Her mit der Ware!
Beim Thema Welthandel ignorieren Politiker standhaft Jahrhunderte ökonomischer Erkenntnisse: Sie sehen ihn, auch 200 Jahre nachdem David Ricardo das Konzept der komparativen Kostenvorteile erklärt hat, als Exportwettbewerb. Dabei würden im Zweifel sogar von unilateralem Freihandel alle Beteiligten profitieren. Eine Aufklärung.
Die in der Doha-Runde geführten WTO-Verhandlungen zum Abbau von Handelshemmnissen verlaufen seit fast zwei Jahrzehnten im Sand. Immerhin war mit der Hauptstadt des Wüstenemirats der Namenspate treffend gewählt – auch deshalb, weil Multilateralismus letztlich bedeutet, immer auf das langsamste Kamel in der Karawane zu warten. Der grassierende Neoprotektionismus speist sich aber nicht nur aus dem immer schon lähmend wirkenden Reziprozitätsdenken in der Aussenwirtschaftspolitik. Mit dem Aufstieg der VR China und eine Generation nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks hat sich in den westlichen Ökonomien auch eine bedrohliche Verunsicherung über die Quellen ihres Wohlstands breitgemacht. Protektionistische Reflexe, die die Menschen gegenüber vermeintlichem Ungemach von aussen schützen sollen, bergen so das Risiko, die westliche Welt von innen zu zersetzen.
Dem freien Handel eine Bresche zu schlagen, ist seit jeher ein mühsames Unterfangen. Ein wichtiger Grund liegt in der gleichermassen weitverbreiteten wie hartnäckigen merkantilistischen Sicht auf den Aussenhandel und einer daraus folgenden Wirtschaftspolitik. Diese Doktrin schaut auf Länder, als seien es Unternehmen. Die Verkäufe an die übrige Welt (Exporte) bilden dabei die Erlöse (Geldzufluss), die Käufe in der übrigen Welt (Importe) gelten als Kosten (Geldabfluss). Dann macht man einen Strich darunter und meint, die Vorteilhaftigkeit des internationalen Handels am Aussenbeitrag (Saldo aus Exporten und Importen) ablesen zu können. Unter diesen Vorzeichen ist das Urteil schnell gefällt: Überschussländer wie Deutschland leben auf Kosten des Auslands, die übrige Welt wird über den Tisch gezogen und zahlt drauf. Wenn Donald Trump die jahrzehntelange Benachteiligung der Vereinigten Staaten im Aussenwirtschaftsverkehr beklagt, hat er genau das, die bilateralen US-amerikanischen Handelsdefizite, vor Augen. Das Missverständnis über das vermeintliche Nullsummenspiel im Aussenhandel könnte kaum grösser sein, und es ist kein Zufall, dass ein egozentrischer Geschäftsmann besonders anfällig ist für solche Irrtümer.
Auf die Konsumenten kommt es an
Die merkantilistische Vorstellung, dass es in der Aussenwirtschaftspolitik vor allem darum ginge, für die heimischen Unternehmen das Beste am Weltmarkt herauszuholen, lässt ausgerechnet die wichtigsten Stakeholder eines Landes aussen vor – die Konsumenten: Ein Land als Wirtschaftsraum besteht nicht nur aus Unternehmen, sondern auch aus privaten Haushalten, und das Wohlergehen letzterer ist für den ökonomischen Prozess am Ende massgeblich. Produktion und Absatz sind nicht der Zweck des Wirtschaftens, sondern Mittel zum Zweck. Der finale Zweck liegt im gegenwärtigen und zukünftigen Konsum. Dieser simple Befund geht aus der Produzentensicht oft unter, weil dort der geschäftliche Erfolg oder Misserfolg an Gewinnen und Verlusten festgemacht wird und der Nexus zu den Konsumentenbelangen oft unscharf bleibt; aus diesem Grund sind Unternehmensvertreter im Gegensatz zu Ökonomen meist auch keine glühenden Befürworter des Wettbewerbs, jedenfalls dann nicht, wenn es um ihre eigenen Absatzmärkte geht. Aus ökonomischer Sicht ist sogar die Insolvenz eines Unternehmens, das mehr Werte vernichtet als schafft, ein «Erfolg» in dem Sinne, dass die dort bislang gebundenen Ressourcen für produktivere Zwecke freigesetzt werden. Funktionsfähige Marktprozesse sollen genau das leisten, nämlich die (typischerweise im Eigentum der privaten Haushalte stehenden) Ressourcen in die ertragreichste Verwendung lenken. Wer etwa den Arbeitskräften diesen Strukturwandel ersparen will, lässt sie das in Form entgangener Konsummöglichkeiten teuer bezahlen. Das gilt auch dann, wenn ausländische Wettbewerber den Strukturwandel vorantreiben. Das mag für die unmittelbar Betroffenen insbesondere in der kurzen Frist unbequem sein, insgesamt finden sich aber keine Beispiele für Wirtschaftsräume, die sich jemals durch Abschottung bessergestellt hätten. Das gilt nicht zuletzt für die Konsummöglichkeiten der unteren Einkommensschichten, die als Konsumenten sogar überproportional vom freien Aussenhandel profitieren, weil sie einen besonders hohen Anteil ihres Haushaltsbudgets für international handelbare Güter ausgeben.
