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Hohe Renten bei tiefen Renditen – das geht nicht mehr auf

Die berufliche Vorsorge ist abhängig von politischen Vorgaben und der Realität an den Finanzmärkten. Im derzeitigen Tiefstzinsumfeld wird das zum Dilemma.

 

Unser ganzes Altersvorsorgesystem ist so konzipiert, dass es nur mit Wachstum problemlos funktioniert. Bei der ersten Säule ist das offensichtlich. Ohne Wachstum wird die Wirtschaft einkommensmässig zu einem Nullsummenspiel. Höhere Rentenzahlungen können dann nur finanziert werden, wenn gleichzeitig das verfügbare Einkommen der arbeitenden Bevölkerung schrumpft. Es müsste dann ein stets höherer Anteil des Einkommens für die Finanzierung der AHV aufgebracht werden. Dieses Problem liesse sich zwar eine Zeitlang dadurch mildern, dass man das Rentenalter erhöht, aber das macht das Wachstum nur temporär entbehrlich.

Auch die Finanzierung der zweiten Säule wird ohne Wachstum zum Problem. Ohne Wachstum sinken die Renditen an den Finanzmärkten und auf den Immobilienmärkten, was unweigerlich zu tieferen Umwandlungssätzen führt. Zukünftige Gewinnerwartungen, welche die Börsenkurse bestimmen, sind genauso an das Wachstum gekoppelt wie der Immobilienmarkt, wo man nur zu immer höheren Preisen verkaufen kann, wenn die zukünftigen Einkommen weiter steigen werden. Und höhere Zinsen kann nur eine wachsende Wirtschaft auf Dauer ermöglichen.

Im Moment sind hohe Zinsen allerdings kein Thema, weil wir seit der jüngsten Finanzkrise 2009 in einem geldpolitischen Sondersetting leben, wo wichtige Zinsen nahe bei null oder sogar unter null liegen. Unter diesen Bedingungen können selbst höhere Wachstumsraten nicht zu höheren Zinsen führen, weil die wichtigen Zentralbanken den Zinssatz künstlich tief halten. Das führt in der zweiten Säule zu Finanzierungsproblemen, die wir hier etwas genauer unter die Lupe nehmen wollen.

Politisch bedingte Deckungslücken

Als separate Rechtsträger zumeist in Form einer Stiftung sorgen die Vorsorgeeinrichtungen für die obligatorische (gesetzlich vorgeschriebene) sowie freiwillige überobligatorische betriebliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG) für circa 4,25 Millionen aktive Versicherte und 1,2 Millionen Rentner. Sie verwalten gegenwärtig Vorsorgegelder von gesamthaft rund 1,1 Billionen Franken. Knapp die Hälfte der aktiv Versicherten mit etwa einem Fünftel aller Vorsorgegelder und ein Viertel der Rentner unterstehen dabei der Aufsicht durch die Finanzmarktaufsicht (Finma), welche private Lebensversicherer als Gründer beziehungsweise Rückversicherer der BVG-Stiftungen beaufsichtigt. Die restlichen Destinatäre sind in firmeneigenen oder Sammelstiftungen sowie Einrichtungen öffentlicher Körperschaften versichert, welche alle letztlich der Oberaufsichtskommission (OAK BV) unterstellt sind.

Der BVG-Mindestzins wird jährlich vom Bundesrat festgelegt. Das gesetzlich vorgegebene (minimale) BVG-Altersguthaben muss mit diesem Mindestzins (2020 mit 1 Prozent) verzinst werden. Dem Entscheid voraus geht eine (nicht bindende) Empfehlung der BVG-Kommission, welche aus Arbeitnehmer-, Arbeitgeber-, Pensionskassen- und politischen Vertretern zusammengesetzt ist.

