei und ich angeben sollte, an welche Adresse es geschickt werden solle. Immer noch von Vorurteilen geblendet, glaubte ich zuerst an einen Betrug. Aber nach einer Überprüfung stellte sich heraus, dass die Person, die mir geschrieben hatte, tatsächlich existierte. Die Person scheint ein vorbildlicher Bürger zu sein, der seinem Mitmenschen helfen möchte und sich sogar bereit erklärt, die Postsendung auf eigene Kosten zu verschicken. Als ich dennoch die Versandkosten überwies, hatte ich immer noch Zweifel. Aber schliesslich traf das Portemonnaie ein. Der Inhalt war unberührt. So viel Altruismus verwirrte mich.
Freie Bürger sind ehrlicher
Diese Frage beschäftigte auch den Verhaltensökonomen Alain Cohn und seine Kollegen. In einer 2019 veröffentlichten Studie testeten die Forscher die «bürgerliche Ehrlichkeit» der Menschen in 350 Städten in 40 Ländern. Sie wollten herausfinden, wie viele der über 17 000 Portemonnaies, die sie an Rezeptionen von Hotels, Banken, Polizeistationen und so weiter abgegeben hatten, zurückgegeben würden und mit welchem Inhalt. Jedes verlorene Portemonnaie enthielt eine Visitenkarte und einen variierenden Geldbetrag. Damit wollten sie testen, inwieweit finanzielle Anreize die Rückgabequote beeinflussen.
«Natürlich ist es ratsam, seine Sachen nicht zu verlieren. Sollten Sie es doch tun, hier ein Tipp: Verlieren Sie sie in einem Land, das die Freiheit liebt.»
Ihre Arbeitshypothese lautete: Die Unehrlichkeit der Menschen nimmt mit steigendem materiellem Anreiz zu. Dies war auch die Meinung einer Gruppe von Bürgern und Ökonomen, die sie im Rahmen der Studie befragten. Die Befragten gingen davon aus, dass ein Portemonnaie umso seltener an seinen Besitzer zurückgegeben wird, je mehr Geld es enthält.
Bei der Auswertung der Ergebnisse zeigte sich jedoch genau das Gegenteil: Die Leute neigen stark dazu, den Verlust von Portemonnaies mit Bargeld zu melden. Wenn wir ein Portemonnaie mit Schlüssel oder Bargeld finden, löst dies in uns das Gefühl aus, dass der Gegenstand für den Besitzer wertvoll ist. Je höher der Betrag, desto eher fühlen wir uns wie Diebe, wenn wir den Gegenstand nicht zurückgeben.
Die Unterschätzung dieser beiden Emotionen erklärt, warum wir die Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft unserer Mitmenschen unterschätzen. Interessant ist auch, dass die Rückgabequote von Land zu Land sehr unterschiedlich ist. An der Spitze der ehrlichsten Länder stehen die Schweiz, die Niederlande und die skandinavischen Länder.
In einer anderen Studie haben Niclas Berggren und Therese Nilsson gezeigt, dass Institutionen und Prozesse des freien Marktes das Vertrauen zwischen den Bürgern innerhalb der Gesellschaft stärken, da sie diese daran gewöhnen, freiwillig zusammenzuarbeiten und Verpflichtungen einzuhalten. Natürlich ist es ratsam, seine Sachen nicht zu verlieren. Sollten Sie es doch tun, hier ein Tipp: Verlieren Sie sie in einem Land, das die Freiheit liebt.