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Ich erinnere uns

Was die modernen Schweizer eigentlich ausmacht, ist ihre Lernfähigkeit. Doch warum verkennen wir heute die vergangene Rolle von Krieg, Glück und Zufall? Und warum haben kritische Patrioten Mühe, den Wert des Alpenmythos zu schätzen?

Ich erinnere uns
Thomas Zaugg (privat)

Auch wenn wir manchmal gegen sie ankommen, sind wir Familiengeschichten, an die wir uns erinnern. Einmal, zweimal fand der Vater meiner Mutter wieder «nach Hause», wie er es nannte. Er wusste noch, dass ihn das Taxi nach Zürich-Seebach bringen würde. In seinem Häuschen angekommen, suchte der Grossvater nach der Katze, vielleicht auch nach der Briefmarkensammlung oder nach seiner Kollektion aufgespiesster Schmetterlinge, bevor sie ihn ins Pflegeheim zurückbrachten. Viel später nach seinem Tod erfuhr ich, dass Hermann ursprünglich Italiener war und Verdingbub im Bündnerland. Der mannhafte Gestus des Duce soll ihm imponiert haben, hörte ich, und bei der Auflösung seines Haushalts fanden wir eine Ausgabe von «Mein Kampf».

Doch unser Hermann war kein Ideologe, kein Mann des gefährlichen Geistes, sondern einer aus dem Proletariat. Er war ein Erwerbsleben lang Hilfsarbeiter derselben Couvertfabrik, und er blieb, eingeführt als Schreiner, ohne erlernten Beruf. Er freute sich, wenn er in der Zunft seines Patrons Kasse und Garderobe betreuen durfte, und sein Stolz über diesen kurzzeitigen Aufstieg anlässlich des Zürcher Sechseläutens erfüllte meine Mutter mit Scham.

Es ist unklar, wie prägend die Zeit als Verdingbub für Hermann war. Auf dem Porträt der bäuerlichen Pflegefamilie, die es gut gemeint habe mit ihm, steht er abseits, trägt schlichtere Kleidung, schaut als einziges Kind nicht in die Kamera. Sommers wie winters hatte er, die nackten Füsse in Holzzoggeli, mit Ross und Wagen Waren auszutragen, hoch nach Arosa, wo ich heute Ski fahre.

Von meinem Grossvater väterlicherseits gibt es Kindheitsbilder in Form einer helvetischen Ikone: der kleine Werner als Tells Walter. Eine Rolle, die er wohl an so manchem 1. August spielte. Werner kam aus Thun, und als er in die Berge hochfuhr, um sein Asthma zu kurieren, verliebte er sich in eine Aroserin. Auf diesem Zauberberg blieb er und wurde ein Bankangestellter alter Schule, ein Rotarier. Von Werner besitze ich eine Gottfried-Keller-Gesamtausgabe, Gotthelfs «Der Knabe des Tell» («Weihnachts-Andenken v. d. Grosseltern. 1934») und eine Armbrust ohne Pfeil. Von Hermann behielt ich einen Gehstock und die Briefmarkensammlung ohne philatelistischen Wert. Vielfache Erinnerung macht mich zu einem Aroser.

Und wie steht es um die Familiengeschichte der Schweizer? Wir sind es uns gewohnt, unsere nationale Identität wie einen Stammbaum nachzuverfolgen. Manche glauben, wir hätten eine Mutter Helvetia und ein Vaterland. Doch so widersprüchlich, wie sich unsere engere Verwandtschaft zusammensetzt, so schwierig ist es, in jener höheren Familie heimisch zu werden. Wir sind nicht nur Geschichten, an die wir uns erinnern. Wir sind Geschichte, die wir verdrängen.