Exporte als Kosten, Importe als Erlöse
Es gibt grundsätzlich zwei Wege, um auf friedlichem Wege an Güter zu gelangen, nach denen Menschen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse streben: Kaufen (Tausch) oder Selbermachen (Produktion). Selbermachen engt das Güterspektrum stark ein, weil es Spezialisierungsvorteile ungenutzt lässt. So wäre ein Smartphone «made in Germany» wohl immer noch ein Luxusprodukt für die oberen Zehntausend. Wollte man unter Autarkiebedingungen an die Güter gelangen, die ausserhalb der Landesgrenzen liegen (etwa bestimmte Rohstoffe), so bleibt nur die kriegerische Eroberung, man muss also die Landesgrenzen selbst verlegen. Die Nazis haben genau das getan. Um es mit Otto M. Mallery zu sagen: «If goods don’t cross borders, soldiers will.»
Kaufen bedeutet Tauschen, also Geben und Nehmen. Weil Tausch eine freiwillige Interaktion ist, haben beide Seiten etwas davon. Bei jedem Tauschvorgang stellt das, was man hergibt, den Verzicht oder die Kosten dar, und das, was man im Gegenzug erhält, ist dementsprechend der Erlös. Das ändert sich nicht, wenn zwischen zwei Tauschpartnern eine Landesgrenze verläuft oder wenn sich die Akteure des indirekten Tauschs bedienen, also Geld als universelles Tauschmedium zwischen die verschiedenen Käufe schalten. Demzufolge sind im Aussenwirtschaftsverkehr die Exporte die Kosten und die Importe die erlangte Gegenleistung. Gibt es keinen unmittelbaren güterwirtschaftlichen Ausgleich in einer Rechnungsperiode – übersteigen etwa die Exporte die Importe –, wird die Differenz als Kapitalexport überbrückt, der den güterwirtschaftlichen Austausch auf der Zeitachse verschiebt. Erhebt ein Land prohibitive Zölle auf seine Importe, wird es bald auch nichts mehr exportieren, weil den ausländischen Kunden die Tauschmöglichkeit genommen wird. Eine Kreditfinanzierung wäre auch kein Ausweg, weil die Rückzahlung nur in Form von Gütern erfolgen kann, die die eigene Zollmauer aber ja gerade nicht ins Land kommen lässt. Wer so verfährt, kann einen Handelsüberschuss nur erzielen, wenn er seine Güter an die übrige Welt verschenkt. Spätestens hier müssten auch Merkantilisten merken, dass das kein tragfähiges Geschäftsmodell sein kann.
«Die Vorstellung, in der Aussenwirtschaftspolitik gehe es darum, für die heimischen Unternehmen das Beste am Weltmarkt herauszuholen, lässt die wichtigsten Stakeholder eines Landes aussen vor – die Konsumenten.»
