Herr Riederer und die Wut
Öffentliche Äusserungen von Wut sind dieser Tage allgegenwärtig. Längst dient die inszenierte Rage zur Beglaubigung von Authentizität – und wird so zum allgegenwärtigen Medienereignis. Aber was ist die Wahrheit der Wut? Jens Steiner schustert sich einen Zeitgenossen zusammen und macht sich in dessen Alltag auf die Suche.
«Sein Name sei Riederer. Herr Riederer. Kein Vorname, weil nicht notwendig. In jeder Hinsicht ein Kind unserer Tage. Ja, wir müssen uns Herrn Riederers Zeitgenossenschaft als absolut vorstellen. Man könnte schalkhaft sagen, der Mann sei heutig mit Haut und Haaren. In Wahrheit ist er eine papiergewordene Ausgeburt des Autors dieser Zeilen. Richtig, Herr Riederer ist pure Fiktion und trotzdem durch und durch ernst zu nehmen, weil, wie gesagt, unser aller Zeitgenosse.
Herrn Riederers Leben ist einigermassen kompliziert, dennoch gibt bereits eine Schnellskizze uns ein greifbares Bild davon. Kleinbürgerliche Herkunft, allmählicher Aufstieg bis zur Phase, die, wer will, Midlife nennen darf, seither Stagnation. In beruflicher, pekuniärer, sozialer und amouröser Hinsicht. Was Herrn Riederer nicht gross stört. Man findet mit der Zeit andere Werte beziehungsweise sucht sie noch. Versicherungsjurist bei einer Krankenkasse, hat er sich nach und nach seinen Platz in der internen Weiterbildung erarbeitet. Lohn anständig. Er war zehn Jahre verheiratet, mittlerweile ist er noch länger Single. Als solcher glücklich? Herr Riederer weiss es nicht. Ausgesprochen unglücklich jedenfalls nicht. Und sonst? Vater zweier Kinder, Daniel und Saskia, beide auf gutem Weg, sprich, im allmählichen Aufstieg Richtung Midlife begriffen. Mit seiner Ex-Frau hat Herr Riederer regelmässig Kontakt. Wenn sie sich im Restaurant treffen, kommt er sich vor wie bei einem Geschäftsessen. In der Freizeit Schachclub, Nachhilfe in Rechnen und Standardtänze. Seine Tanzpartnerin steht sonst auf jüngeres Gemüse, will mit den Frischlingen aber nicht aufs Parkett. Um die Skizze abzurunden: Durchaus sich mitten im Leben befindend, scheint es Herrn Riederer zuweilen, als ob es irgendwo eine wahre Mitte gäbe, die nie zu erreichen ist. Was ihn mit milder Melancholie erfüllt. Er gehört, unschwer zu erkennen, zur nachdenklichen Sorte. Allerdings ist er mit der faszinierenden Unfähigkeit geschlagen, seine Gedanken abzurunden, das heisst, sie zu einem befriedigenden Ende zu denken. Überall nur Anfänge und lose Enden. Wobei er meist selbst der Hauptclown dieser Gedankenfäden ist. So auch heute.
Heute. Heute morgen um zwanzig nach zehn, um genau zu sein. Nach der Kaffeepause, die er wegen den vier Minuten Bewegung an der frischen Luft ausser Haus zu absolvieren pflegt, direkt am Zebrastreifen ist es passiert. Er kann nur hoffen, dass kein Kollege und keine Kollegin ihm dabei zugesehen haben. Vor allem nicht Kollegin Goldinger. Aber war seine Reaktion nicht berechtigt? Auf jeden Fall, und das hätte ganz bestimmt auch Kollegin Goldinger so gesehen. Deutlicher kann man seinen Wunsch, die Strasse zu überqueren, nicht anzeigen, findet er. Er hat sogar den Fuss angehoben. Angehoben, aber noch nicht auf die Strasse gestellt. Doch da gibt dieser Autofahrer nicht nur Vollgas, sondern hupt auch noch. Und dann der Finger. Dass Autofahrer den Vortritt von Fussgängern missachten, ist alltäglich. Er selbst hat es auch schon getan, um ehrlich zu sein. Aber dieser Finger. Nein, keine Faust, Herr Riederer hat es ganz deutlich gesehen, es war ein Finger gewesen, und zwar der eine, der fiese, unflätige. Da ist er ausgerastet, hat geflucht, was das Zeug hält, mitten auf der Strasse.
