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Helden lassen sich helfen

Der moderne Manager muss sich neu erfinden. Zentral dabei: Wissen dezentralisieren und ein qualifiziertes Netzwerk aufbauen.


Zeitgenössische Firmenchefs sehen sich ihrer unternehmerischen Gestaltungsmacht immer öfter beraubt. Dafür verantwortlich sind ein anhaltend wachsendes regulatorisches Prüfkorsett, höhere Transparenzanforderungen, zunehmende Sensibilitäten in bezug auf ethisch korrektes Verhalten und gesellschaftlich sinnvolles Wirken, eine schnell steigende Geschwindigkeit in den Daten- und Prozesswelten und nicht zuletzt die wachsenden Ansprüche der Mitarbeiter an ein modernes Arbeitsumfeld. Statt sich mit dieser neuen Gemengelage auseinanderzusetzen und sie produktiv zu machen, macht sich allerdings eine gewisse mentale Lähmung auf den Teppichetagen des Landes breit. Das muss sich ändern!
Die Organisationslehre und die Führungsphilosophien des 20. Jahrhunderts, die stark geprägt waren von Kontrolle durch Hierarchien und feste Strukturen, sind bis heute tief im Denken vieler Unternehmensführer verankert. Der Glaube an die Sinnhaftigkeit und Beherrschbarkeit grosser unternehmerischer Organisationen mit Pyramidenstruktur leitet sich dabei massgeblich von der militärischen Organisation und der praktischen Erfahrung aus den beiden Weltkriegen ab. Es ist also naheliegend, dass viele der heutigen Topmanager, die der MBA-Boom der 1990er Jahre hervorgebracht hat, ein ausgesprochen technisches Fachverständnis von Management haben und sich dieses Verständnis in den Unternehmenskulturen auch täglich reproduziert. Nicht wenige Chefs bauen dabei immer noch auf den (vermeintlichen) Informationsvorsprung durch Kommunikation von oben nach unten und auf ein weitgehend überholtes Vertraulichkeitsverständnis ganz im alten Sinne von «Wissen ist Macht».
Das Selbstbild von grossen Organisationen verlangt danach, die Kontrolle möglichst effizient zu halten und die Transaktionskosten zu senken. Organisatorische «Supertanker» entwickeln so mit enormer Kraft Kategorieführerschaften und Mega­brands, genügen sich in der Folge als geschlossene Ökosysteme dann aber auch weitgehend selbst. Wachstum hat in dieser Logik primär stabile Marktmacht und Grösse zum Ziel, der Ressourcenfokus liegt auf «Best Practices», die sich in aller Regel aus bewährten Vorgehensweisen – sprich: vom gestern – ableiten. Der Turm dominiert, um es mit den Worten von Niall Ferguson zu sagen, den Marktplatz: Stabilität und Skalierbarkeit haben Vorrang vor Agilität und Anpassungsfähigkeit.1

Falsch (aus)gebildet

Mit diesem Lern- und Führungsansatz sind die Herausforderungen von morgen nur schwer zu meistern. Digitale Vernetzung rund um den Globus und die Demokratisierung von Information können bestehende Systeme innerhalb von Monaten umkrempeln, etwa indem sie Vermittler, Zwischenhändler und andere, zum Teil sehr grosse Nutzniesserbranchen von jetzt auf gleich überflüssig machen. Einige Managementschulen haben das erkannt und damit begonnen, Korrekturen der vorherrschenden Lehre vorzunehmen, um so den betreffenden Branchen tüchtigen Nachwuchs zur Seite zu stellen. Aber auch wenn moderne Karrierepfade viel erratischer und rascher zu Entscheidungsrollen führen können als früher, dauert es immer noch eine gewisse Zeit, bis die entsprechenden Absolventen die breite Masse der Führungselite prägen und sich grundsätzliche Veränderungen einstellen.
Eine «Turmmentalität» können sich Unternehmensleiter heute nicht mehr leisten. Der chinesische Unternehmer Jack Ma von Alibaba etwa rät angesichts der Herausforderungen im bevorstehenden Roboterzeitalter dringend zu einem neuen, spielerischen Lernen in der Bildungsgestaltung der nachfolgenden Generationen. Die MIT-Professorin Sherry Turkle fordert angesichts der digitalen Annehmlichkeiten der Moderne dazu auf, (wieder) mehr miteinander zu reden.2 Daniel Zajfman vom Weizmann-In­stitut of Science propagiert mit Vehemenz mehr Raum für Neugier als wesentliche konstruktive Kraft zur positiven Veränderung der Welt.3 Es wird immer offensichtlicher: Die Sharing Economy ist nicht auf Produkte beschränkt, sondern entfaltet ihre wahre Kraft erst beim Teilen von guten Ideen.
Gefordert wird also mentale und operationelle Agilität. Traditionelle Firmenstrukturen und hierarchische Kompetenzverteilungen wirken in der Realität aber wie eine besonders schwer durchdringbare, Veränderung hemmende Lehmschicht. Je grösser das Unternehmensgebilde, desto grösser der Widerstand und die Unfähigkeit zum Wandel. Manch etablierte Firma entscheidet sich deshalb, neben den bestehenden Organisationen, auf grüner Wiese quasi, eigene Innovations-Labs und Inkubatoren zu bauen. Darin tummeln sich die potenten Nachwuchskräfte, während sich die «Stars von gestern» um Prozessoptimierungen im alten Modell bemühen. Das ist nicht falsch, solange das Neue noch nicht genug Ertrag abwirft. Die schleichend-negative Wirkung dieser Parallelwelten auf die Firmenkultur des Mutterschiffs und auf das Kompetenzniveau und Motivation der «Bisherigen» ist aber nicht zu unterschätzen. Von Peter Drucker ist das Diktum überliefert, dass die Firmenkultur die Strategie quasi «zum Frühstück verspeist». Was also sind die Kernkompetenzen künftiger Unternehmensführer und moderner Manager?