Auch am Kapitalmarkt agieren private Akteure freiwillig. Das gilt innerhalb eines Wirtschaftsraums wie auch zwischen Wirtschaftsräumen. Bei freiwilligem Kapitalverkehr hat niemand Anlass, sich unfair behandelt zu fühlen. So verdanken die Akteure in den Vereinigten Staaten neben höherem Gegenwartskonsum auch einen Teil ihres Kapitalstocks den Gütern, die sie netto (als Handelsbilanzdefizit) seit Jahren von der übrigen Welt bezogen haben. Das zeigt sich besonders deutlich bei Direktinvestitionen, etwa in den Fabriken der beim amtierenden US-Präsidenten in Ungnade gefallenen «deutschen» Hersteller BMW und Daimler, gilt aber genauso für den Kauf amerikanischer Staatsanleihen durch Ausländer. Der so erlangte zusätzliche Kapitalstock macht amerikanische Arbeitskräfte produktiver, wodurch ihre Löhne höher ausfallen als ohne diesen Kapitalimport.
Im Ergebnis profitieren die Beteiligten von offenen Märkten, weil lukrative Tauschmöglichkeiten durch internationalen Handel und Kapitalverkehr wie eine produktivitätssteigernde Erfindung wirken. Kann jemand im Ausland Güter günstiger produzieren als Unternehmen im Inland, folgt daraus, dass die heimischen Ressourcen (insbesondere Arbeitskräfte und der Kapitalstock) in anderen Produktionszweigen besser aufgehoben wären. Dieser Strukturwandel findet tagtäglich statt, innerhalb von Wirtschaftsräumen, aber auch grenzüberschreitend. Ihn aufzuhalten bedeutet letztlich, Produktivitätsgewinne zu verschenken, die den Konsumenten zugutekämen, um Partikularinteressen zulasten des Gemeinwohls zu bedienen.
Chimäre der nationalen Wettbewerbsfähigkeit
Seit jeher raubt ein Albtraum den Merkantilisten aus aller Welt den Schlaf: die Angst, das eigene Land könne wettbewerbsunfähig werden und müsse sich daher auf allen Gütermärkten der übermächtigen ausländischen Konkurrenz geschlagen geben. Auch hier liegt der Irrtum in der verfehlten produzentenzentrierten Sicht auf ganze Wirtschaftsräume. Einzelne Unternehmen gehen unter, wenn ihre Umsätze ihre Kosten nicht auf Dauer decken. Das kann an falschen Produkten liegen, schlechter Organisation oder verfehltem Technologieeinsatz. Die Preise auf den Absatz- und Beschaffungsmärkten sind für das einzelne Unternehmen kaum zu beeinflussen – hierin spiegelt sich ja gerade der anonyme Bewertungsprozess des Marktes. Und hierin liegt auch der entscheidende Unterschied zwischen Unternehmen und Wirtschaftsräumen, in denen sich Güter- und Faktorpreise anpassen können, die damit nicht Teil des Datenkranzes sind.
«Spätestens seit David Ricardo ist bekannt, dass Länder nicht ‹wettbewerbsunfähig› werden können, weil allein schon komparative Kostenvorteile, die es immer gibt, genügen, um erfolgreich im weltweiten Wettbewerb mitmischen zu können.»
Spätestens seit David Ricardo ist bekannt, dass Länder nicht «wettbewerbsunfähig» werden können, weil allein schon komparative Kostenvorteile, die es immer gibt, genügen, um erfolgreich im weltweiten Wettbewerb mitmischen zu können. Daher droht Ländern sogar dann nicht der Untergang, wenn sich die dortigen Unternehmen als in allen Belangen physisch weniger produktive Underdogs auf den freien Aussenhandel einlassen (Ricardos berühmtes Wein-Tuch-Beispiel für den Handel zwischen England und Portugal sollte seinen damaligen Landsleuten die Angst vor den vermeintlich übermächtigen Portugiesen nehmen, die in der Produktion beider Güter leistungsfähiger waren). Die Akteure in einem Land können irgendetwas immer relativ besser als diejenigen in anderen Ländern. Daher sind sie auch in der Lage, im Wettbewerb zu bestehen; sie können also anderen Marktteilnehmern immer ein lukratives Angebot machen, indem sie ihnen deren höhere Opportunitätskosten – also die Bindung wertvoller Produktionskapazitäten bei der eigenen Herstellung des importierbaren Produktes – vom Hals halten. Das ist keine Besonderheit des Aussenhandels, sondern ein universeller Mechanismus des arbeitsteiligen Wirtschaftens. Immer vorausgesetzt, dass die Preise beim Tauschgeschäft nicht in einem solchen Ausmass durch Abgaben belastet werden, dass sich komparative Kostenvorteile nicht mehr in absolute Preisvorteile übersetzen können – und auf die kommt es bei den Kaufentscheidungen der Nachfrager naturgemäss an.
