«Plakativ könnte man sagen, dass die Zürcher das Kartell finanzierten»
Die Schweiz ist anfällig für Verfilzungen,sagt Adam Quadroni, der das Bündner Baukartell auffliegen liess. In der Region gibt es bis heutekein Schuldbewusstsein.
Adam Quadroni, Sie haben 2018 dafür gesorgt, dass das Baukartell im Engadin aufgedeckt worden ist. Würden Sie es wieder tun?
Aus persönlicher Sicht würde ich es wieder tun. Sonst könnte ich mich nicht mehr im Spiegel anschauen. Aber mit Blick auf die Reaktionen eines Teils der regionalen Bevölkerung muss ich sagen: Nein.
Warum?
In der Region herrschte zu keinem Zeitpunkt die Haltung vor: «Ja, das war falsch.» Nie. Und wenn man sich nicht von etwas distanziert, akzeptiert man es. Ein Teil der Leute will offenbar betrogen werden.
Wie erklären Sie sich das?
Hinzustehen und zu sagen: «Nein, das will ich nicht», und die Konsequenzen zu ziehen, ist nicht leicht – Schweigen ist einfacher. In Graubünden hat dieses System über Jahrzehnte funktioniert, es waren viele Leute involviert. Die Bauunternehmer trafen die Preisabsprachen im Restaurant, in aller Öffentlichkeit. Jeder wusste Bescheid. Das nun einzuräumen, dazu sind die wenigsten bereit.
Wie geht es Ihnen heute?
Wenn ich «gut» sagte, würde ich lügen. Die Leute haben die Geschichte nach kurzer Zeit vergessen. Es geht im gleichen Stil weiter.
Aber das Kartell wurde doch aufgelöst.
(Schmunzelt) Das Kartell ist offiziell aufgelöst, aber inoffiziell funktioniert es weiter. Es ist kein Kartell im klassischen Sinn mehr. Stattdessen herrscht im Engadiner Bausektor ein Monopol, und es gibt Absprachen zwischen Unternehmen.
Welche Firma besitzt ein Monopol?
Eine Gruppe von Unternehmern aus St. Moritz hat verschiedene Firmen aufgekauft. Der Kanton und die Gemeinden akzeptieren das und vergeben alle Aufträge an diese. Sie könnten das Monopol sprengen, wie sie zuvor das Kartell hätten sprengen können. Doch sie taten es nicht, weil sie gut damit lebten. Jeder profitierte ein bisschen.
Auch Sie haben profitiert.
Profitiert hat jeder, der Teil des Kartells war. Aber man steht auch innerhalb eines Kartells noch in Konkurrenz zueinander. Da herrschte keineswegs Harmonie. Nachdem die Arbeiten verteilt und die Preise festgelegt worden waren, wurde trotzdem versucht, den Preis zu drücken, damit der andere ja nicht zu viel verdient. Und die grossen Firmen waren in diesem Machtkampf im Vorteil. Natürlich haben kleine Firmen wie wir auch ein bisschen profitiert. Aber niemals so viel wie die Grossen.
Sie trafen sich also in einem Restaurant und verteilten die Aufträge?
Ja. Am Anfang des Jahres hatten wir eine Koordinationssitzung. Aufgrund informeller Informationen von Informanten bei Banken, Gemeinden und beim Kanton wussten wir im Voraus, wer was bauen wird. Die Arbeiten wurden verteilt, noch bevor private Bauherren wussten, dass sie die Baubewilligung bekommen.
Hatten Sie von Anfang an ein ungutes Gefühl dabei?
Wir gehörten zu einer Gruppe von kleinen Firmen im Kartell, die sich dagegenstellten. Aber wir machten zu wenig dagegen.
Hätten Sie nicht einfach aus dem Kartell aussteigen und tiefere Preise anbieten können?
Dann hätte ich die Firma zumachen müssen.
Warum?
Ich hätte keinen Beton mehr bekommen, kein Kies, kein Material, keinen Transport, nichts.
Die Zulieferer waren also auch Teil des Kartells.
