Helvetischer Konsens in Gefahr?
Die grossen Firmen wandern ab, wenn mehr reguliert wird. Mit ihnen verschwinden gut ausgebildete Angestellte. Zurück bleibt ein Land von Bauern und Kleinunternehmern, die unerschrocken das «Erfolgsmodell Schweiz» hochhalten. – Wie viel Realismus, wie viel Realitätsverweigerung schwimmt mit im öffentlichen Diskurs? Gibt es eine A-Schweiz und eine B-Schweiz? Ticken wirklich immer mehr Bürger wirtschaftsfeindlich? Und entpuppen sich Marktwirtschaft und direkte Demokratie zunehmend als widerstreitende Kräfte?
Herr Blocher, beginnen wir bei den Wurzeln: Christian Levrat hat seine politische Karriere mit der Gründung einer Sektion der Jungliberalen begonnen. Wo orten Sie bei ihm heute noch Restbestände an liberalem Gedankengut?
Christoph Blocher: Heute wollen ja alle irgendwie liberal sein. Die Linken sind liberal, die Rechten sind liberal, die Sozialdemokraten sind liberal und die SVP sowieso. Das Wort ist in der Politik völlig abgedroschen. Herr Levrat ist ein Sozialist, ein sehr guter sogar. Und Sozialisten wollen bekanntlich die Marktwirtschaft überwinden.
Herr Levrat, Sie sind in einem bürgerlich geprägten Haushalt im Greyerzerland aufgewachsen. Sie wohnen noch heute dort und haben viele Freunde, die Bauernhöfe betreiben. Welche Restsympathien haben Sie für die Politik, die Herr Blocher vertritt? Gibt es gemeinsame liberalkonservative Elemente?
Christian Levrat: Ein gemeinsames Element gibt es sicher, und zwar die Entschlossenheit, die Too-big-to-fail-Frage zu lösen. Gerade Liberale sollten schliesslich nicht akzeptieren, dass solche Monopol- und Machtstellungen in Märkten aufgebaut werden. Was die Bauern betrifft, ist es uns – zumindest in Fribourg – gelungen, sie davon zu überzeugen, dass sie mit den Sozialdemokraten am besten fahren. Sie haben ein Interesse an einer gesunden Ökologie, einem vernünftig organisierten Markt, an Freihandelsabkommen – an Schritten also, die die SVP allesamt bekämpft. Das führt dazu, dass sich die Basis langsam neu orientiert.
Herr Blocher, ich gehe davon aus, dass Sie diesen Aussagen widersprechen möchten.
CB: Ach, nein. Ich lasse Herrn Levrat gerne im Glauben, von den Bauern gewählt zu werden. Man muss auch fragen, um welche Bauern es dabei geht. Wir vertreten jene, die unternehmerisch sein wollen in diesem immer dichter werdenden Gestrüpp des Staates, jene, die produzieren möchten auf einem möglichst freien Markt. Daneben gibt es natürlich andere, die sich als vom Staat bezahlte Landschaftsgärtner verstehen – die vertritt die Sozialdemokratie wahrscheinlich in der Tat besser.
Herr Kirchgässner, Sie sehen die Konstellation. Sie haben die schöne Aufgabe, die unparteiische Wissenschaft zu vertreten – sofern das möglich ist. Wie würden Sie die Liberalität der beiden Herren auf einer Skala von 1 bis 10 bewerten?
Gebhard Kirchgässner: Die beiden lägen darauf relativ weit aus-einander, das ist klar. Die Frage ist aber, was man unter Liberalität versteht. Politische Liberalität würde ich beiden durchaus zugestehen, bei der Marktliberalität glaube ich aber doch, dass Herr Blocher wesentlich mehr Punkte machen würde als Herr Levrat.
Fahren wir fort mit der Klärung grundlegender Fragen: In welcher Welt leben wir eigentlich heute in der Schweiz? Herr Blocher, im Essay, den Sie für uns verfasst haben, vertreten Sie die These, dass die Schweiz heute de facto eine Staatswirtschaft und höchstens de iure eine Marktwirtschaft sei. Können Sie kurz begründen, wie Sie zu der Ansicht kommen?
CB: Zunächst muss man einfach einmal sehen, dass heute ganze Bereiche vollständig dem Staat übertragen sind.
Welche?
