Hermann Burger (1942–1989)
Der 1942 in Burg geborene Schriftsteller Hermann Burger war vom Schreiben geradezu besessen. Er arbeitete, wie er sich einmal ausdrückte, an der «Verschriftlichung» seiner Existenz. Zu seinen Lebzeiten ist ein beachtliches Werk erschienen: die beiden Romane «Schilten» (1976) und «Die Künstliche Mutter» (1983) sowie fünf Erzählungen, zwei Lyrik- und zwei Essaybände. Im Literaturarchiv in Bern lagern zudem zahlreiche Schachteln voller Skizzen, Vorarbeiten, Tagebücher und Briefe – gleichsam ein zweites Werk, das noch der Aufarbeitung bedarf. Der Text, den wir hier mit freundlicher Erlaubnis von Burgers Witwe, Frau Annemarie Carrel, abdrucken, ist ein bisher unveröffentlichtes Manuskript aus Burgers Nachlass (BURGER, A-01-18a, Erzählerische Prosa, Ablage I, Schachtel Nr. 36).
Die Karriere des Aargauer Schriftstellers war seit seiner Studentenzeit in Zürich eng mit den «Schweizer Monatsheften» verknüpft. Er veröffentlichte darin von 1967 bis zu seinem Freitod im Jahre 1989 Gedichte, Essays und Rezensionen. In den 1960er Jahren kreuzte sich der Weg Burgers mit demjenigen Anton Krättlis, der den Kulturteil der Schweizer Monatshefte betreute. Der 1922 geborene Krättli, wie Burger in Aarau domiziliert, erinnert sich noch gut an die Begegnungen mit dem angehenden Schriftsteller, der den Kritiker vor der Publikation seiner Werke um Rat ersuchte. Es konnte schon einmal vorkommen, dass der von einer Formulierung umgetriebene Burger spät abends an die Tür von Krättlis Wohnung in der Hinteren Vorstadt in Aarau klopfte und ihn mit Literaturdiskussionen um seinen Schlaf brachte. Persönliche Begegnungen flossen in die Bücher ein, die für den Schriftsteller die Möglichkeit waren, mit seinen Mitstreitern und Weggefährten auf mehr oder minder milde Weise abzurechnen (Anton Krättli kommt in «Brenner» in der Figur des Adam Nautilus Rauch verhältnismässig gut weg). Mit der Zunahme von Burgers Depressionen haben sich auch die Gespräche mehr und mehr um Burgers Leiden am Leben gedreht. Die kundgetane Selbstmordabsicht – «Ich werde früher sterben als Du» – habe er, Krättli, ihm freilich nicht abgenommen. Zu Unrecht, wie sich später herausstellen sollte.
«Maienzug» ist eine der zahlreichen Variationen Burgers über seine Geburt. Der Text dürfte im Juni des Jahres 1974 entstanden sein. Darauf deutet die Rückseite der dritten von insgesamt vier, mit Schreibmaschine getippten Manuskriptseiten. Ein angefangener, aber nicht zu Ende gebrachter Brief an den in Zürich lehrenden Germanistikprofessor Emil Staiger trägt das Datum des 5. Juni 1974. Burger verbrachte die vorsommerliche Zeit offenbar im Tessin und erinnerte sich an die Maienzüge seiner Kinder- und Jugendtage. Die Zeitungen versorgten ihn mit Berichten zum Fest, die in ihm das Gefühl entstehen liessen, während der Arbeit an seinem Roman «Schilten» im Tessin den schönsten Maienzug zu verpassen. Indem er das Gefühl, seiner Lebensmaxime entsprechend, sofort in einem Text verarbeitete, trieb er die «Verschriftlichung» seiner Existenz konsequent voran.
René Scheu
Zum ersten Mal in meinem Leben nahm ich am 10. Juli
1942 vom Aarauer Maienzug Notiz, als ich im Kantonsspital,
von den Böllerschüssen aufgeschreckt, meine Geburt
beschleunigte und in den frühen Morgenstunden das Licht
der Welt, einen dräuenden Jugendfesthimmel, erblickte.
Wie sich später herausstellte, hatte die Befl aggung des ehemaligen
Siechenweges nichts mit meiner Ankunft zu tun,
und da es weder einen Umzug noch eine Morgenfeier noch
einen Rummelplatz für Säuglinge gab, beschränkte sich
meine Festteilnahme auf erste, den Arzt und meinen Vater
beruhigende Artikulationsversuche. Die Mutter verspeiste
zur Feier des Tages eine Forelle. Der Delegationsleiter der
Wetterkonferenz hatte mit Petrus die Wimpel getauscht, die
grünweisse gegen die Aarauer Fahne. So stand der erste Tag
meines Lebens im Zeichen des Schlechtwetterprogramms,
ein Omen, das sich biographisch zumindest in den ersten
sechzehn Jahren nicht namhaft auswirkte.