1. Wer Netzwerkkompetenz hat, ist im Vorteil
Das grösste Kapital einer Führungskraft von morgen wird die Fähigkeit sein, ergebnisoffen an andere Denkweisen anzudocken, Wissen zu teilen und wirksam zu synthetisieren. Wer Megatrends erkennt, um ihr Zusammenspiel weiss und dann noch das Auge für die Relevanz im Hinblick auf das eigene Unternehmen hat, wird innovativere Ideen generieren als solche, die diese Kompetenzen nicht mitbringen. Vorne ist in der Wirtschaft immer dort, wo sich bisher niemand auskannte. Um sich dorthin zu wagen, ist Neugier gefragt. Also die Bereitschaft, Erkenntnisse zutage zu fördern, von denen man bis anhin nichts ahnen konnte.

2. Es braucht den Blick für das grosse Ganze
Unternehmensleiter wenden heute im operativen Alltag einen grossen Teil ihrer Zeit für regulatorische Compliance auf, da die Gefahr, aufgrund einer irrtümlichen Fehlbuchung den Job zu verlieren, nicht selten grösser ist als durch einen schlechten strategischen Entscheid. Gerade in etablierten Firmen haben angestellte Entscheidungsträger viel zu verlieren. So fokussieren sie auf das zu Erwartende und ziehen sich dabei instinktiv zurück in einen Erfolgsverwaltungsmodus. Die Ausweitung der Kontrolle geschieht auf Kosten des unternehmerisch Kreativen.
Kurzsichtige Auguren des guten Lebens4 raten deshalb gar dazu, sich möglichst tief in ein Fachgebiet einzuarbeiten, um die Chancen zur Selbstprofilierung und Fehlervermeidung zu erhöhen. Der Ausbildungstrend hat seinerseits eine starke utilitaristische Schlagseite: Das Schweizerische Bildungswesen sorgt sich (zu Recht) um eine starke MINT-Bewegung zur Förderung des naturwissenschaftlichen Wissens im internationalen Wettbewerb. Es kapituliert aber vor einem engen rationalen Denken, indem es gleichzeitig und auf verstörende Weise die humanistische Bildung und die Geisteswissenschaften zurücksetzt durch eine kleingeistige «Entweder-oder-Politik». Das legislative Selbstverständnis in der Politik artikuliert eine Anspruchshaltung, die sich – von Partikularinteressen befeuert – durch einen frappanten Detaillierungsgrad bei Regulierungstexten auszeichnet. Die Folgen sind auch im Firmenmanagement spürbar: Für die operativen Themen bieten sich Heerscharen unterschiedlichster Fachexperten an, die bis zum tiefsten Grund einer Fragestellung vordringen und dazu – und nur dazu – ihre Handlungsanweisungen und Ideen abgeben. Führungskräfte, die sich diese Dienste zunutze machen, entwickeln sich so immer mehr zu technokratischen oder gar legalistischen Managern und Spezialisten im Wettstreit darüber, welches Fachthema gerade besondere Aufmerksamkeit verdient. Wenn es aber stimmt, dass die Fachspezialisten die ersten Opfer der aufkommenden künstlichen Intelligenz sein werden, stehen weitere grosse Umwälzungen in der Berufswelt bevor.5 Ein perspektivischer Generalist mit der Fähigkeit, lateral zu denken, dürfte spätestens dann die besten Karten im Wettbewerb um Führungsstellen haben.

