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Homo caritas est

Vom Glück der Erreichbarkeit

In Allschwil ist kürzlich ein Toter gefunden worden, der rund anderthalb Jahre so in seiner Wohnung gelegen haben soll. Etwa zur gleichen Zeit lag in meinem Briefkasten ein schönes, instruktives Buch mit dem Titel «Das Glück der Unerreichbarkeit» von Miriam Meckel. Das mit dem Zusatz «Wege aus der Kommunikationsfalle» versehene Buch der St. Galler Professorin handelt vom auf den ersten Blick eher sonderbaren Glück, unerreichbar zu sein.

Miriam Meckel ist nämlich über etwas glücklich, worüber andere todunglücklich sind. Den Allschwiler Tod hätte man durchaus mit der Schlagzeile «Das Pech der Unerreichbarkeit» versehen können. Den Toten wollte niemand erreichen. Keine Familie, keine Freunde, nicht einmal ein Amt. Er hat nicht die Austaste betätigt und ist auch nicht in ein Funkloch geflüchtet, sondern in ein solches gestürzt und darin elendiglich gestorben.

Insofern entbehrt der Titel «Das Glück der Unerreichbarkeit» nicht einer makabren Ironie. Während die digitale Boheme funkt und simst, kämpft der Grossteil der Welt und ein kleinerer Teil bei uns um das Gegenteil: um Anschluss und Erreichbarkeit. Und während die gesellschaftliche Elite vom Glück des Alleinseins mit sich träumt, will der Rest der Gesellschaft zusammensein.

Erreichbar zu sein heisst indes noch nicht, gefragt zu sein. Wer einen Briefkasten besitzt, erhält nicht automatisch Post. Auch hundert Antennen nutzen nichts, wenn sich niemand meldet. Erreichbar war der arme Mann aus Allschwil wohl schon, aber nicht gefragt. Gefragt zu sein, beruht auf einer Auszeichnung. Manchmal lässt sich das Gefragtsein durch lautes Reden, positives Denken, Paktieren mit den Mächtigen oder Ohnmächtigen forcieren. Gefragt sind auch Exzesse, Reichtum, Über- und Unterdurchschnittliches.

Aber auch das Gefragtsein, das sich an endlosen Anfragen und Anschreiben ablesen lässt, mästet zwar das Ego, heisst aber noch nicht, in einer Gesellschaft zu Hause zu sein. Freunde zu haben und geliebt zu sein, steht in keiner Korrelation zur Erreichbarkeit und nur in einer lockeren zum Gefragtsein. Glückverheissend ist es, erreichbar, gefragt und geliebt zugleich zu sein. Schön oder reich zu sein, genügt nicht. Und es braucht mehr als Briefkästen, Telefone, Internet-Anschlüsse, Handys und Blackberrys. Ganz undenkbar ist es, dass ein Buch mit dem Titel «Das Glück des Ungeliebtseins» Furore machen würde.

Zu einem Kassenschlager würde aber eine Anleitung zum Geliebtwerden. Kassenschlager, weil, wie bei allen Kassenschlagern, alles darin stünde, was man eigentlich schon immer wusste. Eine Mischung von Pater Grün und Hape Kerkeling. Mit Sätzen wie «Alles ist möglich, wenn es auf Liebe gegründet ist…», die irgendwie ganz wahr, aber auch beschämend sind.

Den Menschen wachsen mit zunehmender Autonomie auch neue Kältezonen entgegen. Frank Schirrmacher, «FAZ»-Herausgeber und Beziehungsprophet, hört täglich die sozialen Netzwerke reissen. Ein wachsendes Beziehungsproletariat bevölkert nicht nur die Katakomben der Gesellschaft, die Einzimmer- und Einliegerwohnungen, sondern auch Luxusflats und Beletagen. Zu viele Menschen leben allein, sterben allein und werden allein begraben. Das ist keineswegs nur eine Folge erhöhter Mobilität und zerstückelter Familien, sondern Ergebnis übertriebenen Selbstbezugs und von Beziehungsfaulheit. Geliebtsein ist nicht gegeben, sondern aufgegeben.

Insofern alle wissen, was zu tun ist, wäre es auch fraglich, Heizrohre durch den Staat verlegen zu lassen, um vermehrt zwischenmenschliche Wärme zu erzeugen. Und Neosozialismus statt Neoliberalismus, Menschenfreundlichkeit statt Wirtschaftsfreundlichkeit und den Staat als Vater und Mutter zu propagieren.

Vielmehr gibt es Dinge, für die der Einzelne verantwortlich ist. Seine Erreichbarkeit zu ermöglichen, mag Aufgabe der öffentlichen Hand sein. Gefragt zu sein und auf Bestenlisten zu erscheinen, verlangt – neben beinharter Arbeit am eigenen Ich – Glück, einen Lottotreffer oder ein geerbtes Hotel. Geliebt zu sein, braucht mehr. Man hat zu begreifen, dass Autonomie und Freiheit nicht nur Selbstgesetzgebung und Selbstdisziplin erfordern. Erzeugt werden muss auch Freundschaft, Zuneigung, Liebe. Nicht nur Deus, wie es in der ersten Enzyklika von Papst Benedikt heisst, sondern homo caritas est.

Erreichbar zu sein, bedarf es wenig. Auch wer es schafft, nachgefragt zu werden, kann sich keineswegs sicher wähnen, nicht eines Tages in einem Funkloch zu verschwinden und wie der arme Mann von Allschwil nicht mehr herauszufinden. Ihn hat niemand vermisst. Und vermutlich niemand, vielleicht niemand mehr geliebt. Es geschah ihm als Unglück, was Miriam Meckel, einem strahlenden Mitglied der digitalen Boheme, als Glück erscheint.

Peter Gross, geboren 1941, ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität St. Gallen. Zu seinen Büchern zählen: «Die Multi­optionsgesellschaft» (1994) und «Jenseits der Erlösung» (2007).

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