Helvetisches Kabarett
Viel Lärm um die Nationalfeier auf dem Rütli
Eigentlich kennt die Schweiz am 1. August keine nationale
Manifestation. Tradition hat auf eidgenössischer Ebene
einzig die fünfminütige Ansprache des Bundespräsidenten
– dieses Jahr der Bundespräsidentin – in den Landessprachen,
im Radio und im Fernsehen. Gefeiert wird in den
Gemeinden und in den Stadtquartieren, auf mehr oder
minder spontane Weise, mit Ansprachen von Politikern
und anderen Prominenten, mit Reden von Geistlichen,
mit Musik, mit grossen Feuern auf den Festplätzen und auf
Bergen und Hügeln. Das früher vorherrschende feierlichandächtige
Zeremoniell mit Verlesen des Bundesbriefs und
Absingen der Nationalhymne ist vielerorts durch Volksfeste
mit Bratwürsten und Risottopfannen ersetzt worden, und
die Höhenfeuer werden zunehmend durch lärmige Feuerwerke
konkurrenziert.
In den letzten Jahren ist jedoch das weisse Kreuz im roten
Feld zum modischen Accessoire geworden. Ein – etwas
hedonistisch anmutender – Patriotismus, der auch von der
Politik in Anspruch genommen wird, hat sich wiederbelebt.
Das hat seine guten, aber auch seine problematischen Seiten.
So hat sich eine nationalistische, rechtsradikale Szene
gebildet, namentlich unter Jugendlichen, die mit Vorliebe
historische Gedenkfeiern benutzen, um aufzufallen, zu provozieren und zu stören, in manchen Fällen auch dreinzuschlagen.
Die Bundesfeier auf der Rütliwiese am Urnersee, wo
nach der Sage und Schillers «Wilhelm Tell» der Bund der
Eidgenossen beschworen wurde, musste die Störenfriede
natürlich anziehen. Und da diese Feier inzwischen zu einem
Ereignis von nationaler Bedeutung mit prominenten
Rednern gemacht wurde, ist es in jüngerer Vergangenheit
auf der praktisch nur vom See her zugänglichen Wiese zum
Radau gekommen. Vor zwei Jahren wurde der Bundespräsident
niedergeschrien, letztes Jahr musste die Feier mit
grossem Sicherheitsaufwand geschützt werden. Die unverhältnismässig erscheinenden Kosten führten zu erheblicher
Verstimmung bei den Behörden der involvierten Gemeinden
und Kantone, so dass beschlossen wurde, eine Wiederholung
dieser Übung nicht mehr zuzulassen. Es sei denn,
dass der Bund sich daran massgeblich beteilige.
Was nun folgte, geriet zur helvetischen Kabarettnummer.
Der Bundesrat betrachtete sich als nicht zuständig; die Feier,
so beteuerte er, sei eine private Veranstaltung und die Sicherheit
Sache der Kantone. Bundespräsidentin Micheline
Calmy-Rey hingegen erklärte zusammen mit Nationalratspräsidentin
Christine Egerszegi, persönlich auf dem Rütli
auftreten und zur Feier vor allem Frauen einladen zu wollen.
Die Kantone rund um den See verweigerten die Bewilligung
für die Überfahrten und den dafür nötigen Einsatz von Sicherheitskräften.
Schliesslich fanden sich Sponsoren, die für
einen Teil der Kosten aufkommen wollten. Unter dem öffentlichen
Druck wurde schliesslich ein Weg gefunden, die
Feier dennoch durchzuführen.
Erleichterung weitherum im Land. Aber ein Unbehagen
bleibt. Nicht nur, weil das letzte Kapitel des Stücks erst nach
dem Anlass geschrieben werden kann. Sondern auch, weil
sich hier gute Argumente mit emotionalen Phrasen mischen
und weil das investierte Prestige ins Lächerliche zu kippen
droht. Dies geschieht spätestens dann, wenn sich nun Linke
und Rechte um das Vorrecht auf eidgenössischen Patriotismus
balgen. Dass man sich wegen drohender Störaktionen
nicht von der Durchführung einer traditionellen Bundesfeier
abhalten lassen will, ist zweifellos ehrenwert. Dass man
eine solche aber um fast jeden Preis schützen zu müssen
glaubt und gerade damit den potentiellen Störenfrieden
eine herausragende Plattform bietet, zeugt nicht eben von
starkem Selbstbewusstsein.
Man drückt sich vor unbequemen Fragen. Wo liegt die
Grenze, jenseits derer der Aufwand weder sinnvoll noch
vertretbar ist? Wo wird das Risiko eines zwar medienträchtigen,
aber unwürdigen Auftritts zu gross? Und schliesslich sei
nochmals an die eingangs gemachte Feststellung erinnert,
dass die schöne Tradition der schweizerischen Bundesfeier
in der Vielfalt der lokalen Feste im überschaubaren Rahmen
liegt. Der echte eidgenössische Patriotismus bedarf keiner
glamourösen nationalen Manifestationen.
ULRICH PFISTER, geboren 1941, ist Publizist in Zürich.