Helvetia braucht grössere Hosen
Die 10-Millionen-Schweiz erwartet uns bereits 2040. Es braucht keinen Zuwanderungsstopp, sondern einen Ausbau der Infrastruktur und mehr Wohnraum.
Die Aussicht vom Waidberg auf den Zürichsee: Am fernen Horizont schimmern die Berge, Häuser und Kirchen von Zürich stehen am Ufer des Sees, ein paar Spaziergänger in der Sonntagstracht. So hat es der Maler Heinrich Siegfried in der Mitte des 19. Jahrhunderts künstlerisch festgehalten.
Der gleiche Aussichtspunkt in der Gegenwart: Wo sich früher Wiesen und Wälder hinzogen, reiht sich heute Haus an Haus. Mit der Industrialisierung wuchsen die Stadt und ihre Bevölkerung schubartig. 1850 wohnten rund 40 000 Menschen in der Stadt, 30 Jahre später waren es bereits doppelt so viel. Heute leben mit rund 432 000 Menschen zehnmal mehr Menschen in Zürich.
Zürich wächst im Einklang mit den anderen Wachstumszentren in unserem Land ungehindert weiter – Politiker und Medien sprechen nun von der 10-Millionen-Schweiz. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Gestaltung und möglichen Veränderungen unseres Lebensraums?
Das Bundesamt für Statistik (BFS) aktualisiert seine Szenarien zum Bevölkerungswachstum in der Schweiz regelmässig. Die letzte Aktualisierung mit einem Zeithorizont von dreissig Jahren gab es im Mai 2024. Für seine Schätzungen erstellt das BFS drei Grundszenarien: das «Referenzszenario» (weiter gemäss bisherigem Trend), das Szenario «hoch» (stärkeres Wachstum der Bevölkerung) und das Szenario «tief» (geringes Wachstum). Laut Referenzszenario dürfte die 10-Millionen-Grenze bereits 2040 überschritten sein. Gekoppelt an dieses Szenario ist eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung, während sich die Wirtschaft im «hohen» Szenario sehr gut, aber im «tiefen» Szenario nur gering entwickelt. Ein Fazit lautet: In 15 Jahren bereits dürften je nach Szenario 7 Prozent (tief), 14 Prozent (Referenz) oder 20 Prozent (hoch) mehr Menschen in der Schweiz wohnen.
Die Schweizer Bevölkerung passt in den Kanton Luzern hinein
Die Siedlungsfläche der Schweiz von rund 3000 Quadratkilometern entspricht 7,5 Prozent der Landesfläche oder ungefähr einer Fläche, die zweimal so gross ist wie der Kanton Luzern. Bevölkerung und Wirtschaft wachsen, doch mehr Menschen brauchen auch mehr Raum für Wohnen, Arbeit, Freizeit und Mobilität. Der sogenannte Dichtestress wird gemeinhin von politischen Kräften heraufbeschworen, die einem weiteren Bevölkerungswachstum kritisch gegenüberstehen. Zwar ist das morgendliche Pendeln in überfüllten S-Bahn-Zügen unangenehm, doch verglichen mit einer Fahrt in einer Tokioter U-Bahn zu Stosszeiten ist es immer noch zumutbar. Die wirklichen Probleme und Herausforderungen liegen woanders.
Die Raumplanung ist ein Dauerthema, denn hier müssen verschiedene, teilweise sehr widersprüchliche Interessen unter einen Hut gebracht werden. Gemeinden fürchten um ihre Autonomie, Umweltverbände kämpfen gegen die Zersiedlung an und möchten die unberührte Landschaft schützen. Immobilieninvestoren schliesslich müssen sich durch die Logik oder Unlogik von Bauzonen, Gestaltungsplänen, Richtplänen und lokalen Bauregulatorien kämpfen, wenn sie auf einer leeren Parzelle den dringend benötigten Wohnraum erstellen möchten.
Die erste Etappe der Revision des schweizerischen Raumplanungsgesetzes ist vor zehn Jahren in Kraft getreten und hat die Gemeinden in ihrer Autonomie beschnitten, ungehindert über ihre jeweiligen Bodenreserven zu verfügen. Mit den Immobilienpreisen sind auch die Bodenpreise in die Höhe geschnellt – was also lag näher, als einen solchen Schatz zu horten? Doch 2013 sprach sich das Schweizer Stimmvolk für eine Revision des Raumplanungsgesetzes aus: Bauland soll nicht ewig brachliegen, zu grosse Bauzonen müssen verkleinert werden. Das Gesetz schreibt den Kantonen vor, dass sie nur Baulandreserven für die nächsten 15 Jahre haben dürfen. Der Boden wird also knapper, doch die Krux liegt woanders: Die Baulandreserven befinden sich nämlich nicht dort, wo sich in Zukunft mehr Menschen ansiedeln wollen.