Ja. So funktioniert das System. Es müssen alle dabei sein. Ich habe dann probiert, Politiker auf das Kartell aufmerksam zu machen. Ich bin mit Dokumenten zu Grossräten, Gemeindepräsidenten und Ämtern gegangen.
Und niemand reagierte.
Sie reagierten – indem sie mich bekämpften.
Haben Sie deshalb entschieden, an die Öffentlichkeit zu gehen?
Das war natürlich ein langer Prozess. Ich war ab 1995 bei den Treffen dabei. Schon mein Vater hatte gegen das Kartell gearbeitet. Nachdem ich die Firma übernommen hatte, kämpfte ich 20 Jahre lang alleine. Es war ein harter Kampf, ein Kampf um Leben und Tod. Und zwar wortwörtlich. Ich bekam Morddrohungen. Man versuchte mich zu boykottieren, ich erhielt keinen Beton mehr. Ich nahm eine eigene Betonmischanlage in Betrieb, die natürlich viel zu klein war, um profitabel zu sein. Auch die Behörden arbeiteten gegen mich. Schliesslich musste ich Konkurs anmelden. 2017 bin ich dann zu den Medien gegangen.
Wäre es nicht einfacher gewesen, still zu sein und mitzumachen?
(Lacht) Natürlich wäre es einfacher gewesen und profitabler. Aber ich fragte mich: Bin ich das? Bin ich korrupt, bin ich ein Betrüger? Ich konnte das nicht mit meinem Charakter vereinbaren.
Hat es viel Mut gebraucht, diesen Schritt zu tun?
Viele sehen das als mutig an. Für mich war es nicht eine Frage des Muts. Wenn ich etwas nicht gut finde, dann sage ich das auch geradeheraus. Deshalb war es für mich selbstverständlich, gegen das Kartell zu kämpfen. Es heisst ja, dass die Taten definieren, wer man ist.
Aber Sie stellten sich gegen viele Interessen und die Meinung breiter Bevölkerungskreise. Das brauchte bestimmt Überwindung.
Ja. Ich wusste immer: Da sind so viele mächtige Leute involviert. Aber ich sagte mir: Ich habe keine Angst vor denen – das sind Gauner. Vielleicht war ich naiv, zu glauben, dass es irgendwo noch Gerechtigkeit in diesem System gibt.
War Ihr Schritt nicht auch von persönlichen Interessen geleitet? Waren Sie neidisch auf die grösseren Konkurrenten und wollten ein grösseres Stück des Kuchens?
Nein, überhaupt nicht. Als Teil des Kartells konnte ich schöne Arbeiten ausführen. Ich erhielt auch sehr gute Übernahmeangebote für meine Firma. Wäre ich darauf eingegangen, hätte ich heute ausgesorgt.
Gab es andere Leute, die Zivilcourage zeigten und Sie unterstützten?
In der Region gab es viele Leute, die mir sagten: Du hast schon recht. Aber öffentlich hingestanden ist niemand.
Dabei funktionierte das ganze Kartell auf Kosten der Bevölkerung.
Ja, und nicht nur der Bevölkerung hier. Plakativ könnte man sagen, dass die Zürcher das Kartell finanzierten. Sie bauen hier Ferienhäuser, zahlen Steuern, unterstützen den Kanton Graubünden über den Finanzausgleich und über Subventionen des Bundes.
«Plakativ könnte man sagen, dass die Zürcher das Kartell finanzierten.»
Wer vom Geld anderer lebt, hat kein grosses Interesse daran, dass es effizient eingesetzt wird.
Genau. Als Bündner Politiker würde ich mich schämen. Und als Zürcher würde ich den Bündnern sagen: Räumt zuerst einmal auf bei euch, bevor ihr nach neuem Geld fragt.
Welche Folgen hatte es für Sie persönlich, dass Sie das Kartell auffliegen liessen?