CB: Die ganze Energieversorgung zum Beispiel. Hatten wir früher eine private elektrische Versorgung, gehören die Energiewerke heute den Kantonen, also dem Staat. Und der reguliert von A bis Z. Im Kanton Zürich stimmt das Volk bald über ein Gesetz ab, wonach der Staat künftig jedem Eigentümer sagen kann, welche Energie er zu beziehen hat – und auch zu welchem Preis. Sie können auch im Verkehr schauen, im Gesundheitswesen – und finden dort das Gleiche: den Staat, der alles reguliert. Und zwar zunehmend auch jene Bereiche, die eigentlich der freien Marktwirtschaft angehören. Bauen Sie mal ein Haus: Bald ist es wichtiger, einen Rechtsanwalt zu haben als einen Architekten. Oder nehmen Sie die ganze Versorgung: Will man heute eine Haushalthilfe einstellen, sieht man sich mit einer Bürokratie konfrontiert, die für einfache Leute schlicht nicht mehr zu überblicken ist!
CL: Dieser Versuch, die Skandale um Hans Fehr und Luzi Stamm kleinzureden, ist schön und gut, ändert aber nichts an den Fakten: Es geht in dieser Sache um ein klar illegales Verhalten, das nicht akzeptiert werden darf und das Sie als – realer – Parteichef auch klar verurteilen sollten.
CB: Die beiden habe ich doch gar nicht erwähnt!
CL: Nein, erwähnt natürlich nicht…
CB: …noch nicht einmal an sie gedacht habe ich! Schön aber, dass Sie an unsere Leute denken.
CL: Wenn das so ist, dann denke ich offensichtlich schneller als Sie (lacht).
Herr Levrat, Sie monieren demgegenüber in Ihrem Essay den Vorrang der Ökonomie, den es zu bekämpfen gelte. Als was würden Sie unser heutiges Wirtschaftssystem bezeichnen?
CL: Als gemischte Wirtschaft. Es gibt Bereiche, in denen der freie Markt absolut funktioniert.
Zum Beispiel?
CL: Zum Beispiel die Brotversorgung. Daneben gibt es Sphären, in denen wir bedenkliche Entwicklungen haben, ich spreche hier von den multinationalen Firmen und deren Macht. Die freie Marktwirtschaft, von der man hört oder liest, ignoriert immer wieder die Machtstellung dieser ungefähr 150 Multis, die praktisch die ganze Weltwirtschaft kontrollieren. Die Frage, wie diese Firmen in die gesellschaftliche Pflicht genommen werden können, welchen Dialog es mit ihnen geben kann, welche Mitwirkungsrechte Staat und Gesellschaft an ihnen haben – diese Fragen berühren die Demokratie und ihre Grenzen im Kern und müssen uns deswegen zwingend beschäftigen. Zuletzt gibt es noch einen dritten Bereich, jenen, den der Staat organisieren muss, weil es ein gemeinsames Interesse gibt, die Sache so zu führen, dass sie funktioniert. Die Beispiele, die Herr Blocher erwähnt hat, sind allesamt positiv: Was ist das Problem am staatlichen Engagement im Gesundheitsbereich – der zu den weltweit besten zählt –, in der Energie, der Landwirtschaft oder dem Verkehr?
Wir orten also einen Konsens: Sie sehen beide den gewachsenen Einfluss des Staates – beurteilen ihn aber unterschiedlich. Während Herr Blocher die Entwicklung beklagt, wird sie von Herrn Levrat begrüsst.
CL: Ich bin gar nicht sicher, dass der staatliche Einfluss wirklich gewachsen ist.
CB: Doch, doch, doch!
Herr Kirchgässner, offensichtlich sind wir in dieser Frage auf die Expertise des Wirtschaftswissenschafters angewiesen: Ist der Staat in den letzten Jahrzehnten gewachsen? Leben wir in einer Markt-, Staats- oder Gemischtwirtschaft?
GK: Wir leben in einer Marktwirtschaft mit relativ deutlichen staatlichen Elementen; man kann das Gemischtwirtschaft nennen. Wie weit der Staat gewachsen ist, ist unterschiedlich einzuschätzen. Es gibt Bereiche, in denen er tatsächlich mehr Regulierung übernommen hat, nehmen wir zum Beispiel den Verkehr. Mit dem zusätzlichen Verkehrsaufkommen wurde es notwendig, eine Geschwindigkeitsbeschränkung einzuführen – eine klare Regulierung. Aber wollen wir heute darauf verzichten? Wir brauchen den Staat in sehr vielen Bereichen, und da die Welt komplizierter geworden ist, hat auch die Regulierung zugenommen. Dies geschieht zum grossen Teil übrigens auch, weil die Bevölkerung das will. Während international seit den 1970er Jahren sehr viel liberalisiert wurde, hat sich die Bevölkerung in der Schweiz in vielen Abstimmungen dagegen gesträubt. Anders aber sieht es aus, sobald wir zur international tätigen Wirtschaft kommen: Diese ist heute so frei, wie sie es nie in der Geschichte war. Firmen können Staaten gegeneinander ausspielen, indem sie beispielsweise damit drohen, Produktionen zu verlagern; das gab es in den 1950ern, als die Wirtschaft viel stärker national orientiert war, noch nicht. Insofern gibt es einen Unterschied zwischen der – nicht nur, aber doch auch stark – intern tätigen Wirtschaft auf der einen und den vornehmlich international agierenden Konzernen auf der andern Seite. Das sind heute zwei verschiedene Welten.