Eine weitere (implizite) Vorgabe eines Zinssatzes ist durch Art. 14 Abs. 2 BVG und die Höhe des BVG-Umwandlungssatzes (zurzeit 6,8 Prozent) gegeben. Da der Umwandlungssatz vorgibt, wie viel Rente eine Person mit einem bestimmten Altersguthaben lebenslang erhält und wie hoch eine allfällige Ehegatten- oder Partnerrente sein wird, macht diese Grösse Annahmen bezüglich der angenommenen zukünftigen Lebenserwartung sowie der auf dem gesparten Geld über diese Zeitdauer im Durchschnitt zu erzielenden Anlageerträge und damit der Verzinsung der jeweils noch verbliebenen Sparguthaben (technisch: der Deckungskapitalien). Gemäss den heute üblicherweise verwendeten technischen Grundlagen für die immer noch steigende Lebenserwartung impliziert die im Gesetz festgeschriebene Höhe des BVG-Umwandlungssatzes einen Zinssatz von fast 5 Prozent. Dieser müsste jedes Jahr im Durchschnitt auf den Deckungskapitalien gutgeschrieben werden. Da dies momentan völlig unrealistisch ist, treten gewaltige Deckungslücken auf, welche durch Minderverzinsung auf überobligatorischen Sparguthaben und/oder durch überschüssige Risikogewinne querfinanziert werden. Dies bedeutet insbesondere, dass die Jüngeren (Aktiven) für die Älteren (Rentenempfänger) auf grosse Zinsgutschiften verzichten und zukünftig wahrscheinlich auch noch mit geringeren Umwandlungssätzen rechnen müssen. Eine beträchtliche Generationenungleichbehandlung, welche sich gemäss Schätzungen der OAK BV auf jährlich rund 7 Milliarden Franken beläuft. Diese 7 Milliarden hätten den Altersguthaben der Aktiven pro Jahr gutgeschrieben werden können (also zu einer höheren Verzinsung der Altersguthaben geführt), müssen aber stattdessen verwendet werden, um den hohen Umwandlungssatz bei den Renten weiterhin zu garantieren. Bei tieferen Zinsen erhöhen sich die Rückstellungen, die eine Pensionskasse für eine gesprochene Rente vornehmen muss. Demzufolge muss der Umwandlungssatz (selbst ohne Zunahme der Lebenserwartung) bei gleichen zur Verfügung stehenden Altersguthaben bei Rentenbeginn mit tieferen Zinsen ebenfalls sinken.1 Das gleiche zur Verfügung stehende Geld (hier das Altersguthaben bei Rentenbeginn) reicht sonst nicht aus. Ein «risikoloser» Zins von gegenwärtig etwa 0 Prozent würde zu einem (technisch korrekten) Umwandlungssatz von unter 4 Prozent führen. Das ist politisch aber kaum durchsetzbar.

Tiefe Aktienquote

Eine weitere indirekte «staatliche» Vorgabe des Zinsniveaus in der zweiten Säule kommt von den jeweiligen Aufsichten der Versicherungssammelstiftungen (Finma) beziehungsweise der halb- und vollautonomen Stiftungen sowie der Einrichtungen öffentlicher Körperschaften (OAK BV). Die Finma hat im momentan gültigen Rundschreiben 2018/4 (Tarifierung berufliche Vorsorge) sowohl die Höhe der Umwandlungssätze (auf den überobligatorischen Altersguthaben) als auch die technischen Zinssätze für die Barwerte in den Risikotarifen prinzipienorientiert vorgegeben. Damit ergeben sich in der Praxis ab 2022 überobligatorische Umwandlungssätze von circa 4,5 Prozent und technische Zinsen für Risikotarife von 0,5 Prozent.

Die OAK BV dagegen hält nichts von allgemeingültigen Vorgaben und hat daher die Fachrichtlinie der Kammer der Pensionsversicherungsexperten zum technischen Zins für allgemein (für alle Pensionsversicherungsexperten) verbindlich erklärt. Damit muss jede (halb)autonome Pensionskasse je nach Risikostruktur (Anteil Rentner, Durchschnittsalter der Aktiven, Deckungsgrad, Wertschwankungsreserve, …) einen separaten technischen Zins auf Empfehlung des Pensionsversicherungsexperten festlegen. In der Praxis liegt dieser zurzeit um die 2 Prozent und damit weit über dem Zinsniveau, das die Finma noch zulassen würde. Der Vorteil der (halb)autonomen Pensionskassen gegenüber den sogenannten Vollversicherungslösungen der Versicherer (also inklusive Abdeckung der Finanzmarkt- und Langlebigkeitsrisiken) ist der, dass sie theoretisch in Unterdeckung gelangen dürfen und somit in risikoreichere Anlagen investieren dürfen. So ist es beispielsweise für die Vollversicherer aus Solvenzgründen (Risikokapital muss gemäss dem Schweizer Solvenztest SST risikoadäquat letztlich vom Aktionär hinterlegt werden) nicht sehr attraktiv, eine hohe Aktienquote aufzuweisen. In der Regel liegen die BVG-Vollversicherer im BVG-Anlagebereich zwischen 5 und 10 Prozent Aktienanteil. Die der OAK BV unterstellten Pensionskassen weisen in der Praxis dagegen meist einen Aktienanteil zwischen 20 und 40 Prozent aus. Ein ähnlich grosser Unterschied (aus dem gleichen Grund) besteht beim Anteil der Investitionen in Immobilien. Daher ist das heute von nur noch fünf Versicherern angebotene Vollversicherungsmodell unattraktiv geworden. Unter der Annahme, dass das Tiefzinsniveau mittelfristig anhält und die Rahmenbedingungen bezüglich Politik und Aufsicht nicht kurzfristig an realistische Ziele angepasst werden, ist die Vollversicherung ökonomisch nicht mehr finanzierbar.