Sekunden später war er bereits wieder verstummt und sein Blick hatte sich betroffen zu Boden gesenkt. Seine Schaltkreise der Scham funktionieren tadellos, was ihn durchaus erleichtert. Doch jetzt, als er beim Abendessen die Szene rekapituliert, über seine Reaktion nachdenkt und wieder einmal versucht, einen Gedanken zu einem befriedigenden Ende zu denken, da beginnt sich die Fussgängerwut des Morgens in der Wut, die er mitunter verspürt, wenn er selber am Steuer sitzt, zu spiegeln. Und diese Spiegelung produziert einen Beigedanken, der augenblicklich alle Pein verdoppelt: Sind wir nicht alle Wutpragmatiker? Anders gedacht: Ist es uns übers Ganze gesehen nicht ein bisschen egal, worauf sich unsere Wut richtet, Hauptsache, es findet sich immer wieder mal ein Ventil, durch das sie sich entladen kann?
Herr Riederer steht auf, räumt den Tisch ab. Er möchte jetzt gerne nochmals das Schachproblem durchgehen, das er morgen im Club erörtern wird, aber die Gedanken über die Wut lassen ihm keine Ruhe. Was ist Wut denn noch wert, wenn ihr jeder Anlass willkommen scheint? Denn einen Wert hat sie doch, als gerechte Wut, als heilige Wut, und er denkt an Paris im Jahr 1789, an Prag 1968, Tunis 2011, diese historischen Augenblicke, in denen Wut gleich Wahrheit war. Muss die Wut vor ihren eigenen Anlässen geschützt werden? Lässt sie sich überhaupt noch retten? Herr Riederer weiss es nicht, denn Herr Riederer schafft es nie, seine Gedanken einem befriedigenden Ende zuzuführen.
Etwas zerknirscht beugt er sich über das Schachproblem, als sein Handy eine Textnachricht meldet. Es ist sein Sohn: «Prfg bestanden! Morn zmittag? Ich lad ein!» Das ist schön, denkt Herr Riederer, das ist wirklich schön, und er meint es auch so. In der Tat kommen ihm manchmal fast die Tränen, wenn seine Kinder sich melden. Es erscheint ihm wie ein Wunder, dass sie offenbar noch immer an ihm hängen. Er tippt: «Gratuliere! 12h Italiener. Freu mich. Gruss, Pa» Dann steht er auf, steckt das Handy in seine Jackentasche, kehrt zum Schachproblem zurück. Er möchte, nein, er muss jetzt wieder zu sich finden. Er will die Wut von heute morgen, die Gegenwut von kurz danach und die Nachwut von eben gerade abschütteln. Schon möglich, dass Wut so etwas wie Wahrheit offenbaren kann, aber Herr Riederer will das jetzt nicht weiterdenken, denn die Gedanken daran haben kein Ende, er will jetzt endlich zu seinem Schachproblem, das zwar auch kein Ende hat, ihm nichtsdestotrotz aber so etwas wie Befriedigung verschafft.
Als Versicherungsjurist weiss Herr Riederer sehr wohl, was man als Papiergeburt von seiner Umwelt erwarten kann. Nicht viel, um ehrlich zu sein. Sein Wunsch, ernst genommen zu werden, ist dennoch ungebrochen. Wir finden, zu Recht, denn das sind wir seiner Zeitgenossenschaft schuldig. Also weiter mit Herrn Riederer. Seinem komplizierten Leben. Dem sanft-ironischen Quälgeist namens Stagnation. Und den Gedanken.