Bleiben wir gerade bei dieser Kluft. Klaus J. Stöhlker hat die Begriffe «A- und B-Schweiz» geprägt, wobei die A-Schweiz von den qualifizierten, englischsprachigen Fachkräften globaler, am internationalen Standortwettbewerb ausgerichteter Konzerne bevölkert wird, während die B-Schweiz aus jenem guten alten Mittelstand besteht, in dem Dialekt, Handwerk und regionale Orientierung vorherrschen. Beide Bereiche sind zwar auf ihre Art leistungsorientiert, sprechen aber nicht mehr die gleiche Sprache. Was halten Sie von dieser Analyse?
GK: Ich glaube, sie ist weitgehend zutreffend. Natürlich überlappen diese «Welten», sie sind nicht durch Mauern getrennt; schliesslich exportieren viele KMU auch in die Weltmärkte. Grundsätzlich unterscheiden sich die Handlungsbedingungen für die relativ kleinen, weitgehend auf den Schweizer Markt angewiesenen Unternehmen aber grundlegend von jenen der multinationalen Unternehmen.
Herr Blocher, was halten Sie von dieser Unterscheidung – stimmen Sie mit ein ins populäre Bashing der multinationalen Unternehmen?
CB: Die Schweiz hat immer multinationale Gesellschaften gehabt. Schon die Aargauer, die in Ägypten Strohhüte verkauften, waren multinational – gezwungenermassen, denn: Wir haben einen kleinen Heimmarkt, haben keine Bodenschätze und keinen Meeranschluss. Auf Basis dieser armseligen Bedingungen hat sich die Schweizer Wirtschaft eine starke Position geschaffen, indem sie alles auf besondere Produkte, Leistung und Qualität gesetzt hat. Um die Stellung zu halten, brauchen wir die multinationalen Unternehmen. Wenn ich zum Beispiel unsere Firma anschaue, die Ems-Chemie: Wir sind der Hauptlieferant für den Kunststoff, den Nokia für seine Geräte braucht. Auf diese Märkte sind wir angewiesen. Wir beliefern den ganz Grossen, und andere, Kleinere, beliefern uns. Das ist ein Zusammenspiel, auch wenn die Denkweise natürlich etwas anders ist. Aber einen Vorbehalt habe ich natürlich schon gegen die Riesen: Wenn die so gross werden, dass die schweizerische Volkswirtschaft von ihnen abhängt und wir faktisch für sie haften – wie bei den beiden Grossbanken –, dann müssen sie zerkleinert werden. Und zwar vom Staat.
CL: Was die Too-big-to-fail-Thematik angeht, bin ich völlig einverstanden mit Ihnen. Die Finanzbranche ist jedoch nicht der einzige Bereich, in dem wir Wettbewerbsschwierigkeiten haben, die auch bei den Liberalen die Alarmglocken läuten lassen sollten. Wir haben in der Schweiz eine Kartellregulierung, die nicht funk-tioniert. Und gerade die Hardcore-Bürgerlichen sind immer für die Verteidigung von Kartellen; mit der Kartellgesetzrevision würden private Monopolsituationen etwas abgebaut, die SVP hat sie immer abgelehnt. Dabei ergibt der ganze Liberalisierungs- und Privatisierungsdiskurs nur Sinn, wenn wir aus staatlichen Monopolsituationen heraus- und in private Wettbewerbssituationen hineinkommen. Staatliche Monopole durch private Monopole zu ersetzen, wie wir es öfters sehen, ist absolut widersinnig.
CB: Da sind wir uns also einmal einig!
CL: Ja, doch um hier vorwärtszukommen, brauchen wir ein wirksames Kartellrecht, und das haben Sie beharrlich verhindert!
CB: Von welchen Privatmonopolen reden Sie denn eigentlich?
CL: Na, von den Kartellen, die wir alle kennen, vom Detailhandel zum Beispiel.
CB: Ach was, der Detailhandel ist ein Monopol?! Ja, guet Nacht am sächsi.
CL: Nein, ich korrigiere: ein Duopol!
CB: Blödsinn: Migros und Coop haben einfach einen hohen Marktanteil.
Nun kommen ja auch Lidl und Aldi, deren Dinge sind gut und billig, und das freut uns Konsumenten natürlich sehr.
CL: Sie dürfen sich schon darüber freuen, dass es Nischenanbieter mit vernachlässigbaren Marktanteilen gibt. Tatsache bleibt, dass wir ein Duopol haben – was wir bei der Euroaufwertung klar gesehen haben: Eben weil sie ein Duopol haben, konnten diese Detaillisten die Preise unter sich viel zu lange viel zu hoch halten.