Das Aarauer Jugendfest war uns, den Absolventen einer
ländlichen Bezirksschule im Herzen des Stumpenlandes,
ein Begriff , zumindest jenen, welche ältere Geschwister
und Cousins ersten und zweiten Grades hatten, welche am
zweiten Samstagmorgen im Juli mit dem ersten Wynentaler
nach Hause kamen und mit ihrem Jugendfestlatein den
Eindruck aufkommen liessen, man habe das Fest des Jahrhunderts
verpasst. Aarau war für uns Viertklässler vor allem
ein Drohwort: Ziel des Sonderunterrichts und der unzähligen
Nachhilfestunden waren entweder die Kantonsschule
oder das Seminar, und wenn alle Rügen nichts mehr fruchteten,
hiess es: Wenn du so weitermachst, kommst du nie
nach Aarau. Deshalb war der Gedanke, dass dieses selbe, mit
düsterer Schulmeistermiene heraufbeschworene und als der
Inbegriff des Strengen und Unbarmherzigen zitierte Aarau
auch festliche Züge annehmen könne, zunächst undenkbar.
Wer das Glück hatte, bei der Prüfung durchzufallen, blieb
von der viel härteren Prüfung, das erste Jugendfest zu bestehen,
verschont. Uns dagegen, einem kleinen Trüppchen,
das die 16.0-Hürde schaff te, blieb es in der allgemeinen Festeuphorie
des ersten Kantonsschuljunis nicht erspart, einen
sogenannten Jugendfestbesen zu keilen. Wir hatten ja, mit
Ausnahme des Kadettenballs, bei der sich der Grad an der
Schönheit des Mädchens oder die Schönheit des Mädchens
am Grad ablesen liess, überhaupt keine Festerfahrung, und
die Pausenfrage: Hast du schon gekeilt? klang ungefähr so
wie die Frage: Hast du die Geometrie für morgen schon
gemacht? Auf frühere Schulschätze zurückzugreifen, schien
den sich ankündigenden Festdimensionen nicht angemessen.
So liess man sich denn in langwierige Koalitionsverhandlungen
ein, die, was meine Person betraf, samt und
sonders scheiterten, so dass ich am ersten Jugendfestabend
meiner Kantizeit aus purem Trotz die Gartenbauausstellung
in Zürich besuchte, obwohl mir weder Gartenarchitektur
im allgemeinen noch Blumenrabatten im besonderen viel
bedeuteten.
Immerhin war nun das erste Jugendfest, wenn auch
im Gartenbauexil, überstanden, und die Vorbereitungen
für das zweite konnten im Herbst in Angriff genommen
werden. Ich wohnte nun bei Verwandten in Aarau; der
Sohn, der in Amerika studierte, war einer jener legendären
Heimweh-Aarauer, die eigens für das Jugendfest nach
Hause kamen, Ansporn genug, sich beizeiten umzutun. Für
den Notfall liess ich mir bereits im Februar eine Cousine
zweiten Grades reservieren. Der Notfall trat ein, ich holte
die Cousine zweiten Grades, die mir bis zum Schlüsselbein
reichte und nach einem Parfum duftete, das aus Nelken,
Lorbeerblättern und Zimtstengeln gewonnen zu sein schien,
am Wynentaler ab und absolvierte festpfl ichtbewusst das
unbarmherzige Schönwetterprogramm vom Umzug bis
zum Frühzug. Nach der Morgenfeier in der Telli, die mir
durch die Erinnerung an zu kurz geratene Weitsprünge und
die klirrende Hochsprunglatte leicht vergällt wurde, machte
ich zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem sogenannten
Festvakuum. In der Meinung, man müsse überall gleichzeitig
sein, besuchten wir die Zulindeninsel, bewältigten
den Philosophenweg, brachen mehrmals in den brütenden
Schachen auf, erklommen die Schanz, und als dann, mit der
typisch aarauischen Feststilverspätung, endlich der Tanz für
die Erwachsenen begann, hatten wir brennende Füsse und
hängende Köpfe. Der asphaltierte Tanzplatz vor dem Zelglischulhaus
trug das seinige zur Hühneraugenbildung bei,
und als ich meine unverwelkt nach Nelken, Lorbeer und
Zimt duftende Cousine zweiten Grades den Bahnschienen
entlang zum Wynentaler begleitete, war mir soviel klar:
dem Aarauer Jugendfest war nur beizukommen, wenn man
den Festrhythmus selber bestimmte, das Spieldiktat in die
Hand nahm. In Fussballer-Klischees zu denken war, beim
Zustand meiner Füsse, gar nicht so abwegig.
Das dritte Jugendfest – jenes im Kantonsspital nicht
mitgerechnet – verlief dementsprechend aktiver und dramatischer.
