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Helvetisches Chrüsimüsi
Lukas Rühli, zvg.

Helvetisches Chrüsimüsi

Die Verflechtung von Aufgaben schmälert das Potenzial des Föderalismus. Doch bei der Reform stehen sich die Kantone selber im Weg.

 

«Corona? Corona, wer?» Die Rechnungsabschlüsse der Kantone für das vergangene Jahr vermitteln den Eindruck, dass diese nie etwas vom Virus, das die halbe Welt lahmlegte, gehört haben. Budgetiert war gesamthaft (von jenen 21 Kantonen, die ihre Staatsrechnung 2020 schon publiziert haben) ein Defizit von 309 Millionen Franken – damals, im Herbst 2019, als tatsächlich noch niemand von Corona gehört hatte. Letztlich resultierte aber ein aggregierter Überschuss von 1659 Millionen Franken.

Das verblüfft. Waren da nicht Warnrufe, dass man ob all der Diskussionen um die Bundesfinanzen nicht die Situation der Kantone vergessen soll? Der Zürcher Finanzdirektor Ernst Stocker hatte gar vorgeschlagen, die Mehrwertsteuer temporär um einige Zehntelprozentpunkte zu erhöhen und die Kantone an den Mehreinnahmen zu beteiligen. «Ketzerei!», schiesst einem als Föderalismussensibilisiertem der gedankliche Empörungsruf durch den Kopf, ist doch die Mehrwertsteuer als Verbrauchssteuer schon seit jeher dem Bund zugeordnet. Die Massnahme würde zu einer weiteren Verflechtung von Finanzströmen und Aufgaben zwischen Bund und Kantonen führen, und sie wurde angeregt von kantonaler Seite. Das ist nicht unsymptomatisch für die Rolle der Kantone in der Föderalismusdebatte.

Doch der Reihe nach: Die Aufgabenverflechtung zwischen Bund und Kantonen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der schweizerische Föderalismus nicht sein volles Potenzial ausschöpft. Denn dafür sollten – neben der Subsidiarität – folgende Faktoren möglichst gut erfüllt sein:

Fiskalische Äquivalenz: Deckungsgleichheit von Aufgaben- und Finanzierungsverantwortung – kurz: «Wer befiehlt, zahlt.» Ist sie verletzt, erhöht sich die Gefahr einer suboptimalen Bereitstellung öffentlicher Güter.

Fiskalische Eigenverantwortung: Die Ausgaben einer Gebietskörperschaft sollten so weit wie möglich über selbst generierte und gestaltbare Einnahmen finanziert werden. Empirische Studien weisen nach, dass zwischenstaatliche Transfers mit weniger Bedacht eingesetzt werden als eigene Steuergelder und dass die Erhöhung von Transfers stärker ausgabentreibend wirkt als eine Zunahme der eigenen Steuerbasis.

Klare, übersichtliche Kompetenzzuordnung: Ihr Fehlen ist nicht nur der Erfüllung der oben genannten Punkte abträglich, sondern begünstigt auch eine «Blaming»-Kultur: Wo den Stimmbürgern nicht mehr klar ist, wer für was verantwortlich ist, lädt das die Politiker dazu ein, bei Fehlentwicklungen die jeweils andere Staatsebene zu beschuldigen. Wirksame Bürgerkontrolle kann nur bei klaren Verantwortlichkeiten ausgeübt werden.

Mit der Neuordnung der Aufgabenteilung und des Finanzausgleichs (NFA) im Jahr 2008 wurden Aufgaben und Finanzierungsströme entflochten – wenn auch weniger konsequent als geplant. Seither nehmen die Verflechtungen wieder zu. Dass im Rahmen unzähliger realpolitischer Einzelprozesse, die nicht aufeinander abgestimmt sind, eine schleichende Verflechtung der Kompetenzen erfolgt, ist fast so sicher wie das physikalische Gesetz der Entropie: Ohne Eingriff von aussen kann sich in einem System das Mass an Unordnung nur vergrössern, nicht verkleinern.