Sie würden also sagen: Wir brauchen mehr Wettbewerb im Detailhandel?
CL: Ja!
Das müssen wir protokollieren.
CL: Gerne. Aber Sie, Herr Blocher, stimmen ja dagegen! Laufend!
CB: Schon bevor Sie im Parlament waren, habe ich Vorstösse gemacht, die verlangten, dass man die Grossverteiler aufteilt, wenn der Marktanteil zu gross wird. Denn es ist völlig klar: Private Monopole darf es nicht geben.
CL: Dann stimmen Sie dem Kartellgesetz zu?
CB: Nein. Dort sind ja Monopole erlaubt; verboten sind bloss diese lächerlichen Kartelle, in denen ein Coiffeur mit dem andern den Preis abspricht. Das ist romantischer Mist!
CL: Sie sind wirklich ein Sonntagsliberaler!
Private Monopole sind vor allem dann problematisch, wenn sie auf staatlicher Privilegierung beruhen – und weniger, wenn sie spontan
zustande kommen in einem Markt, zu dem alle freien Zugang haben. Aber kehren wir zur Ausgangsfrage nach den zwei Welten in der Schweiz zurück. Herr Blocher, Sie sagten, es gebe diesbezüglich etwas wie eine Symbiose. Sind aber – obwohl de facto viel Zusammenarbeit passiert – nicht zusehends Verständigungsschwierigkeiten zwischen der A- und der B-Schweiz zu beobachten?
CB: Doch, das ist unbestreitbar. Es gibt in diesen multinationalen Unternehmen Manager, die sind seit 30 Jahren in der Schweiz und sprechen keine Landessprache. Das müssen wir einfordern, wie die Amerikaner. Um eine Bewilligung zu bekommen, muss man bei denen zuerst auf dem Konsulat eine Sprachprüfung machen und diese dann nach ein paar Monaten wiederholen. Wir passen ja die Sprache in den Konzernen freiwillig an – und dann sind die Unteren, die kein Englisch können, natürlich schon mal ausgeschlossen. Diese Trennungen habe ich nie gut gefunden, und die müssten auch nicht sein.
GK: Ich glaube, das ist nun Ihrerseits eine romantische Illusion. Eine Rohstoffhandelsfirma, die ihren Sitz sofort anderswohin verlagern kann, wird sich bestimmt nicht vorschreiben lassen, dass ihre Manager Deutsch oder Französisch lernen müssen. Wenn man diese Firmen im Land halten will, weil man dadurch relativ günstig relativ hohe Steuereinnahmen generieren kann, muss man auf ihre Bedürfnisse eingehen. Mit Regulierungen wie einer Sprachpflicht ziehen sie mit Sicherheit ab.
CB: Das stelle ich stark in Frage. Bei den Vorteilen, die diese Gesellschaften auf der Steuerseite haben, bin ich überzeugt, dass sie diesen kleinen Standortnachteil in Kauf nehmen würden.
Die Sprachenfrage verweist noch immer auf den Kern der zwei Welten, die sich nicht mehr verstehen. Herr Levrat, Herr Blocher sprach von unterschiedlichen Denkweisen – ist das Wasser auf Ihre Mühlen oder wollen Sie widersprechen?
CL: Durchaus nicht, es gibt effektiv zwei Welten. Nur glaube ich nicht, dass die Trennlinie zwischen den international Vernetzten und den anderen verläuft. Ich habe den Eindruck, dass die Entwicklung vielmehr auf der Einkommensskala stattfindet. Für mich ist unbestreitbar, dass es Globalisierungsverlierer gibt.
Was impliziert, dass es auch Gewinner gibt.
CL: Ja, nur sind es wenige Gewinner und viele Verlierer, wobei zu letzteren immer mehr auch der Mittelstand gehört. Hier stagnieren die Löhne, und die Kaufkraft geht zurück, während die zwingenden Kosten, etwa die Miete und die Krankenkassenprämien, steigen. Dazu erodiert auch die Berufslehre. Die Verlierer, die uns die Globalisierung bringt, sitzen also in der Mitte unserer Gesellschaft und stellen zunehmend den gesellschaftlichen Vertrag in Frage – das muss uns Sorge machen.
Herr Kirchgässner, es gibt in der Schweiz eine ganze Reihe von Initiativen, die im Lohnbereich für «Gerechtigkeit» sorgen wollen. Sehen Sie in diesen Vorstössen einen Aufstand des beschriebenen Mittelstandes?