«Buy domestic» – atavistische Instinkte wirken nach
Obwohl für den freien Aussenhandel letztlich dieselben Gründe sprechen wie für den freien Binnenhandel, hat der weltweite Freihandel einen ungleich schwereren Stand. Hierbei wirken nicht zuletzt atavistische Instinkte nach, auch wenn diese in anonymen Grossgesellschaften längst dysfunktional geworden sind. Beim Binnenhandel bleibt der Tauschvorteil innerhalb derselben Gruppe. Diese war in Zeiten des Stammeslebens, das den weitaus grössten Teil der menschlichen Evolution geprägt hat, überschaubar. Solidarität und Altruismus zwischen den Stammesmitgliedern (sowie Abgrenzung gegenüber Fremden) waren der soziale Kitt, der die Stämme zusammengehalten hat und der auch heute noch Kleingruppen (Familien, Clubs, Freundeskreise) stabilisiert. Der Übergang zum stammesübergreifenden Tauschhandel war ein gewaltiger zivilisatorischer Fortschritt, der die wenig ergiebige Selbstversorgung sowie den kontraproduktiven gegenseitigen Raub ablöste und am Beginn dessen steht, was wir heute Globalisierung nennen – die Freiheit, sich den Geschäftspartner weltweit auszusuchen. Damit geht einher, den Tauschvorteil mit Fremden zu teilen (aber eben auch neue Tauschvorteile zu erschliessen). Das gilt bereits bei den allermeisten Binnengeschäften, weil die heutigen Nationalstaaten anonyme Grossgesellschaften sind und niemand alle Beteiligten kennt, mit denen er bei Markttransaktionen direkt oder indirekt in Tauschbeziehungen tritt. Gleichwohl gelingt es Protektionisten immer wieder, an tiefsitzende Atavismen zu appellieren, wenn sie zu «Buy British» oder «Buy American» aufrufen, damit der Tauschvorteil im eigenen Kollektiv bleibt. Staatsgrenzen haben hier nur die alten Stammesgrenzen ersetzt. Und wenn ein deutscher T-Shirt-Hersteller seine deutsche Kundschaft vor allem durch das Versprechen lockt, dass seine Waren nur in Deutschland hergestellt würden, so zeigt das nur, wie sehr der Appell an unsere atavistischen Instinkte immer noch verfängt (bezeichnenderweise ist die Hauptrolle in den Werbespots mit einem Primaten besetzt – zumindest wird hier also ungewollt mit offenen Karten gespielt).
Zähes Reziprozitätsdenken
Das tradierte Misstrauen gegenüber Gebietsfremden trägt auch heute noch dazu bei, dass sich merkantilistische Reflexe immer wieder gegen kosmopolitisches Freihandelsdenken durchsetzen. Ein Donald Trump mag dabei besonders schroff vorgehen, allein ist er nicht. Das zwanzigjährige Siechtum der Doha-Runde spricht Bände. Dabei erweist sich immer wieder das Beharren auf Reziprozität als Bremsklotz. Das Öffnen der eigenen Märkte für ausländische Anbieter gilt im Verhandlungspoker als Zugeständnis, das man nur gewährt, wenn das Ausland seinerseits den Schlagbaum für den Güterverkehr hochzieht. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich beim Abbau von Protektionismus Handelsströme ändern, sonst könnte man es auch lassen: Es sind ja gerade die neuen Handelsmuster, in denen sich die Spezialisierungsvorteile zeigen. Merkantilisten sehen das weniger gelassen, sondern erkennen hier vielmehr den sensibelsten Punkt des Freihandels. Daher wird im Vorfeld minutiös zu eruieren versucht, wie sich die jeweiligen Marktöffnungen gegeneinander aufrechnen lassen. Nur wenn man mindestens so viele neue Absatzmärkte gewinnt, wie man der übrigen Welt zugänglich macht, gilt ein Handelsabkommen als gelungen (so feierte die EU-Kommission das Freihandelsabkommen mit Südkorea auch dafür, dass sich das vormalige bilaterale Handelsdefizit nun in einen Überschuss gewandelt hat). Bei Freihandelsgesprächen treffen somit nicht selten verkappte Protektionisten aufeinander, die mühsam miteinander ringen, in ständiger Sorge, am Ende doch die eigenen Märkte unnötig weit geöffnet zu haben. Im Ergebnis dauern solche Handelsgespräche sehr lange und führen – wenn sie denn abgeschlossen werden – zu sehr dicken Vertragswerken. Echter Freihandel ginge schneller und schlanker.