Die Angst vor Mehrbelastungen

An der wachsenden Verflechtung und an Zentralisierungstendenzen sind aber ironischerweise auch die Kantone nicht ganz unschuldig. Sie beurteilen die Aufgabenteilung gerne aus Kostensicht, was sie anfällig dafür macht, Kompetenzen abzugeben, wenn dies mit Vorteilen für ihren Finanzhaushalt verbunden ist. Als Paradebeispiel für dieses Verhalten taugt die Neuordnung der Kompetenzen bei der Bahninfrastruktur:

Im Rahmen der 2003 bis 2005 diskutierten Bahnreform II wurde eine Entflechtung des Bahnnetzes in ein vom Bund finanziertes Grundnetz und ein von den Kantonen finanziertes Ergänzungsnetz angestrebt. Die inhaltlich plausibelste Definition des Grundnetzes hätte eine Dezentralisierung der Kompetenzen bedeutet. Das lehnten die Kantone ab, obwohl ihnen der Bund die Kostendifferenz als zweckgebundene Transfers zur Verfügung gestellt hätte. Das Grundnetz wurde daraufhin deutlich umfassender definiert. Trotzdem scheiterte die Vorlage in der parlamentarischen Beratung an dieser Frage.

Mit FABI (Finanzierung und Ausbau der Bahninfrastruktur) wurde 2011 ein neuer Anlauf genommen. Vom Plan einer konsequenten Entflechtung hatte man sich verabschiedet, vorgesehen war aber zumindest eine ansatzweise Entflechtung nach funktionalen Kriterien: Der Bund hätte die Kosten für Bau, Unterhalt und Betrieb der Strecken übernehmen sollen, die Kantone die Kosten für Bau, Unterhalt und Betrieb der «Publikumsanlagen» (Bahnhöfe etc.). Auch diese Massnahme scheiterte in der parlamentarischen Beratung. Stattdessen übernimmt der Bund nun die Verantwortung für das gesamte schweizerische Schienennetz, inklusive der Bahnhöfe, während die Kantone ohne formales Mitspracherecht gesamthaft eine jährliche Pauschale von 500 Millionen Franken an den Bund entrichten. Von allen Varianten scheint vielen Kantonen offenbar die Position als Bittsteller ohne eigene Verantwortung am liebsten.

In einem (vom Parlament in Auftrag gegebenen) Bericht identifiziert der Bund FABI neben dem Natur- und Heimatschutzgesetz als einzige seit 2004 in Kraft getretene Vorlage, bei der sowohl die Einhaltung der Subsidiarität als auch die Einhaltung der fiskalischen Äquivalenz fraglich seien. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Mehrheit der Kantone ausgerechnet diese Vorlage als «unter dem Gesichtspunkt des Föderalismus unproblematisch» bezeichneten und sie unterstützten.

Das Dogma der Haushaltsneutralität

In der Realpolitik hat sich eingebürgert, dass die Neuzuteilung einer Aufgaben- beziehungsweise Finanzierungskompetenz haushaltsneutral erfolgen muss. Eine Neuordnung der Aufgabenteilung hat ohne die Garantie einer «ausgeglichenen Globalbilanz» geringe Chancen. Von den Kantonen hört man sogar Kritik an unterschiedlichen Dynamiken (zwischen Bund und Kantonen) in der Kostenentwicklung bestehender Aufgaben. So sagt ein Vertreter der Sozialdirektorenkonferenz: «Im Sozialbereich sind die dynamischen Bereiche den Kantonen zugeteilt worden. Die finanzielle Belastung ist (…) weiter steigend. Weitere Belastungen sind für die Kantone nicht tragbar.»