Ich hatte mich ab Vibraphon zum Bandleader
eines Quartetts durchgemausert, wir erhielten ein Engagement
und spielten für eine Kantonsschülerverbindung zum
Tanz auf. Nun kannte ich keine Programmsorgen, keine
Keilsorgen und keine Taschengeldsorgen, im Gegenteil: wir
wirkten programmgestaltend, unterhielten die Paare und
verdienten obendrein unsere Gage. Dafür hatte ich andere
Sorgen: jene immer gleich blonde, immer gleich unnahbare,
immer Chopin spielende, immer knapp am Provisorium
vorbeikommende Seminaristin, welche zur ungekrönten
Königin aller Jugendfeste bestimmt ist und die uns die ersten
Gedichte abverlangt, hatte ein sogenanntes Besenband
mit dem X jener Verbindung, die wir mit Klavier, Bass,
Schlagzeug und Vibraphon aus den Nachwehen des Jugendfestkommerses
in abendliche Feststimmung hinüberphrasierten.
Beim Versuch, die holde Libelle dem stämmigen X
mit dem Münzenschädel abspenstig zu machen, mit blitzenden,
Lionel Hampton nachempfundenen Läufen und
vibrierenden Akkorden im Glen-Miller-Satz, brach die Fusspedale
meines Mietvibraphons durch. Der Schaden konnte
zwar mit Draht notdürftig behoben werden, aber der Elan
war versiegt, und die Platten der oberen, der brillanten Oktave,
gaben nur noch stumpfe Xylophon-Töne von sich.
Hinzu kam, dass das Paar immer dann, wenn wir unsere
Glanznummern spielten, nicht im Saal war.
Auch aus diesem Jugendfest, das übrigens variantenreich
mit dem Schlechtwetterprogramm begonnen und mit dem
Sternenhimmel geendet hatte, zog ich meine Konsequenzen:
ich trat – nicht allein aus jugendfesttaktischen Gründen – in
eine Verbindung ein, durchlief in einer Art Schnellbleiche
das Spefuxen-, das Fuxen und das Burschenstadium, wurde,
wenn auch ohne glückliche Hand im Verwalten von Beiträgen
und Bezahlen von Rechnungen, Quästor und schrittelte
am vierten Jugendfestumzug in Würden und Ehren
durch die Bahnhofstrasse. Endlich war die Jugendfestung
genommen, endlich schien sich jene Versöhnung mit der
Feststadt Aarau anzubahnen, auf die meine Verwandten bisher
vergeblich gehoff t hatten. Ein langer, ein dornenvoller
Weg vom Kantonsspital über die Gartenbauausstellung, die
Cousine zweiten Grades und das demolierte Mietvibraphon
bis zum Gaudeamus, gewissermassen ein Konter aus der
Defensive. Wenn ich mich nicht täusche, fi el jener Maienzug
mit meinem 19. Geburtstag zusammen, dies liesse
sich anhand der Chronik in den Aarauer Neujahrsblättern
rekonstruieren. Nun, da ich eine Uniform trug, machte
ich nicht nur eine, sondern mehrere Eroberungen zugleich.
Schien sich früher alles gegen mich verschworen zu haben,
so war nun für einmal das Jugendfestglück auf meiner Seite.
Und es war wohl kein Zufall, dass dieses strahlendste
aller Schönwetterprogramme mit dem nahenden Ende der
Kantonsschulzeit zusammenfi el, nicht weil uns die Matur
Sorgen bereitete, sondern weil Krebse immer erst vor Torschluss
den Knopf auftun.
In den folgenden Jahren gab es einen einzigen Maienzug,
den ich – wiewohl nie zum echten Heimweh-Aarauer geworden,
da mir die räumliche Distanz fehlte – nicht unmittelbar
erlebte, da ich im Tessin an einer geistigen Zerrung
laborierte, das heisst an einem Roman schrieb. Nun wurde
mir aber erst in jenen südlichen Julitagen bewusst, was es
an einem Maienzug alles zu erleben gab, denn die Dokumentation,
die sich aus den Berichten der Lokalredaktion
des Tagblatts zusammenläpperte, sprengte alle bisherigen
Festdimensionen. Der Sportteil schrumpfte zusammen, das
Feuilleton verschwand. Wochen zum voraus erschienen
Stimmungsberichte über die Festvorbereitungen und Wetterprognosen.
Zum ersten Mal erfuhr ich Genaueres über
die sogenannte Wetterkonferenz und über die Wurstprobe.
Der Umzug und die Morgenfeier waren in den prächtigsten
Farben geschildert. Das Bankett kam in epischer Breite zur
Darstellung. Was sich nachmittags auf den Spielplätzen und
Tanzplätzen tat. Die Morgenreden im Dialekt, die Rede
des Stadtammans bis auf den unverwechselbaren Festrednertonfall
genau. Alle Delegationen, die begrüsst worden
waren, einzeln aufgezählt. Das Feuerwerk im Schachen, bis
auf die Farben der Leuchtkugeln genau. Dieser Fernkurs für
Eingeweihte machte es möglich, an allen Orten gleichzeitig
zu feiern.