GK: Man kann gewisse Vorlagen sicher in diese Richtung interpretieren, angefangen natürlich mit der Minder-Initiative. Woher kommt der dabei zu beobachtende Wille, stärkere Regulierungen einzuführen? Ich glaube, man muss etwas zurückgehen, in die 1990er Jahre. Damals setzte eine bis dahin ungekannte Entwicklung ein: Es gab Massenentlassungen von Firmen, die gute Gewinne gemacht hatten, mit der Begründung, dass künftig noch bessere Gewinne gemacht werden müssten. Das hat das Vertrauen grosser Teile der Bevölkerung in die Wirtschaft erodieren lassen. Dazu kamen Skandale und Krisen; insgesamt glaube ich schon, dass wir heute eine Reaktion darauf erleben.
CB: Was das Volk mit der Minder-Initiative angenommen hat, war doch keine Regulierung! Zur Privatwirtschaft gehört primär der Schutz des Eigentums, das ist eine staatliche Aufgabe. Wenn sich nun in Grossfirmen mit 500 000 Aktionären die Manager aus der Kasse bedienen können, ist das Privateigentum nicht mehr ge-schützt – die Initiative verpflichtet den Staat lediglich, seiner Aufgabe nachzukommen.
GK: Wenn die Firmen nicht mehr selber bestimmen dürfen, wie sie die Saläre handhaben, ist das eine zusätzliche Regulierung. Sie können diese gut finden, aber das ändert nichts daran, dass es sich um eine Regulierung handelt.
CB: Wir stehen ja bei den ganz grossen Gesellschaften vor dem Problem, dass die Macht dort derart pulverisiert ist, dass es keine Eigentümer mehr gibt. Und schauen Sie doch mal, wo die grössten Salärüberschreitungen passieren: im Banken- und Pharmabereich, sprich in den am stärksten regulierten Branchen überhaupt. Das ist typisch!
Die Zuspitzung ist bemerkenswert, Sie sagen letztlich, dass das Eigentum in den multinationalen Unternehmen mit ihren unüberschaubar vielen Aktionären so zersplittert ist, dass diese Firmen gleichsam sozialistisch funktionieren, sprich: ohne klaren Eigentümer. Was können Sie mit dieser These anfangen, Herr Levrat?
CL: Ich freue mich sehr, den Pharmaleuten, die ich regelmässig treffe, das nächste Mal zu erzählen, dass Novartis sozialistisch funktioniert… das ist wirklich gut! Was die Initiative war, ist klar: ein Aufstand der Anständigen gegen Auswüchse, die nicht mehr annehmbar sind. Natürlich ist es eine Regulierung, und Regulierungen sind – so paradox es klingen mag – das direkte Resultat von Liberalisierungen. Es ist einfach so: Mit der Privatisierungspolitik, die die westliche Welt seit den 1980er Jahren gefahren ist, hat die Regulierungsdichte massiv zugenommen. In Branchen, die liberalisiert werden, wird ein relativ einfaches Verhältnis – jenes zwischen dem Staat als Eigentümer und Unternehmen – durch tonnenweise Regelungen ersetzt.
Wenn Sie von den «Anständigen» sprechen, führt uns das zurück zur Gesellschaft und zum Mittelstand. Dieser wird in der Regel mit dem «Erfolgsmodell Schweiz» – freilich ein ebenso diffuser Begriff wie der «Mittelstand» selbst – assoziiert, einer Art Konsens auf der Basis von Engagement und Bescheidenheit: In unserem Land soll sich Leistung lohnen, doch braucht es immer auch Augenmass und Ausgleich. Glauben Sie, dass dieses Grundmodell gerade einbricht oder erleidet es nur eine momentane Schwäche?
CL: Für mich basiert das Erfolgsmodell eindeutig auf unserer guten öffentlichen Infrastruktur und zu einem wesentlichen Teil auf der Berufsbildung, die im politischen Diskurs massiv unterschätzt wird. Dank ihr haben wir eine tiefe Jugendarbeitslosigkeit und junge Leute, die ohne Umwege über 15 Praktika ins Berufsleben einsteigen können. Das trägt letztlich zu einer starken sozialen Kohäsion bei, die ich ebenfalls als Grundpfeiler unseres «Erfolgsmodells» erachte. Damit meine ich das, was Sie als «Leistung» bezeichnen, nämlich das Einverständnis, dass man in der Schweiz ein gutes Leben führen kann, wenn man sich etwas anstrengt. Und genau dieser Konsens ist heute – durch die Globalisierung und die immer ungerechtere Einkommens- und Vermögensverteilung innerhalb der Schweiz – in Gefahr. Der Eindruck, dass wir alle im gleichen Boot sitzen, schwindet.