Damit meine ich nicht die Erzählungen vom Entstehen der Eidgenossenschaft. Ein Wir-Gefühl aus Daten abzuleiten, die angeblich seit dem Frühmittelalter in unser kollektives Gedächtnis übergingen, ist leicht unsinnig. Was wir hingegen verstehen können und noch nicht ganz verklären, ist das 19. Jahrhundert, in dem der lose und kriegslustige Staatenbund der alten Eidgenossen sich zum Bundesstaat heranbildete. Wenige sind sich bewusst, mit wie viel Glück die moderne Schweiz entstand. Die «Willensnation» begann 1848 mit dem Niederringen der katholisch-konservativen Urschweiz. Teile der ultramontanen konservativen Minderheit hätten sich gerne dem Ausland angeschlossen. Und hätten die umliegenden royalen Mächte nicht mit bürgerlichen Aufständen in ihren Städten und Ländern zu kämpfen gehabt, so wäre die Bundesstaatsgründung mit Hilfe von aussen tatsächlich verhindert worden.

Glück ist das eine. Krieg ist das andere. Lange hat man von den wenigen Opfern geschrieben, die der Krieg 1847/48 gegen den Sonderbund von Luzern, Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwalden, Zug, Freiburg und das Wallis gefordert habe – die Literatur nennt zwischen 98 und 104 Tote, 374 und 493 Verletzte. Man sah darin den Beleg für den Willen zum Zusammenschluss: Generationen von Historikern haben am Beispiel der Schweiz einen friedlichen Bürgerkrieg beschrieben, sie schrieben eine geschönte Gründungsgeschichte in Abgrenzung zum blutigen amerikanischen Bürgerkrieg herbei. So heisst der Titel einer neueren historischen Darstellung: «A very Civil War». Eine «geglückte Synthese geschichtlicher Vorgänge» (Peter Stadler), ein «Erfolg» (Dietrich Schindler) sei die Bundesstaatsgründung gewesen. Und der Sonderbundskrieg ein schlichter «Bruderzwist» (Joachim Remak), in der «Raschheit des Verlaufs» und mit dem auf «humane Kriegführung» bedachten General Dufour (Edgar Bonjour) eigentlich nur ein «Ordnungsdiensteinsatz», eine blosse «Bundesexekution» (Hans Rudolf Fuhrer).

In Wirklichkeit kam es zu Vergewaltigungen, Vertreibungen, Raubzügen und Morden. Hinter dem Mythos 1848 steht die Realität eines «nationalen Einigungskrieges» (Aram Mattioli). Manchmal seien wir geneigt, schrieb Jean Rudolf von Salis 1963, selbstgefällig die Vorbildlichkeit unserer staatlichen Einrichtungen und politischen Gepflogenheiten als eine ererbte Nationaltugend zu betrachten. «Der innere Frieden und die Konsolidierung der Verhältnisse in dem modernen Rechtsstaat haben zu ihrer Verwirklichung lange gebraucht, und um zu diesem Ziel zu gelangen, hat viel Unrecht geschehen und Blut fliessen müssen.»

So weit ist ein «Wir» in der Entstehungsgeschichte der modernen Schweiz kaum zu finden. Und über das 19. Jahrhundert hinaus betrachtet, sieht es kaum besser aus: Bis ins 20. Jahrhundert könnte man die Geschichte der Eidgenossenschaft provokativ als Geschichte eines Einparteienstaates schreiben. Während die Gestaltungskraft des Freisinns aufbaute, was wir heute sind, suchten die Katholiken ihren Weg aus dem «Ghetto» (Urs Altermatt).

 

Kultur der Abgrenzung

Weitere Klüfte tun sich in jener Zeit auf, blickt man auf Sprachregionen und Politlandschaften. Der Graben zwischen der welschen und der deutschen Schweiz war nie grösser als während des Ersten Weltkriegs. Und selbst wenn der Landesstreik 1918 von bürgerlichen Historikern vielfach überbewertet wurde, kannte auch die Schweiz die rote Gefahr. Nicht zuletzt die braune kannte sie, in Form der faschistischen Fronten der frühen 1930er Jahre, die sich bei der Jugend und in rechtsfreisinnigen sowie katholischen Kreisen anfänglich beliebt machten.

