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Helvetia illuminata

Alte und neue Rezepte gegen das Marktversagen im politischen Wettbewerb.

 

Was ist eine aufgeklärte Politik? – Doch eine, in der die Diskursteilnehmer mit möglichst umfassenden Informationen versorgt sind und über möglichst viele valable Alternativen entscheiden können. Oder in der Sprache des Ökonomen: wenn die politischen Institutionen so ausgestaltet sind, dass der Markt für politische Dienstleistungen und der Wettbewerb der politischen Ideen funktionieren können. Die Schweiz ist in dieser Hinsicht ein Erfolgsmodell – aber eines mit Reformbedarf. Denn trotz gut eta­blierter wettbewerbsfördernder Institutionen gehört auch hierzulande das Marktversagen zur Politik wie das Amen in die Kirche.

In der politischen Arena – oder eben auf dem Markt für Politik – tauschen Politiker und Parteien als Anbieter sowie Bürger und Interessengruppen als Nachfragende politische Dienstleistungen gegen Wählerstimmen, aber auch gegen Parteispenden und Schlimmeres. Dabei wirken die drei typischen Quellen von Marktversagen – externe Effekte, natürliche Monopole und asymmetrische Information – in der Politik noch stärker als in der Wirtschaft. Externe Effekte sind allgegenwärtig, weil die Nutzen und Kosten politischer Leistungen nicht nur die «Auftraggeber» treffen – also diejenigen, die für diesen Weg gestimmt, die entsprechenden Volksvertreter gewählt oder dafür gespendet haben –, sondern alle Steuerzahler sowie weitere Gruppen, und sie wirken sich auch auf andere Gebietskörperschaften aus. Ein weiteres Beispiel sind Monopole: Die Amtsinhaber haben während der typischerweise vierjährigen Amtszeiten ein Machtmonopol und bei der Wiederwahl einen riesigen Vorteil (der «Incumbency Effect»).

Geradezu charakterisierend für die Politik ist das Problem der asymmetrischen Information. Zum einen sind die gesellschaftlichen Probleme so komplex, dass alle politischen Handlungsträger – Politiker und Bürger – permanent überfordert sind. Zum anderen sind die Anreize der Bürger, sich vernünftig zu verhalten, in der Politik weit kleiner als in der Wirtschaft. Denn ein einzelner Wähler hat kaum Einfluss auf die Wahl- und Abstimmungsergebnisse und deshalb weder Anreize, sich gut zu informieren, noch instrumentell für das zu stimmen, was er wirklich als Lösung will. Vielmehr kann er an der Urne gratis protestieren, moralisieren und Gefühle ausleben, oder kurz: sich expressiv verhalten.1

Als Folge leidet die repräsentative Demokratie vielfach: Erstens wissen oft weder Politiker noch Bürger, wie Probleme effizient zu lösen wären. Zweitens wissen die Politiker nicht, was die Bürger wirklich wollen. Drittens wissen die Bürger nicht, wofür die Politiker wirklich einstehen. Viertens sind Wahlversprechen nicht bindend. Entsprechend machen Politiker oft absurde Wahlversprechen, brechen auch vernünftige Versprechen und weichen weit von den Wählerpräferenzen ab. Fünftens gibt es in der Politik keinen Patentschutz für Ideen. Da gute Ideen deshalb oft gestohlen werden, lohnt es sich für Politiker kaum, solche in harter Arbeit zu entwickeln. Sechstens wirken diese Mechanismen asymmetrisch. Das oben genannte Unwissen prägt zwar die Beziehung zwischen den Politikern und vielen Bürgern – aber nicht allen: Gut organisierte Interessengruppen informieren ihre Mitglieder über die wahren Positionen der Politiker und diese über die Präferenzen ihrer Mitglieder. Folglich lohnt es sich für Politiker vor allem, auf die Wünsche der gut organisierten Gruppen einzugehen.

Entscheidend ist deshalb, die Wähler dazu zu bringen, an der Urne nicht einfach zu protestieren und zu moralisieren, sondern sich ernsthaft zu überlegen, wen oder was sie wirklich als Lösung haben wollen. Anderenfalls werden Traumfänger und reinste Interessengruppenvertreter gewählt, und auch vernünftige Politiker verhalten sich wie Traumfänger und reinste Interessengruppenvertreter, um ihre Wahlchancen zu erhöhen.