Dieser Ausdruck «nicht tragbar» verkennt den Kern des schweizerischen Föderalismus und entstammt dem Denken in Systemen à la Deutschland oder Österreich, wo die Bundesländer die für die Erfüllung ihrer Aufgaben benötigten finanziellen Mittel in erster Linie von der Zentralregierung zugeteilt erhalten. Dort ist es naheliegend, um mehr Geld zu bitten, wenn die Erfüllung einer Aufgabe teurer ausfällt als erwartet. Im schweizerischen System ist aber genau das nicht nötig. Die Kantone finanzieren ihre Leistungen – so zumindest der (zunehmend erodierende) Grundgedanke – über ihre eigenen Steuereinnahmen. Führen bestimmte Sachverhalte zu erhöhten Ausgaben oder geringeren Einnahmen, besteht die Möglichkeit, sich zu verschulden, zu sparen oder die Steuern zu erhöhen – alles demokratisch legitimiert durch die kantonale Stimmbevölkerung.

Dieses Argument lässt sich auf die Situation mit Covid-19 übertragen: Stocker mag recht haben, wenn er sagt, die Kantone würden in den Folgejahren (aufgrund der zeitverzögerten Einkommens- und Gewinnsteuern) die Einbussen stark spüren. Das kann aber kein Anlass dafür sein, die kantonalen Steuereinkünfte mit zusätzlichen Bundestransfers zu ergänzen: Ihre Steuerhoheit erlaubt den Kantonen die nötigen Reaktionen – die sie allerdings vor ihren Stimmbürgern zu rechtfertigen haben.

Eine konsequente Aufgabenteilung wird blockiert

Derzeit ist wieder ein Projekt für die Überprüfung der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen in Arbeit.1 Als besonders relevante Bereiche wurden die individuellen Prämienverbilligungen, die Ergänzungsleistungen, der regionale Personenverkehr sowie die Finanzierung und der Ausbau der Bahninfrastruktur identifiziert. Der Fokus ist richtig gelegt – auch Avenir Suisse hatte 2017 in der Studie «NFA 2»2 diese Handlungsfelder (neben einigen anderen) genannt. Allerdings wird schon wieder die Haushaltsneutralität als «zentrale Voraussetzung» für die Aufgabenentflechtung bezeichnet und ein finanzieller Ausgleich zum Erreichen einer ausgeglichenen Globalbilanz in Aussicht gestellt. Das Verweilen in diesem Status-quo-Denken wird wirklich konsequente Lösungen erschweren.

Alles andere als budgetneutral wäre hingegen summa summarum die in der erwähnten Studie skizzierte Neuzuordnung von Kompetenzen: Sie würde zu einer Lastenverschiebung in Richtung der Kantone von 8 bis 10 Milliarden Franken führen. Vorgeschlagen wird allerdings auch ein automatischer Kompensationsmechanismus, der bei den direkten Bundessteuern ansetzt. Genannte Lastenverschiebung käme einer Senkung der direkten Bundessteuern um etwa 30 bis 40 Prozent gleich. Wie stark die Kantone im Gegenzug ihre Steuern erhöhen würden, wäre ihnen überlassen. Ähnlich scheint auch Ueli Maurer zu denken, hat er doch auf den Vorschlag von Stocker reagiert: «Wir müssen eher in die Richtung gehen, dass der Bund die indirekten Steuern einzieht und die Kantone die direkten Steuern, also Einkommens- und Vermögenssteuern. Wenn schon, müsste man eine Verschiebung in diese Richtung machen.»

Nun kann man natürlich das Gemäkel am schweizerischen Föderalismus als Jammern auf hohem Niveau bezeichnen. In der Tat gibt es nicht viele Staaten, die ähnlich wettbewerbsföderalistisch aufgebaut sind wie die Schweiz – und schon gar nicht auf so kleinem Raum. Doch gerade weil die Schweiz so stark dezentralisiert und fragmentiert ist, ist es wichtig, dass diese komplexe Struktur gut organisiert ist und die Anreize im Umgang mit Steuergeldern richtig gesetzt sind. Eine ungünstige Ausgestaltung würde schnell dazu führen, dass die potenziellen Nachteile des kleinteiligen ­Föderalismus in der statischen Betrachtung (Kleinheit, Koordinationskosten) die potenziellen Vorteile in der dynamischen Betrachtung (Wettbewerb, Entdeckungsverfahren) überwiegen.

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