Erst in der Krisenzeit der späten 1930er Jahre wurden Bande geknüpft, die es in dieser gesellschaftlichen Uniformität zuvor nicht gegeben hatte. An der Zürcher Landesausstellung 1939 trug sich kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Skurriles zu. Die Stadt wirkte als Katalysator der Tradition, als die Frauen in neuartiger Kleidung auftanzten, die den Zuschauern wie von einer anderen Welt erscheinen musste: Landfrauen in unpraktischen Trachten! Erst Ende des 19. Jahrhunderts kamen sie in Mode – ein europaweit stattfindender Renaissanceeffekt –, und so waren die meisten Stücke an der Landi 39 gewissermassen urmodern.

Es war ein Vertreter der Minderheit, der damals der Identitätskrise ein Ende setzte – vielleicht gerade weil er von der Erfahrung des «Ghettos» geprägt war. Bundesrat Philipp Etter, aus Zug stammend, erwies sich als kämpferischer katholischer Geist («Kreuzritter Philipp»), ein Freisinnigen- und Sozialistenfresser während seiner Zeit bei den «Zuger Nachrichten». Manche nannten den 1934 gewählten und bis 1959 amtierenden Magistraten wegen seiner vaterländischen Reden und seines markanten Kahlkopfes «le pseudo-Mussolini». Etter war es, der vor dem Zweiten Weltkrieg der Schweiz ihr bis heute nachwirkendes ideelles Gesicht gab: Geistige Landesverteidigung hiess die Bewegung, hinter die sich auch sozialdemokratische Kräfte stellten. Etter fabulierte in seiner Kulturbotschaft von 1938 nicht nur die Einheit der Schweiz herbei, sondern stilisierte den St. Gotthard mit seinen drei Strömen zum vielsprachigen Inbegriff abendländischer Kultur.

In wesentlichen Zügen war die so hochgehaltene Kultur eine Kultur der Abgrenzung. Seit dem Zweiten Weltkrieg gilt das Land, schreibt der Politikwissenschafter Alois Riklin, als antimonarchisch, antihegemonial, antiimperialistisch, antizentralistisch, antisprachnationalistisch, antifaschistisch, antitotalitär. Die Schweizer scheinen zu vieles nicht zu sein, als dass sie etwas sein könnten.

 

Händler unter Druck

Neben diesem gewaltigen Panorama des Andersseins kommt hinzu, dass unser eigentlicher Antrieb und Zusammenhalt auf etwas Dynamisches und Internationales zurückgeht – die Wirtschaft. Wir sind gar nicht so sehr Mythologen, Bergsteiger, Träumer. Wenn überhaupt, sind wir – als Widerlegung von Werner Sombarts Dichotomie – sowohl Helden wie Händler.

Nehmen wir etwa den Schweizer Diplomaten Walter Stucki. Anfang 1946 flog er in die USA, um die hohen Zahlungsforderungen der Siegermächte abzuwenden. Die unversehrte Schweiz habe den Krieg durch Kollaboration mit dem Faschismus verlängert, lautete unter anderem der Vorwurf. Biograph Konrad Stamm beschreibt die Haltung Stuckis, in der unsereiner sich heute noch wiederfinden kann: «Er war in Washington bis an die Grenzen des diplomatisch noch Zulässigen gegangen, hatte die Vertreter der drei Westmächte in den zwei vorangegangenen Monaten nicht nur mit guten Argumenten zu überzeugen versucht, sondern mit Unnachgiebigkeit, Renitenz, ja starrsinnigem Beharren auf dem schweizerischen Standpunkt hin und wieder bis aufs Äusserste gereizt und mit einem Verhandlungsabbruch, der sich dann bloss als dramatisch inszenierter Unterbruch erwies, für einen Eklat gesorgt.»

Heute stehen unsere Händler und Diplomaten wieder unter Druck. Eines unserer Erfolgsgeheimnisse, das Bankgeheimnis, ist trotz Verhandlungsgeschick fast Geschichte. Die Macht unserer demokratischen Selbstbestimmung wird unterhöhlt durch die Macht internationaler Multis. Gleichzeitig ist es unser Unternehmergeist selbst, der uns auf die Probe stellt. Durch den Zustrom dringend benötigter Arbeitskräfte geraten wir in die wohltuende Gefahr, uns in unserem Land anderen erklären zu müssen.