Tagaus, tagein hat er sie, denn so einer ist Herr Riederer nun mal. Dabei hält er sich beileibe für keinen Intellektuellen. Das ewige Herumanalysieren und -deuten in den Zeitungsfeuilletons und den politischen Talkshows erscheint ihm vielmehr wie ein reiner Selbstläufer. Es kommt an den seltenen Abenden vor der Flimmerkiste schon mal vor, dass er zum Schund hinüberzappt und sich ein Weilchen im Panoptikum der Geschmacklosigkeiten umtut. Promis im Urwald, Junggesellen am Strand, TV-Starlets in der TV-Starlet-WG. Er kann sich darüber amüsieren. Bevor das Amüsement in Ekel umschlägt, zappt er zurück.
In diesem Moment ist es die «Tagesschau», in die er gerät. Islamischer Staat, Schlägerei in einem Parlament, Karikaturenstreit, Pegida. Auch hier ein gepfeffertes Panoptikum. Ein Panoptikum der Wut. Kein Anzeichen des Amüsements bei Herrn Riederer. Stattdessen erinnert er sich dieses Artikels, den er kürzlich gelesen hat. Irgendetwas mit Politik als Therapie. Oder war es Staatsbürgertum als Therapie? Nein, das war es nicht. Obwohl … nein! Wutbürgertum im Dienst des Therapeutischen. Genau, das war’s! Erst hat er die Aussage für ein weiteres Beispiel des Diagnosewahns gehalten, dem heute so gerne gefrönt wird und der vielleicht nicht minder im Dienst des Therapeutischen steht, doch dann hat unvermutet der Gedanke von den Wutpragmatikern, den er kürzlich hatte, angeklopft. Sind wir nicht alle Wutpragmatiker? Also auch der Wutbürger? Der Wutbürger ganz speziell? Falls ja, und falls an dieser Idee vom Therapeutischen doch etwas ist, wäre die Wut dem Wutbürger also Mittel zu einem Zweck, der sich Therapie nennt. Therapie, denkt Herr Riederer und stellt die Lautstärke leiser, ist absolut legitim. Als Wunsch, als Verfahren, als Versprechen. Auch er hat sich therapieren lassen. Drei Jahre lang, Woche für Woche eine Stunde auf der Couch. Anders hätte er die Zeit nach der Scheidung nicht überlebt.
Auf dem Bildschirm ein Mann, der eine Parolentafel mit der Aufschrift «Wir lassen uns nicht länger belügen!» in die Höhe hält, daneben ein Paar, Arm in Arm, die freie Faust geballt. Vor ihren Mündern Atemwolken. Es muss sehr kalt sein in Dresden. Wie viele der Pegida-Protestierenden wohl eine Scheidung hinter sich haben? Ein respektloser Gedanke, Herr Riederer weiss das, doch er muss sich nun mal dem Diktat seines Autors beugen. Hat der Autor einen respektlosen Gedanken, hat auch Herr Riederer ihn. Darin besteht seine Unfreiheit. Und vielleicht auch seine Zeitgenossenschaft.
Die drängende Frage jedoch ist: Macht ihre Selbsttherapie die Pegida-Protestierenden freier? Ist Wut, selbst wenn sie als rein pragmatisches Mittel zum Zweck gebraucht wird, ein Instrument zur Freiheit? Herr Riederer weiss es nicht. Noch eine Weile lässt er die Bilder an sich vorbeiziehen, dann schaltet er den Fernseher aus. Er denkt an die Kollegin Goldinger. Es ist kein unangenehmer Gedanke, findet er, und denkt noch ein bisschen länger an sie.
Das Leben, ein immer gleicher Fluss. Heraklit hat unrecht, beschliesst Herr Riederer, als er sich mit seiner Ex-Frau an den Tisch setzt. Dieses neue Vegan-Restaurant ist ihre Idee gewesen. Es sei ihr kürzlich empfohlen worden, übrigens ein absolut unideologisches Projekt, nur falls er sich so seine Gedanken mache. Seine Gedanken macht sich Herr Riederer ohnehin, da braucht sich seine Ex nicht zu kümmern. Im übrigen hat er kein Problem damit, er geht so etwas grundsätzlich ohne Vorbehalte an, schliesslich ist er selber ein absolut unideologisches Projekt. Und so sitzen sie nun beim neuen Veganer, und ja, die Empfehlung war durchaus berechtigt.