Halb- und vollautonome Pensionskassen sind in einer etwas besseren, aber dennoch sehr angespannten Lage. Sie können zum einen viel risikoreicher auch in Wachstumsmärkten (inklusive Währungsrisiken) sowie in renditestärkeren Anlagekategorien (z.B. Immobilien, Aktien) anlegen. Zum anderen können sie ihre Leistungsziele mit einem Ausbau im überobligatorischen Bereich gesamthaft realistischer gestalten, etwa durch tiefere umhüllende Umwandlungssätze. Dies ist möglich, da, sofern immer noch die gesetzliche Minimalrente übertroffen wird, kein Konflikt mit den BVG- oder Aufsichtsvorgaben besteht. Der Preis für diese Anpassungen ist eine deutlich erhöhte Risikodisposition einerseits und eine indirekte Leistungssenkung andererseits. Zudem gibt es ein erhöhtes Risiko von Asset-Bubbles, da viele Anleger aus Renditenot in ähnliche Anlagekategorien drängen.

Pensionskassen stürmen den Immobilienmarkt

Die Probleme der zweiten Säule betreffen somit nicht nur unmittelbar die Versicherten, sondern es ergeben sich auch unerwünschte Nebenwirkungen, vor allem auf dem Immobilienmarkt. Auf ihrer Suche nach weiterhin hohen Renditen ohne allzu grosses Risiko sind Pensionskassen vor allem dort fündig geworden. Investitionen in Immobilien erfreuen sich immer grösserer Beliebtheit und machen heute gemäss Bundesamt für Statistik über 20 Prozent der Aktiven von Vorsorgeeinrichtungen aus. Die niedrigen Zinsen treiben Pensionskassen dazu, ­ihren Anteil an festverzinslichen Obligationen zu verringern und das Geld in vermeintlich wesentlich attraktivere Immo­bilien zu stecken. Dabei liegt der Fokus klar auf inländischen Immobilien, in die nicht nur direkt, sondern auch indirekt über Anlagestiftungen oder Immobilienfonds investiert wird.

Dieses starke Engagement auf dem Immobilienmarkt hat den Pensionskassen bis vor kurzem tatsächlich relativ stabile und relativ hohe Renditen beschert. Es hat aber die Preise in die Höhe getrieben, so dass diese heute in verschiedenen Regionen (Zürich, Zentralschweiz, Basel, Lausanne) vor allem bei Renditeliegenschaften als überhöht gelten. Mittlerweile erhöhen sich die Leerstände bei Mehrfamilienhäusern, und sinkende Mieten verhindern Preisanstiege. Bei Bürogebäuden ist die Luft sowieso draussen, da man auch nach der Coronakrise verstärkt im Homeoffice arbeiten wird. Mit ihren hohen Investitionen in Immobilien haben Pensionskassen somit zur möglichen Bildung von spekulativen Blasen beigetragen. Gleichzeitig ergeben sich unerwünschte Effekte auf die Gesellschaft, da Mieten an neu­ralgischen Standorten kaum mehr erschwinglich sind. Und die von Renditedenken getriebene Architektur vieler Rendite­objekte hat das Stadtbild nicht immer positiv verändert.

