Heimat am Horizont
Warschau, New York, Tokio – die Nomadin Joanna Bator passiert mühelos geographische wie zeitliche Grenzen. Ein Gespräch über die polnische Nachkriegszeit, japanische Subkulturen und zukünftige Generationen.
Frau Bator, Sie sind im sowjetischen Nachkriegspolen aufgewachsen, genauer in Wałbrzych. Bereits drei Ihrer Romane spielen in dieser Stadt, aus der Sie selbst mit 18 Jahren weggezogen sind. Verfolgt Sie die Vergangenheit?
Ich glaube, es ist eher umgekehrt: Ich bin aus der Vergangenheit ausgebrochen, aber es ist unmöglich, die Ursprünge hinter sich zu lassen – egal wie viel Distanz man schafft. Lustigerweise denke ich gerade hier, an diesem extrem schönen Ort Ascona, an meine Heimatstadt. Diese sah und sieht natürlich ganz anders aus – zu meiner Zeit hing ständig eine Kohlenstaubwolke in der Luft –, aber in gewisser Weise war es da genauso wie hier: Man konnte nur ahnen, was sich hinter den Bergen befand. Und ich erinnere mich sehr gut an meine Kleinmädchenträume: Ich wollte sehen, was es hinter dem engen Horizont zu sehen gab. Also verliess ich diesen seltsamen Ort, als ich konnte.
Viele Menschen kehren ihrer Heimat den Rücken, fliehen die Enge. Sie nennen den Ort «seltsam». Weshalb?
Vor dem Zweiten Weltkrieg gehörte Wałbrzych zu Deutschland, durch das Potsdamer Abkommen der Alliierten wurde die Stadt polnisch. Meine Grosseltern gehörten zu der ersten Generation von Polen, die sich in Wałbrzych niederliessen. Und sie begannen ihr neues Leben in einer Geisterstadt. Die zur Auswanderung gezwungenen Deutschen hatten alles zurückgelassen: Betten, Schränke, Gabeln und Löffel. Was meine Grosseltern vorfanden, war ein seltsamer, unheimlicher Ort. Und das war er auch für mich.
In den beiden Romanen «Sandberg» und «Wolkenfern» geben Sie Einblick in die Geschichte dieses Ortes und seiner Bewohner und erzählen, analog zu Ihrer eigenen Geschichte, von drei Generationen einer Familie. Es ist schon beinahe ein Gemeinplatz – wenn man an Jonathan Safran Foers «Alles ist erleuchtet» und andere Nachkriegsromane denkt –, dass es an der dritten Generation zu sein scheint, in der Vergangenheit zu wühlen, die Geschichte zu bergen. Was macht sie eigentlich aus, diese dritte Generation?
Vielleicht beginnen wir mit der ersten Generation. In diesem spezifischen Fall stammten viele aus jenen Gebieten Polens, die nach dem Krieg der Sowjetunion zugeschlagen wurden. Sie sahen sich dazu gezwungen, umzusiedeln, ihr Leben als Bauern und Dörfler hinter sich zu lassen, und da sie sowieso nie etwas besessen hatten, bot diese Stadt das Versprechen eines besseren Lebens. Wałbrzych sollte nun ihnen gehören, und vom ersten Tag an arbeiteten sie hart daran, dass sich das Versprechen auch einlösen würde. Sie übernahmen die «wiedergewonnene» Stadt samt den Häusern wie selbstverständlich und sprachen über die vorigen Bewohner nicht anders als über die «bösen Deutschen», den Feind. Die zweite Generation sprach gar nicht über die Vergangenheit, denn alles Gute und Schöne hatte in der Zukunft einzutreffen. Sie glaubten fest an den sozialistischen Diskurs und seine Versprechungen. Als diese aber nicht eintrafen, verschoben sie das Gute und Schöne noch etwas weiter in die Zukunft und projizierten all die grossen Hoffnungen auf ihre Kinder.
In Ihren Romanen wäre das die Figur der Jadzia Chmura, die sich für ihre Tochter Dominika nichts sehnlicher wünscht als einen guten Mann.
Genau, die dritte Generation in Gestalt Dominikas aber wehrt sich, bricht auf, um zu sehen, was sich hinter dem Horizont verbirgt.