Besonders knapp sind die Baulandreserven beispielsweise in Zürcher Gemeinden, die im Raumordnungskonzept (ROK) des Kantons Zürich von 2014 als Handlungsräume für «Stadtlandschaft» oder «urbane Wohnlandschaft» definiert sind. Gemäss dem ROK soll das Bevölkerungswachstum zum überwiegenden Teil im bestehenden Siedlungsgebiet geschehen, mittels innerer Verdichtung. Der grösste Teil des Zuwachses soll in diesen Handlungsräumen stattfinden, die Bevölkerungszunahme in den eher ländlichen Handlungsräumen tendenziell gedrosselt werden. Das Prognosemodell geht von einem Zuwachs von etwa 284 000 Personen aus (83 Prozent des gesamten kantonalen Bevölkerungszuwachses des Kantons Zürich).
Baulandreserven am falschen Ort
Wo soll der zusätzliche Wohnraum aber nun entstehen? In den vom ROK definierten städtischen Entwicklungspolen rund um die Stadt Zürich sind die Bodenreserven nämlich sehr knapp. Hier hat in den letzten 10 bis 20 Jahren ein regelrechter Bauboom stattgefunden, besonders auf der Achse zwischen Zürich Nord und dem Flughafen. Wallisellen ist ein Paradebeispiel: Die Gemeinde ist nahe am Flughafen, gehört aber auch zum engen Gürtel der Agglomerationsgemeinden mit Anschluss an das stadtzürcherische Tram- und Busnetz. Im nahen Opfikon befindet sich neben zahlreichen Bürobauten und Hotels der Glattpark, eines der grossen Wohnbauprojekte, die buchstäblich auf der grünen Wiese entstanden sind. Schön ist anders, aber so geht es auch, scheinen sich die Planer gesagt zu haben. Im Gegensatz dazu gibt es Gemeinden in den Kantonen Baselland oder Wallis, die noch einige hundert Jahre Zeit haben, bis ihre Baulandreserven erschöpft sind.
«Not in my backyard» heisst das Phänomen: Verdichtung stösst auf breiten Konsens – aber bitte möglichst weit weg von meinem eigenen Haus. Gross angelegte Projekte wie Hochhäuser scheinen zwar in der Theorie ideal, um die Quadratur des Kreises hinzukriegen – unzählige Wohnungen und eine ideale Nutzung der Baulandreserven –, doch die fein verästelte Politik und ihre Akteure vermögen oft eine Vielzahl von Widerständen aufzubauen, die solche Projekte auf dem Reissbrett verharren lassen.
An der Zürcher Stadtgrenze hätte nach mehrfach geäussertem Volkswillen schon seit längerer Zeit ein neues Fussballstadion gebaut werden sollen. Das Projekt «Ensemble» mit Stadion, Hochhaus und Genossenschaftswohnungen schien breit abgestützt. Doch nun fordert eine Initiative ein Verbot von Hochhäusern in einem 200 Meter breiten Uferstreifen entlang der Limmat. Das «Ensemble»-Hochhaus befindet sich just in diesem Uferstreifen und wäre auch das einzige Projekt, das unter diese Gesetzgebung fallen würde. Niemand hat den geringsten Zweifel, dass es hier um eine weitere Verhinderungsaktion geht. Vergangenes Jahr hat das Zürcher Baurekursgericht alle Rekurse gegen das Projekt abgewiesen. Noch immer besteht aber die Möglichkeit, gegen den Gestaltungsplan und das nachfolgende Baugesuch durch alle gerichtlichen Instanzen hindurch zu rekurrieren.
«‹Not in my backyard› heisst das Phänomen: Verdichtung stösst auf
breiten Konsens – aber bitte möglichst weit weg von meinem eigenen Haus.»
Es muss ein Ruck durch alle Instanzen gehen
Ist dieses Tempo und dieses behördliche Kleinklein wirklich angemessen, wenn in etwa 20 bis 30 Jahren allein im Kanton Zürich rund 300 000 Neuzuzüger auf den Wohnungsmarkt drängen? Müsste nicht ein Ruck durch alle Instanzen gehen, um hier die nötigen Vorkehrungen zu treffen? Oder lassen sich einige mit dem Gedanken beruhigen, dass es uns doch immer wieder gelingt, uns mit einem Wust aus Kompromissen und Konsens durchzuwursteln?
Zur pragmatischen Lösungsfindung braucht es auch ein Denken in grösseren Zusammenhängen. Der Rat für Raumordnung auf Bundesebene hat 2019 im Auftrag des Bundesrats die möglichen Wirkungen von Megatrends auf die Raumentwicklung der Schweiz eingeschätzt und Empfehlungen formuliert. Der Rat erachtet die Globalisierung, Digitalisierung und Individualisierung als besonders raumrelevante Megatrends, beurteilt aber auch den Klimawandel und die demografische Entwicklung als raumwirksam. Einzelne Trends könnten sich gegenseitig verstärken. Die verheerenden Verwüstungen im Misoxtal haben dies nur allzu deutlich gemacht. Mehren sich solche Katastrophen und wandern die Bergbewohner aus den Tälern ab, könnte das den Siedlungsdruck im Unterland verstärken.
