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Hoch hinaus

Hoch hinaus

 

«Ihre Henni dagegen, dit sarick Ihn, is zu Höherem jeborn, aus der wird wat», sagt der Feuerwehrmann, als er die 4jährige Henni Binneweis vom Kletterturm wieder auf den sicheren Boden neben ihren Vater Arthur absetzt. Ab diesem Moment ist für Henni klar: Sie will hoch hinaus. Doch einfach hat sie es nicht: 1902 in Berlin geboren, erlebt sie den Ersten Weltkrieg (und damit die Niederlage Deutschlands). Sie überlebt die Hungersnot, verdient sich als «Tänzerin» ihr Geld – «Was soll man in dieser Zeit auch werden?», meint Vater Binneweis resigniert – erlebt die schleichende Inflation und den schleichenden Aufstieg der Nationalsozialisten.

In seinem neuen Roman, an dem er über zehn Jahre gearbeitet hat, erzählt Tim Krohn vom Alltag einer jungen Frau im Berlin des beginnenden 20. Jahrhunderts. Mit Witz und Charme schlägt Henni sich durchs Leben, verbringt die Nächte in Variétés und lässt sich von nichts unterkriegen.

Hennis Leben erinnert an dasjenige anderer literarischer Antihelden: an den Lohnarbeiter Franz Biberkopf aus Döblins «Berlin Alexanderplatz», an den kleinen Angestellten Johannes Pinneberg aus Falladas «Kleiner Mann – was nun?» und insbesondere an die junge Doris aus Keuns «Das kunstseidene Mädchen», die sich wie Henni so sehr ein Leben als Berühmtheit wünscht, sich aber oft nur über Männerbekanntschaften vor dem Hungertod bewahren kann. Und geradezu offensichtlich ist die Anspielung auf die Namensvetterin aus Brechts «Die heilige Johanna der Schlachthöfe» als eine Kämpferin, die mit der Härte der Welt konfrontiert wird – eine Spiegelung zweier Figuren, die sowohl auf Parallelen als auch auf Dissonanzen beruht.

Die Idee des Buchs ist nicht neu, wie auch die Verwendung des spezifischen historischen Settings und die beschriebene soziale, politische und wirtschaftliche Realität des «armen Mannes» in Berlin es nicht sind. Zu kritisieren ist die hin und wieder auftauchende «Berliner Schnauze», sie kommt eher klischiert und überkonstruiert daher. Dennoch ist die Lektüre äusserst lohnenswert: Krohns Figuren und deren Erlebnisse werden mitunter launig, aber immer mit einer gewissen Distanz und Indirektheit beschrieben. Die Kunst dabei: Krohn erzeugt keine Gleichgültigkeit, weder den Figuren noch den historischen Hintergründen gegenüber.

Grossartig sind diejenigen Passagen, die entgegen allen Erwartungen statt Ernsthaftigkeit Humor beweisen und dadurch die Tragik umso deutlicher machen – zum Beispiel, wenn Arthur Binneweis zu den Nudisten übergeht, Sätze sagt wie: «Nackt besehen ist der Arier zweifellos der schönste Mann (…) Und hat die deutsche Frau erst die unverhüllte Gattenwahl, müssen früher oder später zwangsläufig alle niederen Rassen aussterben», und dabei zu vergessen scheint, dass seine eigene Frau Jüdin ist. Oder wenn Henni von der bäuerlichen Hanny das Melken gelehrt bekommt – und sie ihr neuerworbenes Können dann direkt an den Herrschaften im «Tanzhaus» der Frau Köchel unter Beweis stellen kann.

Es wird schnell klar: Der freundliche Feuerwehrmann hat sich geirrt, denn zu Höherem geboren ist Henni wohl nicht. Aus ihr wird keine glänzende Bühnengrösse, sie gelangt nicht zu Ruhm und Reichtum. Ihren «ganz grossen Auftritt» bekommt Henni zum Schluss aber doch noch – wenn auch auf eine etwas andere Art –, so dass den Worten «hoch hinaus» eine ganz neue Bedeutung ­zukommt.


Tim Krohn: Die heilige Henni der Hinterhöfe. Zürich: Kampa, 2020.

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