«Hugo was here»
Hugo Loetscher: «War meine Zeit meine Zeit». Zürich: Diogenes, 2009.
Etwas trocken war eine «intellektuelle Autobiographie» angekündigt worden; aber der Leser, zumal einer, der Loetschers Bücher kannte, wusste, dass kein Papier rascheln würde und freute sich auf Leseschmaus, auf Loetscher-Geschichten: unterhaltsame, kluge, poetische, geistsprühende – vorläufige – Lebenserinnerungen eines geographisch und intellektuell in alle Richtungen reisenden Autors.
Loetschers Tod kurz vor Erscheinen des Buches verschiebt die Perspektive auf die Lektüre; nun ist die Lebensbilanz endgültig, beginnend mit dem Bekenntnis: «Wie alle, bin ich ungefragt auf die Welt gekommen. Ich gehöre zu denen, die versuchten, daraus etwas zu machen.» Mit Bekenntnissen, unerwartet persönlichen, kennzeichnet er die Marksteine seines Lebens; sie sind der rote Faden, der das Buch durchzieht und es strukturiert. Der Bub, von seiner Mutter zu etwas «Besserem» bestimmt, «musste etwas bieten, was die anderen nicht hatten… – zum Beispiel ein Buch mehr gelesen haben: aus Mitschülern, die nicht wollten, dass ich dazugehöre, solche machen, die ihrerseits nicht dazugehören.»
Es war das «nie ganz Dazugehören», das aus ihm den Intellektuellen machte mit geschärftem Blick für das, was sonstwo und sonstwie nicht dazugehörte; das ihn zu seinen Reisen trieb, von denen er erzählt, um letztlich zu analysieren – etwa die neue Kolonialisierung, wenn er die Aussteiger aus der Zivilisation des Westens in den Blick nimmt, die in «billigen» Ländern «preiswert» leben und sich dort chic in ihren verschlissenen Jeans und löchrigen T-Shirts barfuss zwischen die Minenarbeiter in Lumpenkleidern begeben.
Überraschend freimütig bekennt sich Loetscher zu seiner Homosexualität, erzählt immer wieder von seinen Liebesbeziehungen zu Männern, seine Gefühle ironisch brechend: Einen unbehauenen Sarkophag, den er irgendwo hinter einem Pinienhain zwischen einem Hühnerstall und einem Geräteschuppen entdeckt, widmet er dem unbekannten Freundespaar, zwei Männern, die sich umarmen.
Als Selbsterfahrung ist dies alles zu lesen. Da hat sich einer geradezu zwanghaft immer wieder zu Reisen aufgemacht, um «im Bereich des Möglichen das Menschen-Mögliche aufzuspüren». Jemand hat kürzlich gezählt: Loetscher ist mehr gereist als alle Schweizer Schriftsteller zusammen. Dass ihm das Reisen schliesslich zur Qual wurde und Zurückkommen Erleichterung bedeutete, auch das bekennt er: «In späteren Zeiten eine Rückkehr, bei der ich hinter der Haustür den Koffer zum Teil auspackte, damit das Gepäckstück fürs Treppensteigen leichter wurde.» Wer könnte sein Aufatmen beim Benutzen seiner eigenen Schlüssel – endlich wieder einer für die Haustür, einer für die Wohnungstür und ein kleiner für den Briefkasten – statt der «Plastic-Schlüssel-Cards» nicht nachfühlen.
«Ich habe meine Religion verloren, ich habe keinen Himmel, ich habe kein Nachher. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als diese Welt gernzuhaben.» Wie gern er diese Welt hatte, bezeugen seine Lebensgeschichten, auch wenn – oder gerade weil – sie konzentrisch um den Tod kreisen. So wünschte er sich, dass seiner Asche ein Buch mitgegeben werde, am liebsten eines der Wörterbücher, die er sammelte. Oder, für den Fall, dass er begraben würde, wünschte er sich ein Steinmännchen, wie er selbst immer gern welche gesetzt und auf seinen Reisen in menschenleeren Gegenden entdeckt hatte – als Zeichen, dass doch ein Mensch da gewesen sei. Sein letztes – so stellte er sich vor – könnte eine Art Stele sein, «darauf Jahreszahlen, die über den informieren, der für die Dauer seiner Verwesung ungefragt auf einem Friedhof Platz beansprucht: ‹Hugo was here.›»
Und weil Hoffnung besteht, dass ein Buch immer noch ein Gütezeichen ist und man sich nicht entschuldigen muss, ein Buch gelesen zu haben, lesen wir nun Hugo Loetschers Bücher wieder, insbesondere dieses, das von demjenigen erzählt, der immer eines mehr gelesen hat.
vorgestellt von Ute Kröger, Kilchberg