Wie also bringt man mehr Vernunft und Allgemeinwohlorientierung in die Politik?

Die ökonomische Lösung heisst: Glaubwürdigere Information und bessere Anreize für Bürger und Politiker durch intensiven politischen Wettbewerb in all seinen vier Dimensionen:

1. Wettbewerb zwischen Politikern und Parteien um die Regierungsmacht, also repräsentative Demokratie.
2. Wettbewerb um einzelne Politikmassnahmen, also direkte Demokratie.
3. Wettbewerb zwischen Regierungen um Bürger und Ressourcen, also föderalistischer Wettbewerb zwischen Gebiets­körperschaften.
4. Wettbewerb zwischen verschiedenen gewählten politischen Gremien.

Das politische System der Schweiz zeichnet sich durch besonders effektive und originelle Lösungen in all diesen Dimensionen aus. Deshalb werden sie im folgenden kurz dargestellt.

Aufklärung auf Schweizerisch

Die Schweiz hat im internationalen Vergleich die weitaus stärksten direktdemokratischen Institutionen. Direkte Demokratie ist ein weit effektiverer Generator politischer Information als Meinungsumfragen und Wahlkämpfe. Weil Abstimmungsvorlagen weit konkreter und glaubwürdiger als Wahlversprechen sind, ist der gesellschaftliche Diskurs vor Abstimmungen stärker inhaltsbezogen und sachlicher als vor Wahlen. Dabei lernen die Bürger viel über die wahren Positionen der Politiker, die Politiker viel über die wahren Wünsche der Bürger, und beide erfahren viel über Probleme und ihre möglichen Lösungen. Zugleich ist bei Initiativen klar, wer die Urheber der Ideen sind, was die Anreize der Politiker stärkt, gute Lösungen zu erarbeiten. Direkte Demokratie bringt deshalb nicht nur gute Entscheidungen, sondern sie fördert auch die Funktionsfähigkeit der repräsentativen Demokratie. Diese positive Sicht der direkten Demokratie wird durch viele empirische Studien gestützt.2

Föderalismus und Dezentralisierung sind ebenfalls effektive Generatoren von politischer Information und ernsthaftem Diskurs. Im internationalen Vergleich ist die Schweiz extrem föderalistisch und das am stärksten dezentralisierte Land.3 Hierzulande nützt es den Bürgern persönlich, über die Qualität der lokalen Politik informiert zu sein, denn diese Information können sie leicht für private Standortentscheidungen nutzen. So bringt ihnen die Verlegung des Wohnortes oder Geschäftssitzes schon nur um wenige Kilometer oft eine ganz andere Politik mit anderen Leistungen und Steuern. Zudem entstehen durch die politische Vielfalt viele Vergleichs- und Lernmöglichkeiten. Dadurch wird die politische Information vertieft und der politische Diskurs realistischer. In Zentralstaaten hingegen nützt es einzelnen Bürgern kaum etwas, politisch informiert zu sein. Zudem ist es ausserordentlich schwierig zu erfahren, was realistische Alternativen wären.

Unscheinbar, aber oho: zwei «Geheimrezepte»

Über direkte Demokratie und Föderalismus hinaus hat die Schweiz auch in den anderen zwei Dimensionen politischen Wettbewerbs besonders fruchtbare Institutionen:

Wettbewerb um die Regierungsmacht. Politiker haben dann besonders starke Anreize, sich für das Wohl möglichst vieler Einwohner ihrer politischen Einheit einzusetzen, wenn sie nach dem Mehrheitsprinzip in Gesamtwahlkreisen gewählt werden. In vielen Ländern werden deshalb die Bürgermeister, die Gouverneure von Gliedstaaten oder der nationale Präsident nach diesem Verfahren gewählt. Zumeist vertraut die Bevölkerung diesen Politikern weit mehr als Politikern, die in kleinen Wahlkreisen oder im Verhältniswahlrecht gewählt wurden und deshalb Anreize haben, lokale oder ideologische Partialinteressen zu vertreten. Anders als international üblich werden in der grossen Mehrheit der Schweizer Kantone und Gemeinden nicht nur die Regierungs- bzw. Gemeindepräsidenten, sondern alle Regierungsmitglieder (zumeist 5 bis 9) in Mehrheitswahlen mit mehreren Sitzen gewählt (Multi Seat Majority).4 Das klappt seit weit über 100 Jahren hervorragend. Das System gibt allen Politikern, die in die Regierung gewählt werden wollen, starke Anreize, sich tendenziell in der Mitte des politischen Spektrums zu positionieren. Dabei sind die Zentripetalkräfte viel stärker als bei Mehrheitswahlen in einsitzigen Wahlkreisen wie etwa in den USA oder Grossbritannien.5 Weil für die nötige absolute Mehrheit immer auch Stimmen aus anderen Parteilagern benötigt werden, können die Parteien die Wahlchancen ihrer Kandidaten steigern, indem sie die Kandidatenzahl senken. Die Wähler sind so gezwungen, ihre Stimmen auf Kandidaten verschiedener Parteien zu verteilen. Das Ergebnis sind dann die für die Schweiz typischen «Konkordanzregierungen», deren Mitglieder aus allen grösseren Parteien kommen, aber meist trotzdem gut zusammenarbeiten können, weil sie eben durch das Mehrheitswahlverfahren «eingemittet» werden. Weil die Präsidentschaft in vielen Fällen zwischen den Regierungsmitgliedern rotiert, herrscht zwischen den Regierungsmitgliedern ein weitgehend machtfreier Diskurs, und die Regierung entscheidet in Mehrheitsabstimmungen, was eine weitere Einmittung der Politik bringt.

Wettbewerb zwischen politischen Gremien. In vielen Ländern gibt es einen solchen Wettbewerb in schwacher Form schon heute: dank den Rechnungshöfen. Sie dürfen aber zumeist nur im Nachhinein die Politik kritisieren. Wichtig wäre, dass sie schon von vornherein – vor den politischen Entscheidungen – die Bürger informieren und Empfehlungen abgeben können und dass sie vom Volk gewählt werden. Die Schweizer Gemeinden kennen eine solche weltweit wohl einmalige Regelung6: In allen Gemeinden mit einer Gemeindeversammlung anstelle eines Parlaments wählen die Bürger neben der Regierung auch eine sogenannte Rechnungsprüfungskommission (zuweilen auch Finanz- oder Geschäftsprüfungskommission). Sie soll die Vorschläge der Regierung analysieren und kritisieren und den Wählern Empfehlungen geben – darf aber nichts selbst entscheiden. Ein geradezu genialer Kniff: Während der gemeine Oppositionspolitiker selbst an die Regierungsmacht kommen will, also Anreize hat, die Regierungspolitik möglichst zu blockieren und zu torpedieren, und deshalb kaum konstruktive Beiträge macht, wollen die Mitglieder der Kritikkommission wieder in die Kommission gewählt werden. Entsprechend haben sie Anreize, Vorschläge zur Verbesserung der Projekte der Regierung vorzubringen. Durch den Wettbewerb zwischen der Regierung und dieser Kommission entwickelt sich ein ernsthafter glaubwürdiger politischer Diskurs, der oft tatsächlich bessere Lösungen bringt.

Erfolgsinstitutionen stärken und ausbauen

Die schweizerischen Institutionen und ihre Erfolgsrezepte werden von vielen Seiten bedroht: durch «Megatrends» wie die Globalisierung, durch systemimmanente Dynamik7, durch ihren eigenen Erfolg8 sowie durch Politiker und Interessengruppen, die sich selbst mehr und den Bürgern weniger Einfluss wünschen. Für die Zukunft der Schweiz ist es aber entscheidend, dass sie bewahrt und gestärkt werden. Und warum nicht ausgebaut – etwa indem das Erfolgsmodell der Rechnungsprüfungskommission aus der Gemeindepolitik auf die kantonale und nationale Ebene übertragen wird?