Umlageverfahren birgt neue Probleme

Wäre aufgrund der erwähnten Probleme ein Übergang zu einem Umlageverfahren wie bei der ersten Säule sinnvoll? Die Antwort lautet eindeutig: Nein. Ohne massive (und politisch nicht unbedingt gewollte) Zuwanderung sind die Rahmenbedingungen für ein umlagefinanziertes Rentensystem nur dann sinnvoll, wenn das Rentenalter entsprechend der Zunahme der Lebenserwartung angepasst würde. Da die Lebenserwartung in der jüngeren Vergangenheit um etwa ein Jahr pro Jahrzehnt gewachsen ist, müsste man hier (auch unter Berücksichtigung der zukünftigen Zunahme) realistischerweise ein Alter um die 70 Jahre anstreben. Auch dies ist momentan politisch undenkbar. Ein weiteres Argument für eine kapitalgedeckte zweite Säule kommt aus der Risikosicht. Da die erste Säule schon umlagefinanziert ist (mit den entsprechenden, oben angesprochenen Problemen, insbesondere nach dem Eintritt der Babyboomer-Generation ins Pensionsalter ab Ende der 2020er Jahre), ist es sinnvoll, dass die zweite Säule mit einem individuellen kapitalgedeckten System anders auf die zukünftigen Herausforderungen reagieren kann. Die seit Jahren diskutierten Pro­bleme der zweiten Säule kommen gerade daher, dass immer mehr Umlagekomponenten (insbesondere von jung zu alt)
eingeführt werden müssen, obwohl dies eigentlich systemfremd ist. Letztlich spricht auch ein weiteres Argument gegen eine Umlagelösung für die zweite Säule: Der Einbezug und die Verantwortung der Arbeitgeber würden stark abnehmen. Im heutigen System ist es immer noch oft der Arbeitgeber, der als einziger die Finanzierung von Sozialplänen bei Restrukturierungen oder Abbauplänen inklusive vorgezogener Pensionierungen gewährleisten kann.

Anpassung an die neue Realität

Die Politik kann aber mit anderen Massnahmen dafür sorgen, dass die äusseren Rahmenbedingungen der momentanen Situation angepasst werden und die zweite Säule wieder die notwendige Stabilität und Zukunftsfähigkeit erhält. Mittelfristig werden wir um eine Erhöhung des Rentenalters (auch unter Einbezug der Situation der ersten Säule) nicht herumkommen. Auch braucht es eine Entpolitisierung des BVG-Umwandlungssatzes und des BVG-Minimalzinssatzes. Ziel muss hier eine Beschränkung des Gesetzgebers auf ein realistisches Leistungsziel (beispielsweise eine Lohnersatzquote) und nicht eine Festlegung von Parametern der zweiten Säule sein. Solidaritäten bei Versicherungskollektiven (inklusive Pensionskassen) sollten über die gleiche Versicherungsperiode, zumeist ein Jahr, bestehen (also Versicherungsrisiken diversifizieren) und nicht wie heute über Generationen. Genau dies macht den Unterschied zur ersten Säule aus.

Ebenfalls wünschenswert ist eine Anpassung der Aufsichtspraxis. So ist es Vollversicherern momentan nicht erlaubt, eine separate Prämie für erwartete Verrentungskosten zu erheben; die Auffangeinrichtung BVG darf und praktiziert dies schon seit Jahren für BVG-Minimalpläne. Eine solche aufsichtsrechtliche Ungleichbehandlung von Stiftungen in der zweiten Säule ist störend und in diesem Beispiel sogar systemgefährdend, da das momentan grösste solvenzgefährdende Risiko für Vollversicherungen gar nicht in einer Prämie eingepreist werden darf, schon gar nicht von der Aufsicht, die sich ja eigentlich um die genügende Solvenz dieser Einrichtungen sorgen müsste.

Da wir auch in Zukunft mit Wachstum rechnen können, ist die Vorsorge nicht grundsätzlich gefährdet. Aber aufgrund der noch lange andauernden Tiefzinssituation muss sie sich der neuen Realität anpassen. Es braucht höhere Beiträge der aktiven Generation und eine Erhöhung des Rentenalters, um das bisherige Niveau weiter zu finanzieren, oder man muss das Niveau der Renten nach unten anpassen. Andernfalls setzt man den Pensionskassen perverse Anreize, auf Teufel komm raus hohe Renditen zu schaffen, was die Sicherheit der zweiten Säule als Ganzes gefährdet.

  1. Für eine genauere Erläuterung der Zusammenhänge zwischen Zinsen, Lebenserwartung und Umwandlungssätzen verweisen wir auf die ausführ­liche Darstellung in der Machbarkeitsstudie des BFS / BSV von 2014.

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