Ansonsten das Übliche. Ihre Neigung ins Belehrende, sein Hang zum Stoizismus. Die fatalste Kombination, die man sich für eine Ehe denken kann, das weiss er nicht erst seit der Therapie. Und wie es zu einem Stoiker passt, hat er sich in all den Jahren seinen Stoizismus auch noch zum Vorwurf machen lassen und darauf verzichtet, diesen Vorwurf zu kommentieren. Nein, fataler kann eine eheliche Konstellation nicht sein. Das Gespräch über Tochter Saskias notorische Probleme mit dem Schlaf-wach-Rhythmus führt seine ehemalige Bettgespielin wie eine politische Podiumsdiskussion. Er zeigt sich mit ihrem Interventionsplan abwiegelnd einverstanden und versucht derweil, das Essen halbwegs zu geniessen. Kartoffelstrudel mit Pfifferlingen. Gar nicht so schlecht. Zum Dessert Chia-Pudding. Der Kellner hat’s ihm erklärt, aber als er davon probiert, hat er schon wieder vergessen, was dieses Chia sein soll. Munden tut’s trotzdem. Während der Redestrom seiner Ex-Frau ihm entgegenweht, fragt er sich, ob Stoizismus heutzutage unweigerlich als Laster zu betrachten sei. Dann wäre folglich sein Gegenteil, die Wut, eine Tugend? Nun ja. Vielleicht ist der Gegensatz gar keiner, denn nach all den Haupt-, Neben- und Beigedanken der letzten Zeit wäre es nur konsequent zu schliessen, dass beide im gleichen, das heisst therapeutischen, Zweck aufgingen.
Beim Kaffee kommt seine Ex-Frau auf eines ihrer Steckenpferde zu sprechen – Nachhilfe. Saskia habe halt immer noch Mühe, sie brauche mehr Rückenstärkung, worauf Herr Riederer sich angesichts der Tatsache, dass Saskia bereits seit zwei Jahren in den Genuss von Nachhilfestunden kommt, im Stillen fragt, ob doppelte Rückenstärkung zu doppelter Leistung führe oder ob sie sich nicht eher neutralisiere oder gar einen Negativeffekt nach sich ziehe. Warum Saskia nicht einfach mehr Langsamkeit gönnen? Ein Jahr mehr bis zur Matur würde seiner Tochter nicht schaden, sagt er, im Gegenteil. Doch seine Ex-Frau will davon nichts wissen. Na ja. Wäre es anders, denkt Herr Riederer, wäre so ziemlich alles anders. Doch so ist es nun mal, und weil es so ist, kann ich an diesen Abenden mit meiner Ex-Frau so viel essen, wie ich will, mein Hunger wird trotzdem nicht gestillt.
Nachdem sie sich vor dem Veganer per Hauchkuss verabschiedet haben, wie jedes Mal der verschämte Gang zur Dönerbude. Er muss jedes Treffen mit der Ex-Frau Kohlenhydrate und Fett verschlingend vergessen machen.