Handelsschranken im Namen des Freihandels
Man würde es sich indes zu leicht machen, die Anhänger des Reziprozitätsprinzips nur als misstrauische Merkantilisten abzukanzeln. Denn es lassen sich auch rationale Gründe ins Feld führen, die theoretisch fundiert sind. Ökonomen sind sich einig, dass eine Welt ohne Protektionismus die beste aller Welten wäre. Den Weg zu diesem Ideal sollen vor allem multilaterale Gespräche unter dem Dach der WTO bahnen. Die Grundlage dafür liefert die Handelstheorie. So zeigt die Optimalzolltheorie, wie sich ein Land durch gezielte Zölle vom globalen Freihandelsvorteil ein noch grösseres Stück abschneiden kann, sofern alle anderen Länder ihrerseits auf Zölle verzichten. Mit derselben Theorie lässt sich aber auch bestimmen, mit welchen Gegenzöllen die Handelspartner reagieren müssten, um den eingetretenen Wohlfahrtsverlust zu mindern. Reziprozität schaltet dann in den Rückwärtsgang und wird zur Retorsion. Im Ergebnis stellt sich die Weltwirtschaft schlechter, als wenn alle Länder auf Zölle verzichten würden. Retorsionszölle dienen in dieser Konstellation der Abschreckung, die im Ernstfall aus Gründen der Glaubwürdigkeit allerdings auch durchgesetzt werden müssen, weshalb sie im multilateralen WTO-Regime auch ausdrücklich zugelassen sind. Die Grundidee des Multilateralismus bietet so prinzipiell einen Ausweg aus einem Szenario, das nur Verlierer kennt. Kein Wunder also, dass Freihandel und Multilateralismus meist in einem Atemzug genannt werden.
Allerdings hat sich der Multilateralismus seit Jahren festgefahren. Schlimmer noch: Der Abbau von Handelsschranken kommt dadurch nicht nur nicht voran, sondern die protektionistischen Tendenzen nehmen seit Jahren wieder zu. Weniger in Form von Zöllen, sondern vor allem durch nichttarifäre Handelshemmnisse, von denen Jahr für Jahr mehr neue errichtet als alte abgebaut werden. Hinzu kommt aktuell die aggressive Handelspolitik der Vereinigten Staaten und – noch weitaus wichtiger – die industriepolitischen Interventionen in China. Damit stellt sich akut die Frage, wie die zweitbeste aller Welten aussieht, in der es nicht zu einem multilateralen Freihandelsregime kommt und nicht überall eine marktkonforme Wirtschaftspolitik verfolgt wird. Sind die Verfechter des freien Welthandels weiterhin mit einer Retorsionspolitik gut beraten, um die Störenfriede auf den Pfad der Tugend zurückzuzwingen? Und sind alle, die sich für solche Massnahmen aussprechen, tatsächlich am Ziel offener Märkte interessiert, oder verfolgen sie eine ganz andere Agenda?