Alternativen für «alternativlose Politik» dank Gegenvorschlagskommissionen. Durch den beschleunigten technischen Fortschritt wächst die Dynamik der politischen Probleme. Die Schweiz muss deshalb immer schneller auf internationale Veränderungen reagieren, und das Verbleiben im politischen Status quo wird mit Verweis auf diesen Druck immer öfter als «alternativlos» gesehen und dargestellt. Damit wächst die Agendasetzungsmacht von Parlament und Regierung gegenüber dem Volk. Demokratie beruht aber darauf, dass die Bürger stets zwischen zwei realistischen Alternativen wählen können. Abstimmungen mit nur einer realistischen Option sind genauso undemokratisch wie Wahlen mit nur einem Kandidaten. Deshalb sollten auf Bundesebene und in den Kantonen Gegenvorschlagskommissionen nach dem Vorbild der kommunalen Rechnungsprüfungskommissionen eingerichtet werden, vom Volk nach dem Mehrheitsverfahren direkt gewählt. Diese Kommissionen haben die Aufgabe, Kritik an den Vorschlägen von Regierung und Parlament zu äussern und konkrete Gegenvorschläge zu entwickeln. Die Bürger stimmen dann über den Vorschlag der Regierung vs. denjenigen der Gegenvorschlagskommission vs. den Status quo ab. Die Wahl der Kommissionsmitglieder nach dem Mehrheitsverfahren mit mehreren Sitzen garantiert, dass sie sich konstruktiv um die Gesamtinteressen kümmern und dass die Kommission parteilich breit zusammengesetzt ist.

Die Politik leidet genauso an Marktversagen wie wirtschaftliche Märkte. Politikversagen ist sogar noch wahrscheinlicher, weil die Wähler keine harten Anreize haben, sich gut zu informieren und für die Vorlage zu stimmen oder die Politiker zu wählen, von denen sie wirklich eine Lösung der Probleme erwarten würden. Entsprechend haben auch die Politiker nur sehr schwache Anreize, für kluge gesellschaftliche Lösungen einzutreten. Aus dieser Falle permanenten Politikversagens helfen nur besonders kluge politische Institutionen. In vielerlei Hinsicht verfügt die Schweiz über diese Institutionen. Zugunsten einer aufgeklärten Politik in der Zukunft gilt es sie zu bewahren, zu stärken und Erfolgsmodelle auszubauen und weiterzuentwickeln.

  1. Geoffrey Brennan und Loren Lomasky: Democracy and Decision. The Pure Theory of Electoral Preference. Cambridge: Cambridge University Press, 1997.

  2. Gebhard Kirchgässner, Lars Feld und Marcel Savioz: Die direkte Demokratie: Modern, erfolgreich, entwicklungs- und exportfähig. Basel/München: Helbing und Lichtenhahn/Vahlen, 1999. John G. Matsusaka: Public Policy and the Initiative and Referendum: a Survey with Some New Evidence. In: Public Choice 174 (2018), S. 107–143.

  3. Nach den üblichen Indizes für Dezentralisierung ist die Schweiz etwa gleich stark dezentralisiert wie die USA und Kanada. All diese Indizes sind aber nicht grössenbereinigt. Wird die Grösse der politischen Einheiten berücksichtigt, ist die Schweiz sehr viel stärker dezentralisiert als die USA und Kanada.

  4. Reiner Eichenberger, Marco Portmann und David Stadelmann: Gute politische Institutionen: Eine Neuinterpretation für die Schweiz. CREMA Working Paper 2018-01. Bei Mehrheitswahlen mit mehreren Sitzen erhält jeder Bürger so viele Stimmen, wie es Sitze zu verteilen gibt. Er kann dann die Stimmen frei auf die Kandidaten verteilen, aber ohne zu kumulieren.

  5. Gary W. Cox: Centripetal and Centrifugal Incentives in Electoral Systems. In: American Journal of Political Science 34 (1990), S. 903–935.

  6. Mark Schelker und Reiner Eichenberger: Auditors and Fiscal Policy: Empirical Evidence on a Little Big Institution. In: Journal of Comparative Economics 38 (2010), S. 357–380.

  7. Reales Wirtschaftswachstum bringt wegen der progressiven Steuern überproportional wachsende Steuereinnahmen. Deshalb müssen die Steuersätze permanent gesenkt werden, wenn die Staatsquote nicht explodieren soll. Das tun aber nur die Kantone und Gemeinden, hingegen nicht der Bund. Deshalb findet eine automatische Zentralisierung statt.

  8. So bringt direkte Demokratie hohe Standortattraktivität und hohe Zuwanderung. Durch den hohen Anteil von Ausländern (er beträgt in der Altersgruppe der 30- bis 40-Jährigen über 40 Prozent) und damit Stimmrechtslosen verliert direkte Demokratie aber ihre integrierende Kraft.

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