Inmitten dieser Langzeitprobleme versuchen sich die Parteien zu behaupten als sogenannt staatstragende Wirtschaftskraft (FDP), Hüter einer verschwundenen Mitte (CVP, BDP, GLP) und Anwälte eines ökologischen oder sozialen Patriotismus bis Nationalismus (SVP, SP, Grüne). Ferner gibt es Internationalisten ohne Rücksicht auf Prinzipienverluste. Oder Idealisten, die noch an die Sendung der Schweiz glauben und hoffen, dass der Kontinent irgendwann verdeutschschweizert. So unlängst der «Weltwoche»-Chef Roger Köppel: «Deutschland wird nie aus der EU austreten, aber irgendwann werden die tüchtigen Deutschen, die ihren eigenen Untergang zweimal überlebten, auch die EU so weit reformieren und verbessern, dass vielleicht sogar die Schweiz über einen Beitritt nachdenken kann.»

Doch bevor wir uns zum ideologischen Exportgut veredeln, sollten wir noch einmal über uns nachdenken. Nicht von ungefähr beschreiben die Historiker das Werden des Bundesstaats als einen «Lernprozess» (Thomas Christian Müller) in kantonalen «Versuchslaboratorien» (Roland Ruffieux). Was die modernen Schweizer eigentlich ausmachte, war ihre Lernfähigkeit gegen innen. Vielleicht ist die Schule heute der Ort, an dem man diesen Prozess wieder in Gang bringen kann. Wir wissen: wir sind eine Nation ohne Monarchie. Bevor wir missionieren, müssen wir doppelt so viele Anstrengungen unternehmen, um eine Einheit ohne Krone zu schaffen – gerade in Zeiten, in welchen uns das System der direkten Demokratie noch weiter auseinanderzureissen scheint als sonst.

 

Erinnerungen an die direkte Demokratie

Diese direktdemokratische Selbstbestimmung ist eine der wichtigsten Besonderheiten unseres Landes. Von ihr hörte ich jedoch nicht in der Schule. Vielmehr lernte ich sie durch einen Mann kennen, den ich erst einfach nur laut reden hörte und als lächerlich, sogar gefährlich empfand, wie so viele andere. Christoph Blocher sprach in den 1990er Jahren oft vom Untergang des Landes. Vielleicht hat sein nimmermüder Rekurs auf die älteste Vergangenheit dazu geführt, dass man ihn in jenen Punkten nicht ernst nimmt, in denen er recht hat.

Später, an der Universität, dozierte unser Professor nicht selten über die Demokratie – nur etwas fremdsprachlicher als Blocher. Der Professor sprach von Legitimationsproblemen, von der schwierigen Situation, wenn die Volkssouveränität rechtsstaatliche Prinzipien verletzt oder gar dem Völkerrecht widerspricht. Warum sprach der Dozent immer von der Legitimation der Demokratie? War sie nicht einfach so da? Warum sollten wir begründen, was gut ist? So redeten wir in den Kaffeepausen.

Die fehlende Wertschätzung ist nicht neu. Der Genfer Historiker David Lasserre schrieb bereits 1952 an die Erziehungsdirektoren aller Kantone: «In einem Zeitalter, da Volkssouveränität und Volksrechte als allgemeine Kulturerrungenschaften gelten, versteht es die junge Generation nicht ohne weiteres, was denn unsere Vorfahren mit der Erkämpfung demokratischer Kantonsverfassungen so Grossartiges leisteten. Und unser zähes Festhalten am blossen Männerstimmrecht erschwert es vielen Lehrern, aber auch Schülern und gar Schülerinnen erst recht, die Schweiz im Sinne früherer Generationen als Vorkämpferin der Demokratie zu bewundern und zu verehren.»

Dass während der faschistischen Bedrohung hierzulande der Kriegsbundesrat und nicht das souveräne Volk führte, steht ausser Frage. Könnten wir dennoch heute – nach der demokratisch beschlossenen Einführung des Frauenstimmrechts vor vierzig Jahren – ein wenig stolzer sein?

