Hungersnot
Ein kleiner Junge hockt in einer Plastikwanne und blickt zu seiner Mutter hinauf. Winzige Wasserperlen glitzern auf seinem ausgezehrten Körper. Unter der Haut zeichnet sich das Knochengerippe ab, an Armen und Achseln ist die Haut faltig wie bei einem Greis. Der Mund ist leicht geöffnet, voller Erwartung schauen die wachen Augen aus den dunklen Höhlen. Kaum scheint […]
Viele Kinder, die nach dem mehrtägigen Hungermarsch in dem kenianischen Flüchtlingslager Dadaab ankamen, überlebten die ersten Tage nicht. Sie waren so erschöpft und abgemagert, dass auch Infusionen in dem provisorischen Spital sie nicht mehr retten konnten. Tausende starben bereits unterwegs. Manche Frauen schnürten sich mit Stricken den Bauch ein, um den eigenen Hungerimpuls zu dämpfen und ihren Kindern nichts vom Mund zu rauben. Als grösste humanitäre Katastrophe der letzten Jahrzehnte hat man die Notlage am Horn von Afrika bezeichnet.
Allein im überfüllten Lager Dadaab sind rund 400 000 Hungerflüchtlinge zusammengepfercht. Mit der üblichen Verspätung wurde die Weltöffentlichkeit auf das Massenelend aufmerksam, nicht zuletzt durch das anrührende Photo des jungen Aden Salaad. Gewiss ist es unerheblich, was Zeitgenossen zur Hilfeleistung veranlasst, ob ein lautstarker Appell oder ein beschwörendes Bild, ob ein Anflug von Schuld, Mitleid, Freigebigkeit oder Nächstenliebe. Entscheidend ist zuletzt die Hilfstat, nicht Motiv oder Gesinnung. Gleichwohl spricht das Photo weniger von den Schrecken der Hungersnot als von einer Ästhetik des Elends, welche die kollektive Sehnsucht nach Abwehr und moralischem Sentiment bedient.
Der Hunger ist jung, schwarz und fern. Die gängigen Elendsbilder sorgen für sicheren Abstand. Sie übermitteln Nachrichten aus einer anderen Welt, und oft sind Notbilder die einzigen Nachrichten aus dem Kontinent der Finsternis. Gleichgültigkeit und episodisches Mitleid sind die verbreitetsten Reaktionen unter den europäischen Zuschauern. Erschrecken, Empörung oder gar Einsicht halten sich in Grenzen. Denn so grausam einige Bilder erscheinen, der Anblick tödlichen Elends wird stets gemildert durch Signale subkutaner Beschwichtigung.
Noch unter widrigsten Umständen scheint die Menschlichkeit der Spezies unauslöschbar. Eine Mutter badet ihr ausgehungertes Kind, Eltern legen einen sorgsam verhüllten Leichnam ins Grab, ein abgemagertes Skelett streichelt tröstend eine andere Todesgestalt. Besondere Ergriffenheit lösen regelmässig wohlvertraute Schlüsselreize aus: ein grosser Kopf mit gewölbter Stirn, Kulleraugen, kleiner Nase, rundlichen Wangen und zierlichem Kinn. Wer daraufhin das bedürftige Wesen schützt und versorgt, kann des warmen Wohlgefühls der moralischen Selbstbelohnung sicher sein.
Die Ikonographie der Not verwandelt das leidende Kind in den Botschafter des eigenen Elends, und sie verschafft dem fernen Betrachter jenen zweifelhaften Anhauch von Erhabenheit, die sich selbst in Sicherheit und moralischer Betroffenheit weiss. Von der trostlosen Wahrheit des Hungers muss der gerührte Betrachter nichts bemerken. Die Körper am Wegesrand, die Fratzen des Todes bleiben ihm erspart.