Fehlender Mut zur Utopie
Auch vermisse ich bei den gegenwärtigen Diskussionen den Mut zur Utopie. In Zürich gab es beispielsweise Anfang des 20. Jahrhunderts die «Gartenstadtarchitektur» mit englischen und deutschen Vorbildern. Die Gartenstadt galt als Ideallösung, da sie die Vorteile des Stadtlebens mit jenen des Landlebens vereinte. Das Modell war eine Reaktion auf die schlechten Wohn- und Lebensverhältnisse sowie die steigenden Grundstückspreise in den stark gewachsenen Grossstädten anfangs des 20. Jahrhunderts.
Die Architekten der Bewegung «Neues Bauen» wollten mit einer effizienten Bauweise günstigen Wohnraum für die untere Gesellschaftsschicht schaffen. Sie zeichneten Kleinsthäuser mit Flachdächern ohne Unterkellerung, um Material und Baukosten zu sparen. Die Architekten «industrialisierten» den Bauprozess mit vorgefertigten Teilen und standardisierten Prototypen für den massenhaften Nachbau. Manche Häuser hatten nur auf einer Seite Fenster, was langfristig Heiz- und Reparaturkosten sparte. Zwischen 1924 und 1929 wurden im Stadtzürcher Westen die Bernoulli-Reihenhäuser erbaut, die damals für jeweils 24 000 Schweizer Franken zu kaufen waren. Heute werden sie für eine Million Franken gehandelt, nicht zuletzt wegen der grosszügigen Gartenflächen und der Nähe zur Limmat.
Ein Quentchen Mut aus dieser Zeit täte uns sicher gut, wenn wir uns aus dem gegenwärtigen harmoniebedürftigen Kleinklein etwas befreien möchten. Löblich, dass die Stadt Zürich einzelne unansehnliche Parkplätze begrünt hat, wie auf der Papierwerdinsel beim Hauptbahnhof. Doch braucht es für diese winzige Fläche wirklich einen dreijährigen Strategieprozess mit Dialogverfahren und Einbindung von interessierten Bürgern, die in verschiedenen Workshops Lösungsvorschläge erarbeiten? Auf dem früheren Parkplatz ist nun ein staatlich koordinierter «Begegnungsort» entstanden. Soll heissen: auf Parkbänken sitzen Menschen und geniessen die fliessende Limmat auf der einen und den vorbeifliessenden Hauptverkehr auf der anderen Seite.
Schliesslich braucht es nach meinem Dafürhalten einen politischen Willen zur Realisierung von pragmatischen, wirtschaftsfreundlichen und nachhaltigen Lösungen, die uns ermöglichen, auch in 20 oder 30 Jahren unsere hohe Lebensqualität aufrechtzuerhalten. Die Ängste und Sorgen unserer Mitbürger und Mitbürgerinnen sind dabei ernst zu nehmen, doch eine Abschottung der Schweiz ist realitätsfern. Die lang andauernde Erfolgsstory der Schweizer Wirtschaft wäre ohne die Zuwanderung nicht möglich gewesen. Gerade bei den anstehenden Herausforderungen wie der Energiewende, der Digitalisierung oder der Automatisierung besteht ein grosser Mangel an spezialisiertem Personal. Gleichzeitig investieren wir Millionen an Steuergeldern, um die besten Unternehmen in die Schweiz zu locken; wir rufen also Unternehmen, und es kommen Menschen, die natürlich auch Wohnraum benötigen. Ob die Schweiz 10 oder 11 Millionen Einwohner haben wird, ist nicht die zentrale Frage. Diese lautet: Wie werden wir dieses Wachstum verarbeiten, und wollen wir so weiterwachsen?
Wenn es in Zügen nur noch Stehplätze gibt, wenn die Strassen verstopft sind, wenn die Wohnungsmieten in den Zentren nicht mehr bezahlbar sind, braucht es keinen Zuwanderungsstopp, sondern einen Ausbau der Infrastruktur und genügend Wohnraum. Wir sollten dichter bauen, schneller bauen und höher bauen und müssen den missbräuchlichen Einsprachen den Riegel schieben. Für diese griffige Formel braucht es einen festen Willen und einen breiten Konsens aller involvierten Parteien. Wer wachsen will, braucht die entsprechenden Kleider. Die Schweiz gleicht einem Teenager, der grössere Hosen braucht. Und nicht eine wachstumsverhindernde Hormonbehandlung.