CB: Wollen Sie gleich die ganze Globalisierung abschaffen? Das wollen Sie vielleicht, aber das können Sie nicht! Die Leistungsorientierung ist in der Schweiz doch intakt, das weiss ich aus eigener Erfahrung. Ich bin ein global tätiger Industrieller, und in der Industrie kennen wir die Leute, und die Leute kennen uns. Wir reden miteinander, wir essen in derselben Kantine. Das gibt einen Zusammenhalt, der leistungsfördernd ist, das kann ich Ihnen sagen. Aber vor allem, Herr Levrat: ich freue mich, dass Sie hier die Berufslehre so loben – das ist neu bei den Sozialdemokraten! Natürlich ist die Meisterlehre unsere Stärke. Aber was haben wir in den letzten Jahren kämpfen müssen, weil Sie sie verschulen wollten. Heute müssen ja alle an die Universität und wir haben zu viele mittelmässige Akademiker statt gute Berufsleute. In der Bundesverwaltung, was sich da herumtreibt mit Soziologiestudium und ähnlichem… die hätten gescheiter eine Berufslehre gemacht!
Ich [RS] bin nun fast gezwungen, eine Lanze zu brechen für die Geistes- und Sozialwissenschaften, denn ich habe etwas viel Schlimmeres studiert – Philosophie. Da ist Soziologie ja fast noch heilig…
CB: Na, es macht mancher eine Dummheit im Leben, Herr Scheu! Immerhin sind Sie nicht Beamter geworden. (lacht) Ausserhalb der Bundesverwaltung ist es aber nicht so, dass die Berufsleute weniger verdienen – ich habe selber 130 Lehrlinge, und die kommen nach der Lehre in kurzer Zeit in Löhne rein, die sich sehen lassen dürfen.
CL: Ich weiss nicht, wie man es wegdiskutieren könnte: Das Einkommen von Leuten mit Berufslehre ist in den letzten 10 Jahren um 0,4 Prozent gesunken. Es gibt 430 000 Leute, die weniger als 4000 Franken verdienen, davon 140 000 mit einem Lehrabschluss.
CB: Ach was!
CL: Ich nenne Ihnen lediglich die Bundeszahlen, wenn Sie gegen Zahlen und gegen den Bund sind, kann ich nichts machen…
CB: Vielleicht ist das in den letzten fünf Jahren mit der Personenfreizügigkeit passiert, das könnte natürlich sein. (lacht)
CL: Das war in den letzten 10 Jahren und hat keinen Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit. Wenn es etwas braucht für den Erfolg der Schweiz, dann ist es nicht der «succèSuisse» von Ruedi Noser, sondern eine Stärkung der Berufslehre. Das ist das A und O.
CB: Sie sollten nicht nur über Leute reden, die eine Berufslehre absolviert haben, sondern auch mit ihnen. Sie können doch nicht einfach solche Sachen erzählen.
CL: Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Es gibt 430 000 Leute, die weniger als 4000 Franken verdienen, davon 140 000 mit einem Lehrabschluss.
Lassen wir auch in dieser Frage noch die Stimme der Wissenschaft sprechen: Herr Kirchgässner, ist das «Erfolgsmodell Schweiz» in Gefahr oder ist das alles viel Lärm um nichts?
GK: Ich glaube nicht, dass das Erfolgsmodell wirklich in Gefahr ist, es gibt aber sicher einige Schwierigkeiten. Der traditionelle Zusammenhalt, der für eine Willensnation wichtig ist, hat in letzter Zeit Brüche bekommen. Ein wesentlicher Punkt dabei ist, dass wenig qualifizierte Arbeit durch die Globalisierung in der Tendenz schlechter bezahlt oder ganz ins Ausland ausgelagert wird. Ein Verlag, der in Lausanne angesiedelt ist, arbeitet heute im wesentlichen mit indischen Fachkräften.
CB: Aber Herr Professor, das ist doch normal, es können doch nicht alle Bereiche in der Schweiz existieren! Die Schweiz muss einfach immer wieder Produkte erfinden und erschaffen, die so einzigartig sind, dass sie in den Billiglohnländern nicht produziert werden können. Wenn einer in Indien das Gleiche machen kann wie wir hier, dann machen wir hier etwas falsch.
Daneben gibt es auch zahlreiche Bereiche, die nicht ausgelagert werden können: Die Haare können wir uns nicht in Indien schneiden lassen.
GK: Das ist natürlich richtig, es gibt Dienstleistungen, die nicht verlagerbar sind. Eine ganze Reihe von Tätigkeiten relativ geringer Qualifikation kann aber ausgelagert werden, und auf diese gibt es einen Lohndruck, der unbestreitbar zu einer gewissen Spreizung der Löhne führt.
Was bedeutet das alles nun für die Demokratie? Wenn das Volkseinkommen über längere Zeit schrumpft und es weniger zu
verteilen gibt, wird es früher oder später zu sozialer Unrast und politischer Unruhe kommen. Muss man also primär darauf achten, genügend Wohlstand zu generieren, wenn man die Demokratie am Leben erhalten will, Herr Levrat?