Zwei Tage später. Nachhilfe. Nein, nicht mit Saskia. Von dieser Nachhilfe weiss seine Ex-Frau nichts. Herr Riederer hat auch keine grosse Lust, ihr davon zu erzählen. Es hat vor drei Jahren mit dem Sohn einer Putzkraft, die in der Firma arbeitete, begonnen. Ein paar Stunden Rechnen und Geometrie, um dem Jungen, nun ja, etwas Rückenstärkung zu geben. Seine Grosszügigkeit und sein didaktisches Naturtalent hatten sich schnell herumgesprochen. Seither ist Herr Riederer zu einer kleinen Institution im Quartier geworden. Jeden Samstagnachmittag unterstützt er eine kleine Gruppe von Schülern für einen symbolischen Betrag. Obwohl er sich an der bei weitem nicht genügenden Chancengleichheit in diesem Land stört und politisches Gegensteuer für angebracht hält, ist er in diese Sache mehr hineingerutscht. Er hält sich für alles andere als einen engagierten Menschen. Kurz, er kann nicht so recht begründen, warum er diese Nachhilfestunden gibt. Müsste er das denn? Herr Riederer weiss es nicht. Vielleicht, denkt er, ist am Schluss sein Stoizismus der Grund. Er war einfach zu träge, nein zu sagen. Bei dem Gedanken muss er unweigerlich kichern, worauf die fünf Schüler verwundert zu ihm aufschauen. Und wie er in die Gesichter dieser Kinder sieht, glaubt er plötzlich die wahre Absicht seines Autors zu erahnen: Steiner will ihn, Riederer, langsam, aber sicher in eine Ecke drängen, er möchte ihm eine gerechte Wut injizieren, Wut gegen den kalten Ehrgeiz seiner Ex-Frau, Wut gegen die Tatsache, dass mässig begabte Kinder aus besseren Verhältnissen dank Privatstunden ins Studium gehievt werden, während in anderen Verhältnissen massenweise Talente brachliegen, gegen eine Gesellschaft, die frei zu sein vortäuscht, es aber noch lange, lange nicht ist. Da will Steiner ihn haben, Riederer begreift das, aber so ist es nicht, ganz und gar nicht, er kann zwar all diese Argumente unterschreiben, doch er empfindet keine Wut. Sie ist nun mal nicht seine Sache, sei sie nun therapeutisch oder gerecht oder was auch immer. Als wolle er Steiner das demonstrieren, bricht er die Nachhilfelektion ab, gibt den Kindern ein paar Aufgaben auf den Weg mit dem trockenen Hinweis, dass sie es nicht weit brächten, wenn sie nicht lernten, sich selber durchzuschlagen. Also Abmarsch und hopp, und die Kinder packen hastig ihre Sachen zusammen, schleichen davon, zurück in ihre Welt der anderen Verhältnisse.
Die eigenen vier Wände, die Strasse, das Büro mit den Kollegen. Das Lieblingscafé, der unerwartete Morgenspaziergang nach einer Tramkollision, die unsichtbaren Nöte der eigenen Kinder. So einfach ist das Leben und doch so kompliziert. Und immer die offenbleibende Frage, welcher Weg der Weg der Freiheit sei. Ist es der Weg ins Einfache oder der Weg ins Komplizierte? Oder um es drastisch zuzuspitzen: der Weg des Mönchs oder derjenige, der stets nah am Burn-out verläuft? Herr Riederer weiss es nicht. Er hat nur Fragen, auf die er keine befriedigende Antwort findet. Sie sind seine Schäfchen. Er passt gut auf sie auf.
In letzter Zeit hat er sich anstecken lassen von der Ekellust einiger seiner Kollegen und ebenfalls Leserkommentare in den Online-Medien zu lesen begonnen. Wenn er sich durch die geifernden Sermone und die Untergürtellinienschläge scrollt, denkt er: Therapie, nichts als Therapie. Keine Politik, schon gar keine Revolution, alles nur Therapie. Aber ist eine solche Therapie ein Weg ins Einfache oder ein Weg ins Komplizierte? Und ist der therapeutische Weg der letzte verbliebene Weg in die Freiheit? Doch was ist das für eine Freiheit? Ist sie der Freiheit des Stoikers, der mit lauem Herzen seine Abstimmungszettel in die Wahlurne fallen lässt, überlegen? Auch auf diese Fragen hat Herr Riederer keine Antwort.
Die Kollegen werfen sich manchmal Blicke zu, wenn Herr Riederer mit diesem Lächeln an seinem Schreibtisch sitzt. Es ist nicht so, dass er es nicht merkt. Aber es stört ihn nicht. Sie halten ihn wohl für ein wenig aus der Zeit gefallen, aber da täuschen sie sich. Herr Riederer ist wie kein anderer an seine Zeit gebunden. Und deshalb absolut ernst zu nehmen.
