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Herzliche Glückwünsche zum Geburtstag, lieber Herr Bichsel

Peter Bichsel: «Über Gott und die Welt. Texte zur Religion». Hrsg. Andreas Mauz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2009 (2010)

Um bei diesem Buch ausnahmsweise einmal von hinten zu beginnen: Andreas Mauz hat ihm einen Aufsatz beigegeben, der genau das leistet, was ein Nachwort soll. Er ist kenntnisreich und präzise, hilft das Gelesene besser zu verstehen und führt es weiter. 38 Texte von Peter Bichsel hat der Zürcher Literaturwissenschafter und Theologe ausgewählt und sorgfältig kommentiert. Entstanden sind sie zwischen 1970 und 2007, ein Drittel davon wurde bisher noch nie veröffentlicht oder war nur an entlegenen Orten erschienen. Es handelt sich um Geschichten und Essays, Reden und Predigten, auch das Protokoll einer Diskussion zwischen Bichsel und Dorothee Sölle wurde aufgenommen. Von einem Querschnitt kann man sprechen, werkhistorisch wie werktypologisch betrachtet. Von einem Lesebuch, das zugleich ein in allen Wandlungen erstaunlich konstant gebliebenes Leit- und Lebensthema des Autors kenntlich macht. Insofern stellt es auch eine Einführung in Bichsels Schaffen überhaupt dar.

Am 24. März wird er 75 Jahre alt. Vielleicht erkennt die Jury der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ja einmal doch noch, dass seinem Œuvre rechtens der Georg-Büchner-Preis gebührt. In der Konzentration auf kleine Formen ist dieser uneitle, allem Elitären und Prätentiösen abholde Autor ein Grosser geworden. Bereits mindestens zwei Generationen wurden mit seinen frühen Texten in der Schule literarisch sozialisiert («Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen», 1964; «Kindergeschichten», 1969). Sein schmaler Roman «Cherubin Hammer und Cherubin Hammer» (1999) ist eine Perle deutschsprachiger Prosa der Gegenwart. Und welcher Reichtum verbirgt sich hinter seinen Kolumnen (zuletzt: «Heute kommt Johnson nicht», 2008), die in vier Jahrzehnten zu einem stattlichen Hauptwerk angeschwollen sind! In kunstvoller Einfachheit kreuzen sich hier Alltagsbeobachtung und poetischer Einspruch gegen die Zeitläufte.

Gewiss, manchem mag Bichsel wie der Dino einer engagierten Literatur erscheinen. Einer also, über den die tonangebenden Matadore des Betriebs vielleicht lächeln mögen – und sich damit doch nur selbst blossstellen würden. Bichsel ist ein Fragender, der trotzdem für etwas einsteht. Das wird gerade aus diesem Band exemplarisch sichtbar. An der Würde des Begriffs «Sozialismus» hält er fest, als Anspruch eines Lebens in wechselseitiger Gerechtigkeit und Solidarität. Oder eben jener «Zugehörigkeit», in der für ihn ebensosehr ein Kern christlicher Lehre besteht wie in der Chance, anders werden zu dürfen. Bichsel klopft die Gegenwart darauf hin ab, was sie solcher Sinnerfahrung entgegenzusetzen habe. Die angebotenen Alternativen erscheinen ihm banal: «Wir halten uns alle immer noch alle für viel zu arm und möchten noch reicher werden, und noch reicher werden und noch reicher werden.»

Natürlich arbeitet einer wie er die politischen Implikationen der Botschaft Jesu heraus, ihr Widerstandspotential: «Christ sein in unserer Zeit, das hat mit nein sagen wohl mehr zu tun als mit ja sagen.» Manchmal hat es zwar fast den Anschein, als ob er die vertikale, die metaphysische Dimension des Glaubens unterschätzen würde. Tatsächlich aber wird das Wort von Jesus als einem Sozialphilosophen vielfach ergänzt. Bichsel weiss um die Notwendigkeit von Ritualen, er weiss, dass es dem Christentum zuletzt um die Überwindung des Todes geht, und er hebt hervor, dass gerade diese Verheissung das unselige Sicherheitsbedürfnis der Menschen durchbrechen könnte, worin ohnehin bloss ein Synonym für den Egoismus bestehe, die verweigerte Solidarität.

Womit wir in diesem Band konfrontiert werden, sind Variationen einer Leidenschaft. Bichsel, der Kanzelredner. Bichsel, der – Weihnacht an erster Stelle – immer wieder auf die christlichen Feste zurückkommt. Bichsel, der an den Kern der christlichen Verkündigung erinnert. Bichsel, der wie kein anderer bedeutender Autor deutscher Sprache an Jesus hängt. Ein Horror hingegen ist ihm die zum Ordnungsfaktor gewordene christliche Kirche. Und seiner Schweiz redet er in diesen Texten immer wieder ins Gewissen, von dem er also hofft, dass es noch ansprechbar sei. Ob angesichts einer glaubenslos gewordenen Gesellschaft, der das Christentum nicht einmal mehr zum Kitt der Wohlanständigkeit taugt, solche Appelle nicht zwangsläufig ins Leere laufen, stehe dahin.

Der Protestant Bichsel, seit 2004 veritabler Dr. theol. honoris causa, ist ein religiöser Mensch, der sich seiner Gläubigkeit nicht sicher sein kann. Christsein meint bei ihm weniger eine Gesinnung als eine Haltung im Paradox. Es ist eine Existenzform mehr des Spannungsvollen als des Bestätigenden, Therapeutischen oder Nützlichen. Das bedeutet zugleich: eine angemessene Weise, um darüber zu sprechen, ist der Bichsel-Ton, ein ständiges Hin-und-her-Wenden, das sich selbst von allen Vorbehalten nicht ausnimmt. Auch sein grosses Thema von der existentiellen Notwendigkeit des Erzählens gehört dazu, bei dem es sich um einen vielschichtigen, womöglich gar über sich hinausweisenden Akt handelt. Noch wo er predigt, erzählt dieser Sokrates aus der Beiz, gewissermassen.

Letztlich geht es Bichsel nicht um Slogans, sondern um andere, um postmaterielle Werte. Wir leben, findet er, in einer verkehrten Welt, mundus perversus, mit ihrem obersten Dogma vom immerwährenden Wachstum. So, wie es nicht sein sollte, ist es – und so, wie es sein sollte, wollen wir nicht werden: «Ich möchte nicht hier leben, um reich zu werden und Karriere zu machen und die ganze Welt wirtschaftlich zu beherrschen, sondern um Bücher zu lesen, Geschichten zu hören und Geschichten zu erzählen, mit meinen Freundinnen und Freunden zu lachen.» Ist dies nur hemmungslos naiv?

Immer jedenfalls befindet sich Gott in Bichsels Texten auch mitten in der Welt. Nichts hat mehr mit unserem Leben zu tun, meint der Autor, nichts kann interessanter sein. «Damit das, was hier ist, nicht alles ist.»

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