CL: Ich glaube nicht, dass wir in der Schweiz primär ein Wachstumsproblem haben. Wir haben ein Verteilungsproblem. Was nun die Schnittfläche zwischen Wirtschaft und Demokratie betrifft, gibt es drei Bereiche, in denen wir aktiv sein müssen. Der erste ist jener der global tätigen Unternehmen, die – wie bereits ausgeführt – in einen Dialog mit der Gesellschaft treten müssen. Der zweite ist die Finanzregulierung. Ich diagnostiziere hier ein klares Marktversagen, das zu einer Machtkonzentration in wenigen Händen geführt hat. Ich weiss, dass die Liberalen es genau andersherum sehen…
…wir brauchen gar nicht zu widersprechen, Sie haben unseren Einspruch bereits antizipiert…
CL: …ja, ich habe gesehen, dass Sie Luft geholt haben…
…sehr schön. Damit würden wir freilich ein neues Fass öffnen. Bleiben wir bitte bei der Demokratie!
CL: Die Regulierung der Finanzen ist eine Kernfrage in der Demokratie! Wenn wir eine Parallelwirtschaft zulassen, die praktisch keine Verbindung mehr zur Realwirtschaft hat, dann stehen wir vor einer Situation, die die demokratische Kontrolle über unsere Wirtschaft und den volkswirtschaftlichen Nutzen einer solchen Entwicklung im Kern betrifft. Der letzte Bereich ist jener, in dem der Markt versagt. Das beste Beispiel hierfür ist die Gesundheit; hier orten wir ein klassisches Demokratiedefizit und haben deshalb die Initiative für eine öffentliche Krankenkasse lanciert.
Herr Blocher, wie beurteilen Sie die Zusammenhänge zwischen Demokratie und Marktwirtschaft?
CB: Weder handelt es sich dabei um Gegensätze, noch haben die beiden zwingend etwas miteinander zu tun. Es gibt diktatorische Staaten, die eine hervorragende Marktwirtschaft betreiben, und umgekehrt gab es immer auch Demokratien, die keine Marktwirtschaft kennen, die griechischen Poleis etwa: Volldemokratien ohne Marktwirtschaft.
Nun ja, nur die freien Bürger hatten in diesen Demokratien etwas zu sagen, da ist unsere direkte Demokratie vermutlich «voller».
Zu dieser möchten wir zum Schluss nun auch noch kommen: Sie, Herr Blocher, schätzen die direkte Demokratie, weil sie die Macht der Politik und der gewählten Politiker beschränkt. Bei all den zurzeit anstehenden Abstimmungen könnte man nun aber den Eindruck
bekommen, dass sich die direkte Demokratie vom Mittel der Machtbeschränkung in ein Mittel der Politikausübung verwandelt. Ohne den Umweg über das Parlament zu nehmen, gebärden sich die Bürger über die direkte Demokratie selber als Politiker – was letztlich dazu führt, dass zahlreiche Lebensbereiche politisiert und kollektiviert werden. Wie stehen Sie zu dieser Entwicklung?
CB: Ich merke nichts von einer Kollektivierung. Aufs Ganze gesehen hat die direkte Demokratie einen dämpfenden Einfluss auf die Verstaatlichung und insbesondere auf die Höhe der Steuern. Politiker haben die Neigung, Geld auszugeben, und diese Neigung korrigiert die direkte Demokratie. Die Abenteuer in der Energiepolitik etwa kann man nur machen ohne das Volk. Befragt man das Volk, setzt es Schranken: In Illnau-Effretikon, wo die Gutmenschen nicht nur erneuerbare Energie für die Gemeinde durchsetzen, sondern auch gleich noch ein riesiges Photovoltaikkraftwerk bauen wollten, hat das Volk an der Urne klar Nein gesagt. Das heisst: die direkte Demokratie dient dazu, möglichst auf der tiefsten Ebene den grössten Unsinn zu verhindern. Ich behaupte nicht, dass Volkes Stimme Gottes Stimme sei. Insgesamt aber ist das Volk weniger interventionistisch als das Parlament.
Aber auch nur, weil die meisten Bürger gewissermassen bürgerlich ticken – es könnte ja aber auch sein, dass sie irgendwann sozialdemokratisch ticken, dann würde sich das Bild ändern.
CB: Es ist eine Frage des Vertrauens. Wenn man mehr Vertrauen in die Staatswirtschaft, in den Sozialismus oder Kommunismus hat, dann ändert sich das natürlich – aber so ist es ja nicht. Schauen Sie nur mal das klägliche Resultatlein der 1:12-Initiative an.
Herr Levrat?