3. Mut zu Pionierarbeit ist gefordert
Wege entstehen dadurch, dass man sie geht, und dazu braucht es Freiheit. Genau deshalb entstehen Innovation und Fortschritt im nichtregulierten Bereich dank unternehmerischem Mut und Tatendrang. Die heute noch weitverbreitete «No Failure»-Kultur und eine verkrampfte Auseinandersetzung mit regulatorischer Konformität verhindern den Fortschritt, binden Ressourcen und sorgen für Kokonbildung in Unternehmen. Dass die Diskussion über Start-up-Förderungen und das Schaffen von entsprechend liberalen Rahmenbedingungen das etablierte System immer noch herausfordern, ist kein Zufall. Aber nicht nur die in den letzten Jahren rasch steigende Zahl von Spin-offs der polytechnischen Hochschulen oder der Ruf nach besserer, konstruktiver Nutzbarmachung des eindrücklichen, aber weitgehend brachliegenden verfügbaren Risikokapitals6 zeugen davon, dass ein Bewusstsein aufkommt, das die alten Trampelpfade verlassen will.

4. Wissen dezentralisieren
Wie genau die Zukunft wird, weiss niemand. Wie aber lassen sich selbstbewusste Eigner, Verwaltungsräte oder angestellte Unternehmensleiter und Manager davon überzeugen, dass es in Ordnung ist, das zuzugeben? Wie werden sie sich der Tatsache bewusst, dass die Vielfalt möglicher Optionen so überwältigend ist, dass Entscheidungen lieber – in der Hoffnung, das unbekannte Neue stelle sich dann schon irgendwie ein – auf die lange Bank geschoben werden? Es hilft hier ein Blick auf praktisches Unternehmertum: Im Gegensatz zu vielen Topmanagern setzen erfolgreiche Unternehmer auf die Kraft eines qualifizierten Netzwerks und auf die Demut, sich von ihm helfen zu lassen.
Nicolas G. Hayek nannte Unternehmer kreative Künstler und Gestalter.7 Sich aus dem Antrieb heraus, aktiv Neues zu denken, mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Branchen und Firmen auszutauschen, ist ein Bedürfnis, das sich auch heute noch durchaus aus der Tradition der aufklärerischen Salons ableiten lässt. Die informelle Natur und die privat anmutende, überschaubare Grösse solcher Ideenplattformen begünstigen die Wissensteilung und die Entstehung neuer Ideen. Dabei geht es wohlgemerkt nicht um eine Wiederbelebung der «old boys networks» für Preisabsprachen und andere klandestine Vereinbarungen. Im Gegenteil: moderne interaktive Salons forcieren die offene Rede und fordern die Teilnehmenden auf, das Bestehende (und sich selbst) laufend in Frage zu stellen und sich durch eine persönliche Haltung zu positionieren und zu exponieren. Das ist nicht nur eine Frage der Erkenntnis, sondern der Notwendigkeit: Die Dezentralisierung von Wissen und Information ist ein Grunddesign moderner technologischer Prozesse und Datenflüsse. Die Logik von Blockchain und Kryptowährungen denkt vor, was sich in Zukunft auch auf das Verhalten der Anwender auswirken wird. Wenn Jaron Lanier8 recht hat, wird die Bewegung weg von zen­tralisierten Systemen und hin zu dezentralen Modellen weiter an Dynamik gewinnen und wachsenden gesellschaftlichen Zuspruch erhalten. Höchste Zeit also, dass sich der moderne Managertyp endlich stärker auf agile dezentrale Kooperationsmodelle und Verhaltensmuster einstellt.

  1. Niall Ferguson: The Square and the Tower. London: Penguin Press, 2017.

  2. Sherry Turkle: Wir vergessen, was uns ausmacht. In: Schweizer Monat 1050,
    Oktober 2017, S. 80–83.

  3. Daniel Zajfman: Curiosity Driven Research: Change the World 2016. In: YouTube

  4. Rolf Dobelli: Wer sein eigenes Rennen fährt, gewinnt. In: Neue Zürcher
    Zeitung vom 20.1.18, S. 45.

  5. Natalie Gratwohl: Mensch und Maschine gleichen sich an. In: Neue Zürcher ­Zeitung vom 10.3.18, S. 31.

  6. Vgl. http://www.zukunftsfonds.ch

  7. Nicolas G. Hayek im Interview mit Norbert Neininger. In: Persönlich vom 15.7.2017.

  8. Jaron Lanier: Who Owns the Future? New York: Simon & Schuster, 2013.

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