Der Staat als Beute von Partikularinteressen
Beim Abwägen des Für und Wider alternativer Antworten auf den grassierenden Neoprotektionismus spielen die politökonomischen Kosten für das heimische Wirtschaftssystem eine wichtige Rolle, wenn nicht gar die Hauptrolle. So steht am Anfang jeder staatlichen Intervention in die Marktmechanismen üblicherweise ein mehr oder minder berechtigter Missstand. So auch hier: Ausländische Regierungen spielen nicht nach den Regeln, die man für richtig hält, weil sie in Form von Zöllen oder Subventionen in das freie Spiel der Marktkräfte eingreifen. Als Reaktion folgen dann Gegeninterventionen, typischerweise ebenfalls in Form von Zöllen und Subventionen, um die heimischen Anbieter vor unfairer Konkurrenz zu schützen. Neben der nichttrivialen Frage der richtigen Dosierung tritt noch ein – im Zweifel weitaus – grösseres Problem, das als «Rent Seeking» bekannt ist. Sobald der Staat sein interventionistisches Arsenal ausweitet, bietet er sich selbst all denen als Beute an, die schon immer Schutz vor lästiger auswärtiger Konkurrenz gesucht haben. Der Staat verfügt durch seine Hoheitsgewalt über Zwangsmittel, über die die Privaten, die sich im Leistungswettbewerb des Marktes zu bewähren haben, nicht verfügen sollen. Über den Einsatz der staatlichen Zwangsmittel entscheiden Bürokraten, die nicht allwissend sind. Und sie handeln in einem politischen Prozess, in dem private Akteure nun grosse Anreize haben, den Einsatz der staatlichen Zwangsinstrumente so zu beeinflussen, dass sie ihren Partikularinteressen dienen. Staatliche Zwangsinstrumente geraten so in Reichweite privater Akteure. Die Schwierigkeit, die wettbewerbsverzerrenden Effekte ausländischer Protektion zu quantifizieren, erleichtert den Lobbyisten ihr Geschäft ganz erheblich, können sie doch ihren Wissensvorsprung umso besser gegenüber der Politik ausspielen. Das gilt im Grundsatz bereits für das Verhängen von Retorsionszöllen. Aufgrund der ungleich höheren Eingriffsintensität sind aber gerade diejenigen Gegenmassnahmen besonders anfällig, die zur Abwehr bzw. zum Ausgleich auswärtiger industriepolitischer Interventionen dienen sollen. Was ursprünglich als disziplinierendes Instrument gegen das Ausland gerichtet war, kann dann nach und nach zu einer interventionistischen Säure werden, die von innen heraus den wettbewerblichen Ordnungsrahmen in den Vergeltungsländern zersetzt.
«Die merkantilistische Vorstellung, dass es in der Aussenwirtschaftspolitik vor allem darum ginge, für die heimischen Unternehmen das Beste am Weltmarkt herauszuholen, lässt ausgerechnet die wichtigsten Stakeholder eines Landes aussen vor – die Konsumenten.»
So hat zwar die Retorsionslogik auf Basis der Optimalzolltheorie formaltheoretisch einiges für sich, und auch die empirischen Befunde deuten darauf hin, dass sich die Akteure tendenziell an den Nachfrage- und Angebotselastizitäten im Aussenhandel orientieren, von denen das grenzüberschreitende Verschieben von Tauschrenten im Modell abhängt. Allerdings darf man dabei nicht übersehen, dass die Identifikation der jeweiligen Zollsätze alles andere als trivial ist und diese in sich dynamisch entwickelnden Wirtschaftsräumen laufend nachjustiert werden müssten. Das erfordert einen permanenten Interventionismus auch auf Seiten der Retorsionsländer. Es kann auch erfordern, bisherige Retorsionszölle wieder zu senken, was oft politisch schwerer durchsetzbar ist, als Zölle zu erhöhen. Den Schaden tragen dann regelmässig auch die heimischen Konsumenten davon, deren Interessen – weil schlecht organisierbar – im politökonomischen Prozess unzureichend zur Geltung kommen.