Die Kollegin Goldinger tut das auf ihre ganz eigene Weise. Sie hat, könnte man sagen, ein Auge auf ihn geworfen. Schon seit einer geraumen Weile. Auch ihr kommt er wohl etwas rätselhaft vor, aber zugleich ist ihrem Gesicht ein Ausdruck der Bewunderung abzulesen, wenn sie in seine Richtung blickt. Sie ist vorsichtig und dosiert ihre Annäherungsversuche. Herr Riederer lässt sie zu. Die Kollegin Goldinger ist nicht unhübsch, denkt er, im Gegenteil, und irgendwie hat sie auch so etwas Geschmeidiges, was ihm an Frauen besonders gut gefällt. Und während er versucht, sie sich als Tanzpartnerin vorzustellen, fragt er sich, ob dies das Ende der Stagnation sein könnte. Zumindest in amouröser Hinsicht.
Vertrauensvorschuss. Das ist das Wort, nach dem er so lange gesucht hat, ohne sich dessen bewusst zu sein. Hinter all den Gedanken über Wut und Freiheit, die er in den letzten Wochen gewälzt hat, ohne zu einem befriedigenden Ende zu kommen, ging es stets eher um den Stoizismus. Seinen eigenen Stoizismus. Und um die Frage, welche Argumente dieser gegen die Wut – ob nun gerecht oder therapeutisch – in Anschlag zu bringen habe. Es ist der Vertrauensvorschuss, denkt Herr Riederer, und stellt sich zum Vergleich den Paartanz vor: Ich muss wissen, was ich will, das führt aber nur dann zu einem guten Tanz, wenn ich meiner Partnerin einen Vertrauensvorschuss gebe. Ein Vertrauensvorschuss kann freilich verspielt werden, was mich indes nicht davon abhält, meinem nächsten Gegenüber wieder einen solchen zu geben. Denn er ist grundsätzlich à fonds perdu. Der Wutbürger hingegen gibt keinen Vertrauensvorschuss. Und nichts ist bei ihm à fonds perdu.
Eine Hand fuchtelt vor seinem Gesicht herum, Herr Riederer schreckt auf. Es ist sein Schachpartner, Hlinka, der ihm andeutet, dass seine Zeit abgelaufen sei. Jaja, schon gut. Herr Riederer ärgert sich. Er ist innerlich abgedriftet, in Schachkreisen wird das nicht goutiert. Um Hlinka nicht weiter zu behelligen, zieht er schnell und unüberlegt, was dieser sofort ausnützt. Fünf Minuten später ist die Partie zu Ende.
Auf dem Nachhauseweg vom Schachclub denkt er nochmals über den Vertrauensvorschuss nach. Irgendwo gibt es einen Haken. Vertrauensvorschuss ist gut, aber er hat eine offene Flanke. Es ist die Flanke, die Gelassenheit heisst. Zweifellos eine Tugend, aber eine gefährdete. Zu schnell schlägt Gelassenheit in Gleichgültigkeit um, denkt Herr Riederer, als sein Handy zu vibrieren beginnt. Es ist Saskia. Ob sie bei ihm bitte übernachten dürfe, sie sei schon unterwegs, er solle schnell sagen, bitte. Was denn los sei, fragt er. Ja oder nein, erwidert sie, aber schnell! Jaja, klar, antwortet Herr Riederer, aber was denn los sei? Doch Saskia hat bereits aufgelegt. Herr Riederer eilt nach Hause.