Ich wurde zerstört, in jeder Hinsicht. Weil es natürlich persönliche Verbindungen zwischen den Baufirmen und den Behörden gibt, gingen auch die Behörden gegen mich vor, etwa die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde nach der Trennung von meiner Frau. Heute habe ich zu zwei meiner drei Töchter keinen Kontakt mehr.
Was ist für Sie schlimmer: sich juristisch ungerecht behandelt zu fühlen oder sozial ausgegrenzt zu werden?
Bei den Behörden geht es um einzelne Personen, die zum Teil Dinge tun, die man nur als bösartig bezeichnen kann. Aber Leute, die jemanden aufgrund von Stammtischgeschwätz ausgrenzen, sind nicht besser. Das ist eine Bankrotterklärung für die ganze Gesellschaft.
Viele sehen in Ihnen einen Nestbeschmutzer, einen Opportunisten oder einen Querulanten. Muss man, um zum Whistleblower zu werden, einen unbequemen Charakter haben?
Natürlich sind Whistleblower unbequem. Wenn ich etwas denke, spreche ich das auch aus – das kann unbequem sein. Aber die meisten, die Missstände aufdecken, tun das nicht, weil sie jemandem eins auswischen möchten oder den Konflikt suchen. Allein dafür würden sie die Opfer, die sie erbringen, nicht auf sich nehmen.
Sie sind also allein Ihrem Gewissen gefolgt?
Sehen Sie: Familien stürzen sich in Unkosten, um ein Haus zu bauen. Und dann kommt ein Unternehmer und verlangt dafür den doppelten Preis. Man muss sich klarmachen, was man damit einer jungen Familie antut. Das geht doch nicht!
Gibt es etwas, das Sie sich vorwerfen lassen müssen?
Ja, sicher. Ich war ja mit am Tisch und profitierte auch. Ich begegnete im Alltag Leuten, von denen ich wusste: Die werden betrogen. Hätte ich mehr machen können? Hätte ich es anders machen können? Das sind Fragen, die ich mir auch selber stelle. Aber die Leute, die mich kritisieren, sollten sich auch fragen, wie sie sich in dieser Situation verhalten hätten. Das tun die wenigsten.
Ist ein solches System in anderen Regionen gar nicht möglich?
Möglich schon, aber vielleicht nicht in diesem Ausmass. Geografisch ist das Engadin ja abgeschlossen. Es ist wie ein Biotop und deshalb besonders anfällig für solche Verfilzungen.
Hat es Reaktionen gegeben, die Sie positiv überrascht haben?
Sehr viele, und dafür bin ich dankbar. Aber praktisch alle kamen von ausserhalb der Region. Klar, niemand will zugeben, dass er mit dabei gewesen ist. Dann kritisiert man lieber die anderen. Diese Einstellung hat auch mit den Eigenheiten des Engadins zu tun. Die Region war früher arm. Man musste sich gegenseitig unterstützen, sonst kam man nicht durch. Bis heute herrscht die Einstellung vor, dass man zusammenhalten müsse. Die Folge sind eben solche Verfilzungen.
Ist der gesetzliche Schutz von Whistleblowern in der Schweiz genügend?
Nein. Aber viele, die Missstände aufdecken, erwarten gar keinen Schutz. Ich will nur, dass die Behörden einen nicht kaputtmachen. Das ist kein Schutz. Das ist schlicht Gerechtigkeit.
Was würden Sie jemandem raten, der auf einen Missstand aufmerksam wird?
Eigentlich ist für mich klar: Man muss gegen Missstände kämpfen. Aber ich kann nicht etwas empfehlen, von dem ich weiss, dass es verheerende Auswirkungen haben kann. Zuerst müssten wir als Gesellschaft sicherstellen, dass Leute, die hinstehen und Missstände melden, nicht bestraft werden. Aber wir sind in der Schweiz prädestiniert für Verfilzungen. Bei den Jungen ist das weniger der Fall.
Ein Umdenken kommt also in Gang?
Ja, das nehme ich so wahr. Aber die Dinge ändern sich langsam. Bis sich wirklich etwas ändert, muss mindestens meine Generation weg