Wir leben seit einigen Jahren wieder in einer Epoche, in der diese Legitimation dringend nötig ist. Die direkte Demokratie stosse an Grenzen, heisst es allenthalben. Ich machte letzthin eine fast grenzüberschreitende Erfahrung, als ich dazu in Wien den Philosophen Philipp Bloom befragte. Bloom meinte: «Die direkte Demokratie scheint mir so wahnsinnig sympathisch, aber gleichzeitig übersteigen so viele Fragen das Verständnis jedes gebildeten und bemühten Menschen, dass es ganz sinnlos wäre, sich an diesen komplexen Fragen zu versuchen. Und dann sitzt man in etwas, das nicht sehr demokratisch ist. Aber das ist wahrscheinlich noch besser als die Alternative und vielleicht demokratischer als je zuvor. Es waren ja immer Eliten, die herrschten. Die Tatsache, dass wir von Eliten regiert werden und nicht vom gesunden Menschenverstand, ist wahrscheinlich etwas Gutes.»

Zuhause spulte ich die Aufnahme des Interviews zurück und spürte nach wiederholtem Hören: Zwischen dem Intellektuellen im Wiener Kaffeehaus und mir bestehen tatsächlich kulturelle Differenzen. Es gibt da zumindest die Entrüstung oder das Gefühl, wir könnten etwas sein, was die anderen nicht verstehen. Bevor wir diese waghalsige Vermutung als Kopfgeburt abtun, sollten wir dem Gefühl nachgehen.

Ähnlich wie über den Bundesstaat von 1848 liessen sich auch über die direkte Demokratie Bücher lesen, die ihren Entstehungsmythos kritisch hinterfragen. Weder archaische Schwurgemeinschaften noch das revolutionäre französische Staatsrecht sind allein für ihre Entwicklung verantwortlich. Der Historiker Benjamin Adler zeigt am Beispiel von Schwyz vielmehr auf, dass die direkte Demokratie in der Verschmelzung zweier unterschiedlicher politischer Kulturen wurzelt: der spätmittelalterlich-versammlungsdemokratischen Kultur der Landsgemeinden einerseits und andererseits der liberal-repräsentativen Kultur, die sich durch die Französische Revolution ausbreitete.

Es war auch hier wieder ein langer Kampf, ein Zusammenkommen komplizierter Gründe und Zufälle. Doch verkennen wir beharrlich diese Geschichte, so dass sich Lasserre schon vor einem halben Jahrhundert fragen musste: «Wie kommt es da, dass man sich nicht erinnert, in der Schulzeit von dieser Grunderkenntnis je etwas gehört zu haben?»

Diese Frage stellt sich heute verstärkt. An der komplexen Entstehung der direkten Demokratie waren auch Kriege beteiligt. Viele «pazifistisch gesinnte Lehrer», wie Lasserre schon schrieb, sehen heute jedoch Kriegs- und Schlachtenruhm nur noch «als verfehltes Mittel zur Erziehung der heutigen Jugend und künftigen Staatsbürger». Auf der anderen Seite gibt es etwa den Sonderdruck der «Weltwoche», «Die Schweizer Schlachten», der das alte Brimborium wiederaufleben lässt – mehr als eine Rache an den pazifistischen Lehrern ist das aber nicht. Es seien «fesselnde Teilszenen, die zwar wertvoll, aber doch nebensächlich sind», meinte bereits Lasserre zu dieser Form vaterländischen Unterrichts.

Sind wir seit mehr als fünfzig Jahren – noch vor den immer beschuldigten 68ern – unfähig, unsere Geschichte zu vermitteln? Sind wir entzweigerissen zwischen einer pazifistischen Lehrerschaft, die an der Schweiz nur noch interessiert, dass sie in Europa liegt, und einer nationalkonservativen Strömung, die das Alte noch einmal lehren will, aber über Knalleffekte nicht hinauskommt («Sonderdruck: Von Morgarten bis Marignano – die komplette Serie»)?