CL: Ich würde zuallererst sagen: Direkte Demokratie, Demokratie überhaupt, setzt einen minimalen Respekt voraus vor denjenigen, die anders denken. Ein Wahlslogan wie «Schweizer wählen SVP» steht für mich in direktem Widerspruch zu diesem Grundverständnis.
CB: Auf jeden Fall haben mehr Schweizer SVP gewählt als SP.
CL: Ich gratuliere dazu, möchte aber daran erinnern, dass Sie drei Prozent verloren haben…
…zurück zum Thema, bitte…
CL: …alle Politiker von allen Seiten versuchen im Zusammenhang mit der direkten Demokratie immer jene Fälle aufzuzeigen, in denen das Volk ihnen recht gegeben hat. Im Verhältnis zum Markt sind zwei Beispiele interessant: erstens die Privatisierungs- und Liberalisierungsvorlagen. Hier steht das Volk mit seiner prinzipiell ablehnenden Haltung ganz klar auf unserer Seite. Und zweitens die Frage der Renten und der Altersvorsorge. Auch hier stimmt das Volk für uns. Es funktioniert dabei als Regulator, und in meinen Augen braucht es, gerade in der Wirtschaft, mehr Demokratie, eine stärkere Mitwirkung und Mitsprache. Wir sehen die direkte Demokratie als unsere Alliierte und benutzen sie – gerade auch mit den aktuellen Initiativen –, um negativen Entwicklungen innerhalb des Schweizer Systems entgegenzuwirken.
Herr Kirchgässner, Sie haben das letzte Wort – zur Frage der direkten Demokratie und auf dem heutigen Podium.
GK: Wenn man die letzten 30 bis 40 Jahre überblickt, stellt man fest, dass die direkte Demokratie zum Teil Regulierungen und zum Teil Liberalisierungen verhindert hat. Das heisst: sie ist keiner Seite eindeutig zuzuordnen. Sie gibt der Bevölkerung die Möglichkeit eines zusätzlichen Vetos. Und sie sorgt dafür, dass über entscheidende Probleme Diskussionen geführt werden, die in anderen Ländern nicht stattfinden; das ist sehr positiv. Diese Diskussionen führen wiederum zu einem besseren Zusammenhalt der Gesellschaft. Natürlich muss jeder im Gegenzug in Kauf nehmen, dass gelegentlich Entscheide fallen, die er sich nicht gewünscht hätte, dass die Mehrheiten sich von Abstimmung zu Abstimmung ändern. Dafür zählt man nicht wie in einer rein repräsentativen Demokratie vier Jahre lang fix zur Regierung oder zur Opposition. Manche Ökonomen leiden unter der direkten Demokratie ganz besonders, weil in Abstimmungen der Ausgleich oftmals mehr zählt als die Effizienz, die politische Erwägung wichtiger ist als das ökonomische Argument. Aber das gehört dazu. Man muss sich dessen bewusst sein; Anlass zu grundsätzlicher Kritik gibt dies nicht: Die direkte Demokratie funktioniert und ist ein zukunftsfähiges System, von dem ich mir wünschte, dass es viele Nachahmer finden würde.
Ich denke: wir haben hier wiederum einen Konsens. Das passt als Schluss dieses klärenden Streitgesprächs, wobei wir natürlich noch lange weiterdiskutieren könnten. In diesem Sinne schliessen wir mit einem Zitat von Bertolt Brecht: «Und so sehen wir betroffen / den Vorhang zu und alle Fragen offen.» Herzlichen Dank an die Debattanten!
Christoph Blocher ist Industrieller, alt Bundesrat und Nationalrat für die Schweizerische Volkspartei (SVP).
Gebhard Kirchgässner ist emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Ökonometrie an der Universität St. Gallen. Von 2003 bis 2007 war er Präsident der Kommission für Konjunkturfragen des schweizerischen Bundesrats. Derzeit forscht er am Wissenschaftskolleg zu Berlin.
Christian Levrat ist Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS) und Ständerat des Kantons Fribourg.
Florian Rittmeyer ist stellvertretender Chefredaktor dieser Zeitschrift.
René Scheu ist Herausgeber und Chefredaktor dieser Zeitschrift.
Beim vorliegenden Text handelt es sich um eine redigierte und gekürzte Transkription des Debattengesprächs, das auf Einladung des «Schweizer Monats» und der Fredy & Regula Lienhard-Stiftung am 17. Dezember 2013 im Bernhard-Theater in Zürich stattfand. Karen Horn, ebenfalls eingeladen, war an diesem Abend leider nicht abkömmlich. Die Grundlage der Debatte bildeten die Textbeiträge der Autoren zum Spannungsfeld von Marktwirtschaft und Demokratie, die im Dossier der November-Ausgabe abgedruckt waren.