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«Hochbegabte Kinder müssten ebenso gefördert werden wie lernschwache»
Corinna Hess, fotografiert von Lukas Leuzinger.

«Hochbegabte Kinder müssten ebenso gefördert werden wie lernschwache»

Als Hochbegabte tat sich Corinna Hess schwer mit dem Bildungssystem. Als Primarlehrerin möchte sie helfen, dass Kinder wie sie besser gefördert werden.

Viele Leute seien neidisch auf Hochbegabte, sagt Corinna Hess. «Sie denken, wir könnten alles ohne Aufwand.» Doch für Neid gebe es keinen Grund.

Hess weiss, wovon sie spricht. Sie habe als Kind immer das Gefühl gehabt, irgendwie anders zu sein. «Mit 10 oder 11 Jahren hörte ich im Radio eine Sendung über hochbegabte Kinder. Danach sagte ich meinen Eltern: ‹Ich weiss jetzt, was mit mir los ist.›» Die Eltern liessen sie einen Test machen, der einen IQ von über 130 ergab. Doch als sie den Klassenlehrer informierten, schüttelte dieser den Kopf: «Das kann nicht sein. Ihre Tochter hat zu schlechte Noten, um hochbegabt zu sein.»

Aussagen wie diese zeugen aus Sicht von Hess von einem verbreiteten Missverständnis. «Um gut in der Schule zu sein, braucht es nicht nur Intelligenz und schnelle Auffassungsgabe, sondern auch Disziplin, Motivation und Anpassungsfähigkeit. Viele Hochbegabte haben Mühe damit.»

Durch die Maschen gefallen

Als Hochbegabte aufzuwachsen, sei nicht einfach gewesen, erzählt die heute 41-Jährige. «Ich kam mir in der Schule immer gebremst vor. Ich hatte auch Mühe, Gleichgesinnte zu finden. Die anderen Kinder der Klasse befassten sich mit ganz anderen Themen.»

Eine Rolle spiele auch die Struktur der Schule. «Die Volksschule ist auf die grosse Masse ausgerichtet.» Sie verfolge das Ziel der Inklusion mit dem Lehrplan 21 intensiv. «Trotzdem bedeutet das in vielen Klassenzimmern noch immer, dass ein relativ starrer, vorgegebener Rahmen vorherrscht. Entweder passt man hinein oder nicht.» Wenn man nicht hineinpasse, habe die Lehrperson wenig Ressourcen zur Unterstützung. Hess passte nicht in den Rahmen. Entsprechend war sie auch nicht sonderlich gut. «Irgendwann hat mich die Schule gar nicht mehr interessiert.»

Es war wohl diese Erfahrung, die sie dazu brachte, selber Primarlehrerin zu werden. Derzeit macht sie eine Weiterbildung für Begabtenförderung an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik. Auch hochbegabte Kinder bräuchten Förderung. Man könne sie beispielsweise an eigenen Projekten arbeiten lassen, damit sie ihr Potenzial entfalten könnten. «Aber dazu muss man sie anleiten. Es ist ein Irrtum, zu glauben, sie könnten schon alles, bloss weil sie hochbegabt sind.»

Heute konzentrierten sich die staatlichen Ressourcen überwiegend auf jene am unteren Ende des Leistungsspektrums, sagt Corinna Hess. «Dabei müssten hochbegabte Kinder ebenso gefördert werden wie lernschwache. Sonst liegt ihr Potenzial brach und sie gelangen in eine Abwärtsspirale, aus der sie schwer wieder herauskommen.» Zudem sei Hochbegabung, die professionell unterstützt werde, ein Wirtschaftsfaktor. «Die Gesellschaft hat die Aufgabe, sich um das Phänomen Hochbegabung zu kümmern und es durchaus auch zu ihrem Vorteil zu nutzen.»

Angst, arrogant zu wirken

Um das Potenzial von Hochbegabung ausschöpfen zu können, müsse man aber darüber sprechen. Viele Betroffene trauten sich das nicht, aus Angst, als arrogant wahrgenommen zu werden. Sie erinnert sich an ein Fernsehinterview, das sie gab und das viele negative Reaktionen auslöste. Dennoch finde sie es wichtig, Hochbegabten eine Stimme zu geben. «Man redet heute über alles, was der theoretischen Norm nicht entspricht: Transgender, ADHS, Autismus und so weiter. Warum können wir nicht offen und informiert über hochbegabte Kinder sprechen und thematisieren, was es braucht, um ihnen zu helfen?»

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