Kürzlich hatte ich mit Büchern über die Schweiz eine Begegnung der erbaulicheren Art. In einem Zürcher Gymnasium warf ich einen Blick in die Lehrerbibliothek der Fachschaft Geschichte. Ich war überrascht. Alle standen sie da, die grossen Geschichten der Schweiz. Bonjours Neutralitätsgeschichte in der handlichen Zusammenfassung, die prachtvolle «Illustrierte Geschichte der Schweiz» aus den 1960er Jahren, Peter Dürrenmatts brillant geschriebene «Schweizer Geschichte», Werner Rings’ packendes Werk «Schweiz im Krieg 1933–1945», die neue und umfassende «Wirtschaftsgeschichte der Schweiz», sogar die «Schweizer Geschichte für Ketzer» von Otto Marchi und natürlich Maissens neues Standardwerk «Geschichte der Schweiz» – nur der vollständige Bergier-Bericht, der wäre mir aufgefallen, wäre er im Regal gewesen. Protestantisch oder katholisch, föderalistisch oder demokratisch, ländlich oder städtisch, widerständig oder vergangenheitskritisch widersprachen sich diese Bücher untereinander – vor meinem inneren Auge spielte sich ein Historikerstreit ab.

Es wäre fast alles da. Eigentlich müssten wir nur diese Bücher zu den Schülern sprechen, ja sie von ihnen anschreien lassen, gerne auch wild durcheinander. Durch deren Zwist würden die Schüler erfahren, wie verletzlich das schweizerische Staatsgebilde ist. Der Lehrer könnte sich vielleicht auf die Schiedsrichterrolle im Fall von logischen Widersprüchen beschränken in diesem Streit, den die Schüler selbst ausfechten müssten und durch den sie am Ende mit verzweifeltem Mut so etwas wie eine staatsbürgerliche Identität gewinnen könnten. Doch viele der neueren Geschichtsdarstellungen – namentlich die jüngst erschienene neue «Geschichte der Schweiz» – weichen diesem historiografischen Streit aus. Synthetisiert wird leider bis zur Kantenlosigkeit. Pädagogisch gefragt ist aber weniger die beschwichtigende Synthese, schon gar nicht das standhafte Bekenntnis zur Schweizer Geschichte – Mut ist vielmehr nötig zu umfassenden Schweizer Geschichten im Plural der Demokratie.

 

Was bleibt? Die Berge?

Was bleibt in dieser Vielfalt als gemeinsame Geschichte? Die Alpen? Die Bergwelt? Unsere Höhenwege? Im digitalen Zeitalter soll kein Meinungsmacher mehr glauben, er könne der Crowd einen Berg als nationales Symbol verkaufen. Ich sehe ihn schon kommen, den Shitstorm aus E-Mails mündiger Internetuser, die wissen, dass das Wandern ähnlich neumodisch ist wie die Tracht und der Alpinismus als luxuriöses Hobby der Engländer im 19. Jahrhundert begann. «Erinnerung ist nie unschuldig», schreibt zumal der Historiker Philipp Sarasin. Dennoch, obwohl wir kritischen Patrioten von ihrem Mythos uns abgewendet haben, erinnere ich mich. Ich erinnere mich, dass die Alpen helfen, wenn alles endlich scheint.

Das Begräbnis von unserem Aroser Neni fand auf dem Friedhof beim Bergkirchli statt. Ich wollte der Urne eine Rose beigeben, doch fiel sie unglücklich daneben. Mich berührte dieses Missgeschick, wie misslungen war dieser Abschied doch und traurig alles. Mein Vater nahm mich bei der Hand, und seine Rechte zeigte auf das Panorama über dem Bergkirchli. Nicht traurig solle ich sein, denn der Grossvater sei beileibe nicht in dieser Urne. Der stolze Mann schwirre nun lustig in der Höhe umher, er sei angelangt in den Schneekristallen, zwischen den Tannen des Eichhörnliweges, er lege sich, vom Nebel der Schanfigger Hexe hochgetragen, auf dem Berg namens Schafrücken schlafen, er schwebe über dem Weisshorn oder hin und her zwischen dem Schwellisee und dem höheren Älplisee, in dem sich alles spiegelt.

Ich erinnere mich bis heute, dass mich das Pathos dieser Worte so gar nicht störte.

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