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Ich bin mehr als meine Fluchtgeschichte
Symbolbild. Bild: Unsplash/@kommumikation.

Ich bin mehr als meine Fluchtgeschichte

Die Postmodernen machen persönliche Identität und Gefühle zur letzten Instanz der Wahrheitsfindung. Damit geht die gemeinsame Gesprächsbasis verloren.

Regelmässig erreichen mich Anfragen von Redaktionen: Ob ich nicht über meine «Fluchtgeschichte» schreiben möchte, über meine «ehemalige muslimische Identität». Dabei lebe ich seit über einem Jahrzehnt in der Schweiz, bin vollwertiger Bürger, Vater zweier Schweizer Kinder. Doch für viele bleibe ich der «Flüchtling», reduziert auf einen winzigen Ausschnitt meiner Biografie, der mich definieren soll. Auf ewig?

«Es gibt keine Tatsachen, nur Interpretationen», sagte Nietzsche, und die Postmoderne hat diesen Satz zu ihrem Mantra gemacht. Was als philosophische Kritik an absoluten Wahrheitsansprüchen begann, ist zu einer Legitimation individueller Beliebigkeit verkommen.

Atomisierte Wahrheit

In diesem intellektuellen Vakuum wird das Individuum zum alleinigen Massstab erhoben. Wer bestimmt, was wahr ist? Das Ich. Wer entscheidet, was Diskriminierung ist? Das sich diskriminiert fühlende Subjekt. Wer definiert Realität? Die persönliche Erfahrung. Es ist die ultimative Atomisierung der Wahrheit, ihre Auflösung in Milliarden individueller «Wahrheiten», die alle gleichermassen gültig sein sollen.

Nehmen wir das Beispiel Rassismus: Aus einem konkret fassbaren Phänomen ist ein quasireligiöses Konzept geworden. Dieser neue Rassismusbegriff ist allgegenwärtig, systemisch, in jeder Pore der Gesellschaft präsent. Der entscheidende Unterschied: Seine Existenz muss nicht mehr bewiesen werden. Es reicht, wenn die selbsternannten Opfer ihn «fühlen».

Dank Michel Foucault wissen wir, dass Wissen und Macht untrennbar verbunden sind. Doch die postmoderne Interpretation des Gedankens führt zur absurden Schlussfolgerung, dass jeder Versuch, objektive Kriterien zu etablieren, per se ein Akt der Unterdrückung sei. So wird wissenschaftliche Methodik zum «westlichen Konstrukt» erklärt, logische Argumentation als «patriarchal» gebrandmarkt und die Forderung nach Beweisen als «Mikroaggression» diffamiert.

In dieser bizarren Verkehrung wird das Ich zur letzten Instanz der Wahrheitsfindung: Die postmoderne Dekonstruktion aller Massstäbe hinterlässt ein erkenntnistheoretisches Trümmerfeld, auf dem nur noch das Ich thront. Jeder Versuch, überindividuelle Kriterien anzulegen, wird als Übergriff auf die «gelebte Erfahrung» zurückgewiesen.

Es ist mehr als nur ein akademisches Problem. Wenn jede subjektive Wahrnehmung gleichwertig ist, wenn jedes individuelle Gefühl zum obersten Richter wird, dann wird gesellschaftlicher Dialog unmöglich. Wie sollen wir uns verständigen, wenn jeder in seiner eigenen Realität lebt? Wie sollen wir gemeinsame Probleme lösen, wenn bereits die Existenz dieser Probleme eine Frage persönlicher Interpretation ist?

«Wenn jede subjektive Wahrnehmung gleichwertig ist, wenn jedes

individuelle Gefühl zum obersten Richter wird, dann wird

gesellschaftlicher Dialog unmöglich.»

Tyrannei der Befindlichkeit

Ich weigere mich, an diesem Spiel teilzunehmen. Wenn ich gehört werden will, dann aufgrund der Qualität meiner Argumente, nicht wegen einer vermeintlich authentischen «Opfererfahrung». Wenn ich über gesellschaftliche Probleme spreche, dann auf Basis nachprüfbarer Fakten, nicht aufgrund subjektiver Empfindungen. Ich bin mehr als meine «Fluchtgeschichte».

Doch selbst in meiner Verweigerung der Ich-Zentrierung bleibt das Ich paradoxerweise präsent. Die Identität bleibt: Es scheint unmöglich, diesem Ich zu entkommen, und es wäre fatal, das Ich eliminieren zu wollen. Denn das Ich ist der unverzichtbare Garant individueller Freiheit, eine der bedeutendsten Errungenschaften westlicher Kultur. Überall, wo das Ich kaschiert oder unterdrückt wird – sei es in totalitären Regimen oder kollektivistischen Gesellschaften –, gibt es keine Freiheit, sondern nur Unterordnung und Uniformität.

Deshalb ist die Unterscheidung zentral: Ich wehre mich nicht gegen das Ich des «Leben und leben lassen», dieses essenzielle Fundament einer freien Gesellschaft. Doch ich stelle mich gegen die Verabsolutierung des Ichs als alleiniger Massstab, die Erhebung des subjektiven Gefühls zum obersten Richter. Denn diese Tyrannei individueller Befindlichkeit ist nicht wie oft behauptet der Triumph der individuellen Freiheit, sondern deren Ende.

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