Systemdeformation durch strategische Industriepolitik
Zollkonflikte haben zumindest den Vorteil, dass sie weitgehend transparent ablaufen, sich die Folgen vergleichsweise gut abschätzen lassen und die Eingriffsinstrumente relativ eng umrissen sind. All das sieht bei Abwehrmassnahmen gegen eine unliebsame Industriepolitik des Auslands anders aus, zumal sich dabei gerade im Bereich der Technologiepolitik die vermeintliche Protektion rasch mit Interventionsmotiven aus der strategischen Industriepolitik vermengt, die man ohnehin verfolgen will, der aber erst die vermeintliche Bedrohung aus dem Ausland die politische Durchschlagskraft verleiht. Besonders hoch im Kurs steht bei europäischen Industriepolitikern das Warnen vor der «technologischen Bedrohung» durch US-amerikanische Digitalkonzerne und vor der «strategischen Bedrohung» durch China. Von beiden müsse man sich unabhängig machen – ein Neuaufguss des angestaubten Autarkiedenkens. Als Antwort stellt man sich europäische Champions vor, die den Big Playern am Weltmarkt Paroli bieten können, wenn es sein muss, auch unter Hintanstellen der eigenen Wettbewerbsregeln. Das ist ein Einfallstor für jedwede Form des Interventionismus, der zugleich von wenig Vertrauen in die eigenen Wohlstandsquellen zeugt. Dass sich ein entwickelndes Land wie die VR China in der Aufholphase eher staatlich lenken lässt, weil die Richtung bereits von den höherentwickelten Ländern vorgezeichnet ist, kann kaum überraschen. Auch das MITI hat einst in Japan den Aufholprozess mit massiven Eingriffen orchestriert, aber heute, da das Land an der Spitze des Fortschritts steht, ist die ehemalige Superbehörde nur noch ein Schatten früherer Jahre. Umso mehr muss erstaunen, dass man der chinesischen Diktatur zutraut, im Bereich der Zukunftstechnologien erfolgreicher zu sein. Und selbst wenn sie es wider Erwarten sein sollte – das wäre keine Bedrohung für die übrige Welt. Auch hier ist die merkantilistische Verdrängungsangst unbegründet, weil es kein fixes Quantum an Technologien gibt, die die Menschheit entwickeln kann. Da auch in China die Anzahl qualifizierter Arbeitskräfte nicht unendlich ist, bedeutet jede Investitionslenkung in Technologie A immer auch eine Entscheidung gegen eine Technologie B oder gegen die Kombination von Technologie A mit einer Anwendung C. Dass ausgerechnet im Bereich der Innovation – dem Markenzeichen offener, marktwirtschaftlicher Wettbewerbssysteme – der Einfallsreichtum unternehmerischer Akteure hinter die Leistungsfähigkeit einer staatlichen Innovationsagentur zurückfallen soll, ist nicht sehr plausibel und widerspricht allen Erfahrungen. Zum ersten Mal in der Geschichte wäre überlegendes Wissen über den Wert von Technologien in einer zentralen Behörde gebündelt, wobei – das wird oftmals übersehen – der Wert einer Technologie davon abhängt, inwieweit sie Konsumentenbedürfnissen dienstbar gemacht werden kann. Hochtechnologie als solche hat noch keinen Wert. Das mussten einst auch die Sowjetbürger bitter erfahren: Einer von ihnen war zwar als erster Mensch im Weltraum, der Rest stand aber vor leeren Regalen.
Opportunitätskosten sterben nicht aus
Subventionen für bestimmte Industrien müssen durch Abgaben finanziert werden, die anderen Wirtschaftsbereichen auferlegt werden. Dort bieten sich dann automatisch Wettbewerbsvorteile für Unternehmen aus Ländern, wo diese Abgaben nicht anfallen. Speziell im Falle Chinas kommt noch hinzu, dass die dortigen Investitionen strategisch, d.h. längerfristig, getätigt werden. Das gibt den anderen Akteuren Zeit, sich anzupassen – mehr Zeit jedenfalls, als wenn erratisch jedes Jahr eine neue industriepolitische Sau durchs Dorf gejagt würde. Wenn etwa die chinesische Regierung unbedingt die übrige Welt mit subventionierten Solarpanelen versorgen oder die Entwicklungskosten für bestimmte Technologien den heimischen Steuerzahlern aufbürden will, dann können andere darüber nachdenken, wie sich diese Neuerungen mit den eigenen Produkten am besten kombinieren lassen, um daraus für die Konsumenten ein attraktives Bündel zu schnüren bzw. nun jene Güter verstärkt anzubieten, von deren Produktion die chinesischen Strategen die Ressourcen abgezogen haben.