Schon wieder Samstag. Heute sind nur zwei Nachhilfeschüler gekommen, Luis und Emine. Ob er zu harsch war beim letzten Mal? Die beiden zeigen ihm ihre Lösungen der Rechnungsaufgaben. Das Korrigieren ist meine Meditation, sagt sich Herr Riederer, ich versenke mich ganz darin. Doch als er den Rotstift zückt, begreift er, dass der Gefühlsaufruhr der letzten zwei Tage ihn noch immer fest im Griff hat. Erst seine Tochter. Die Panik in ihrem Gesicht, als sie nach dem Schachabend bei ihm in der Tür stand, das Schweigen, dann das zögerliche Erzählen. Sie seien in der Stadt unterwegs gewesen, sie und die Clique, alles voll okaye Leute, er brauche sich da keine Sorgen zu machen. Dann aber seien sie an eine andere Gruppe geraten. Sie hätte es selber nicht richtig gehört, aber einer von denen hatte wohl einen der ihren, Majid, beleidigt. Wahrscheinlich sei es gar nicht um seine Hautfarbe gegangen, aber Majid sei da eben sehr empfindlich und habe wohl überreagiert. Jedenfalls hätten sie bald zu rangeln begonnen, und als die Rangelei in eine brutale Prügelei ausgeartet sei, sei sie abgehauen, sie habe Schiss gehabt und sich gleichzeitig ständig gefragt: ob sie das dürfe, einfach so abhauen und ihre Leute im Stich lassen? Während Herr Riederer an die Angst seiner Tochter von vorgestern denkt, drängt sich ihm die Erinnerung an den gestrigen Tag auf, an die Kaffeepause, als sich unvermutet die Kollegin Goldinger zu ihm gesetzt hat. Er erinnert sich an die Vertraulichkeit, die ihre Plauderei von Anfang an erfasste und über die sie so herzlich gelacht haben. Auch an die Unbeschwertheit. Als ob es schon immer so gewesen wäre zwischen ihnen. Doch er kann sich dieser Erinnerung nicht hingeben, solange er keine Antwort auf die Frage seiner Tochter hat.
Just in jenem Augenblick, als ihm der Rotstift aus der Hand gleitet und unter den Tisch fällt, begreift Herr Riederer, dass Autor Steiner ihn hier auf die alles entscheidende Probe stellt, dass er seinen Gedankengängen jetzt endlich einmal ein befriedigendes Ende setzen muss. Wut ist keine haltbare Haltung, denkt er, sei sie nun eine gerechte oder eine therapeutische Wut. Stoizismus aber ist es auch nicht. Beide sind Wege in die Einfachheit, wir aber führen komplizierte Leben. Herrn Riederers Gesicht hellt sich mit einem Mal auf. Engagement ohne Bekenntnisseligkeit, denkt er. Das ist es, worauf Steiner hinauswill! Wobei der Paradoxie-Enthusiast es wohl eher leidenschaftslose Solidarität nennen würde. Sich ohne Bekenntnisseligkeit zu engagieren, bedeutet zu schenken, ohne den Beschenkten wissen zu lassen, warum man es tut. Während letzterer sich ein kleines Stück reicher fühlen darf, hat sich der Schenkende ein kleines Stück von seinem Narzissmus befreit. Ja, genau das ist es!
Als Luis unter dem Tisch hervorkriecht und den Rotstift in die Luft streckt, fragt Herr Riederer: «Woher hast du diese Schramme am Kinn, Junge?»
«Ein paar Viertklässler haben den kleinen Reto verhauen», antwortet Emine in der selbstgefälligen Art einer grossen Schwester, «Luis wollte ihm helfen, aber da ist er selber drangekommen. Blödmann. Er weiss doch, dass sie stärker sind.»
«Das nächste Mal holst du Hilfe, Luis», sagt Herr Riederer und denkt an seine Tochter. «Das ist zwar nicht sehr heldenhaft, aber auch nicht feige. Es ist eine Geste leidenschaftsloser Solidarität. Verstehst du?»
Luis nickt stumm, und Herr Riederer denkt: Der Junge wird sich noch viele, viele Male prügeln, aber das macht nichts. Irgendwann wird er begreifen. Dann überreicht er den Kindern das nächste Aufgabenblatt. Während die beiden sich über neue Rechenprobleme beugen, wenden sich seine Gedanken dem heutigen Abend zu. Er hat Kollegin Goldinger zum Essen eingeladen. Lange hat er gebraucht, bis er ein Restaurant gefunden hat, in dem er mit seiner Ex-Frau noch nie war.