Zu glauben, man könnte durch entsprechende Sanktionen die Machthaber in Peking von ihren Plänen abbringen, mutet demgegenüber unrealistisch an. Auch hätten die übrigen Länder viel zu tun, wollten sie die Effekte aller fragwürdigen wirtschaftspolitischen Eingriffe durch entsprechende Sanktionen neutralisieren. Insbesondere laufen sie dabei Gefahr, selbst immer chinesischer zu werden und sich so Stück für Stück von den eigenen Idealen zu entfernen. Die ersten Anzeichen sind schon deutlich sichtbar, auch bei Ländern, die einst als Vorreiter des freien Handels galten. Man muss die sprunghaften Kurzmitteilungen des amtierenden US-Präsidenten nicht zum Nennwert nehmen, aber ein Tweet wie «Unseren grossartigen amerikanischen Unternehmen wird hiermit befohlen, sofort nach einer Alternative zu China zu suchen» passt zum Duktus einer Kommandowirtschaft chinesischer Prägung, nicht zur Wirtschaftspolitik eines freien Landes. Aber auch in Deutschland droht man aus Angst vor der gelben Gefahr im Mitteleinsatz dem Reich der Mitte immer ähnlicher zu werden. So reagiert man auf den dortigen industriepolitischen Interventionismus mit gleicher Münze, etwa durch Subventionen für eine heimische Batteriezellenfertigung. Und jene, die dem freien Welthandel ohnehin skeptisch gegenüberstehen und sich «ein Europa, das schützt» wünschen, nutzen das Abwehrargument für ganz andere Zwecke. Es ist jedenfalls bezeichnend, wenn der französische Wirtschafts- und Finanzminister von hunderten Teilnehmern der diesjährigen Rencontres Économiques d’Aix-en-Provence (der bedeutendsten Ökonomentagung des Landes) auf die rhetorische Frage «Wollen Sie in Zukunft eine europäische Batterie in Ihrem Auto oder etwa eine asiatische?» tosenden Beifall erntet.
Unilateraler Freihandel als Gegenentwurf
Den Verfechtern freier Marktwirtschaften bietet sich als Alternative zur Retorsionspolitik aber auch ein radikal anderer Weg, um dem grassierenden Neoprotektionismus zu begegnen. Er heisst: unilateraler Freihandel und Anpassung – das Erfolgsrezept der kleinen Schnellbote der Weltwirtschaft, die mit dieser Strategie zu beträchtlichem Wohlstand gelangt sind. Das bedeutet im Kern: Unabhängig davon, was die übrige Welt macht, öffnet man seine Märkte für jedermann. Sämtliche Zölle werden einseitig abgeschafft, und ausländische Güter unterliegen denselben Zulassungsbedingungen wie inländische (z.B. Sicherheitsvorschriften für PKW). Sind die Standards im Herkunftsland ähnlich streng, können diese auch unilateral als äquivalent akzeptiert werden, um unnötige Doppelzulassungen zu vermeiden. Subventionen ausländischer Regierungen werden als Relativpreisänderungen hingenommen, wie sie sich auch aus anderen Ursachen ergeben könnten. Daraus entstehen neue komparative Kostenvorteile, die es zu entdecken und auszunutzen gilt. Lediglich für den Bereich globaler Gemeinschaftsgüter kann ein Grenzausgleich erhoben werden (z.B. im Falle eines im Binnenmarkt bestehenden CO2-Zertifikatesystems), darüber hinaus mischt man sich in die im Ausland geltende Regulierung nicht ein. Der Gedanke ist gewöhnungsbedürftig, widerspricht er doch zunächst allen politischen Reflexen. Aber darum kann es nicht gehen. Entscheidend ist, was auf dem Spiel steht. Auf der Kostenseite schlagen entgangene Zolleinnahmen und ein höheres Anpassungserfordernis der heimischen Produktionsstrukturen zu Buche. Dafür erspart man sich einen verzerrenden Interventionswettlauf und die Gefahr, die marktwirtschaftliche Wettbewerbsordnung von innen heraus zu deformieren, mit allen Schäden für die offene Gesellschaft. Die heimischen Konsumenten profitieren von zulasten der Steuerzahler des Exportlandes verbilligten Importgütern. Auf der Habenseite steht ferner die Aussicht auf die Überzeugungskraft eines freiheitlichen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems. Das Wirtschaftsmodell des «Westens» war zwar nie lupenrein marktwirtschaftlich, aber zumindest fusste es im Grundsatz auf der Überzeugung, dass offene Märkte und privatwirtschaftlicher Wettbewerb die Garanten des Fortschritts und der Freiheit gleichermassen sind, von denen breite Konsumentenmassen profitieren. Dazu gehört auch die Zuversicht, dass die Attraktivität dieser Ordnung ihre Strahlkraft gegenüber allen Formen des Kollektivismus immer wieder wird behaupten können. Dies kann letztlich zur Nachahmung anregen, um so auch die jüngste Welle des Protektionismus zu überwinden.