So wie Sie selbst das taten.
Natürlich ist Dominika in dieser Geschichte mein Alter Ego.
Ist es also vor allem der Konflikt zwischen den Lebensentwürfen der zweiten und dritten Generation, der die Jüngeren dazu antreibt,
den Horizont in jeder Hinsicht zu erweitern und auch in die Vergangenheit zu blicken?
Die unterschiedlichen Wünsche und Vorstellungen sind nicht der Grundkonflikt, sondern eher der Treiber meiner Geschichte. Auch die erste Generation hielt für ihre Kinder Träume bereit, nur waren diese viel begrenzter: nicht hungern, nicht in den Krieg ziehen, nicht sterben. In der zweiten Generation äussern sich diese Erwartungen bereits in erheblich weiterem Masse. Das Problem beginnt da, wo versucht wird, jemandem ein fertiges Leben aufzuzwingen. Für meine Figur Jadzia, eine Person, der es an Bildung und Perspektiven mangelt, manifestiert sich die bestmögliche Zukunft, die sie sich vorstellen kann, in einem deutschen Schwiegersohn – stellen Sie sich dieses historische Paradox vor. Die DDR- und vor allem die BRD-Männer waren für die zweite Generation der Inbegriff eines guten Fangs. Und Jadzia hegt also diesen patriarchalischen Traum eines weissen Hochzeitskleides – und daran ist an sich auch nichts Schlechtes. Dominika aber droht dieses Narrativ zu ersticken. Also zieht sie los in die weite Welt und sucht und gibt sich ihre eigene Erzählung. Erst gestärkt durch ihre eigene Geschichte kann sie der Mutter und ihren Ansprüchen auf sie wieder entgegentreten.
Sie selbst haben in vielen verschiedenen Ländern gelebt, sind nun zurück in Warschau. Weshalb kehrt man zurück?
Weil es unmöglich ist, nicht zurückzukehren. Sie können versuchen, die Worte «Heimat» oder «Land» zu vermeiden, so viel sie wollen, aber wenn Sie unterwegs sind, selbst über 20 lange Jahre hinweg, gibt es immer einen Beginn dieser Reise. Und wenn Sie nicht zurückkommen an diesen ersten Ort, an diesen finsteren Punkt, werden Sie nichts verstehen – weder sich selbst noch die Reise, die ohne jeglichen Sinn bliebe. Sie müssen sich dieser Dunkelheit stellen. Sie brauchen ja nicht zu bleiben, aber versuchen müssen Sie, diesen Anfang in Ihre eigene Geschichte, in Ihr persönliches Narrativ einzubetten und den dunklen Ort mit Sprache zu füllen, ihn zu benennen.
Gibt es – bei allen Unterschieden in den Umständen – Parallelen zwischen den Versuchen der ersten und der dritten Generation, sich an einem neuen Ort beziehungsweise Orten niederzulassen?
Ich denke, ja. Im Unterschied zur Zwangsumsiedlung nach dem Zweiten Weltkrieg, die den neuen Linienführungen der Grenzen geschuldet war, könnte man Dominika als sehr viel freier bezeichnen. Und das ist natürlich auch der Fall. Unter objektiven Gesichtspunkten war es ihre eigene Wahl, ob sie in Wałbrzych bleiben oder woanders hin möchte – während ihre Grosseltern von offizieller Stelle aus die Weisung erhielten, ihre Sachen zu packen. Dennoch musste sie weg. Ein innerer Drang trieb sie von einem Ort zum anderen, wie ein weiblicher Odysseus.
Odysseus weiss von Anfang an, dass er nach Ithaka zurückkehren will. Dominika hingegen scheint anderswo nach einem neuen Zuhause, nach neuen Wurzeln zu suchen. Sie sagen nun: man muss zurückkehren. Ist es also gar nicht möglich, woanders Wurzeln zu schlagen?
Doch, aber es sind nicht Wurzeln, die dick und gerade in den Boden hineinwachsen, sondern eher Rhizome, Wurzeln wie ein Geflecht oder ein Pilz. Gilles Deleuze und Félix Guattari benutzten die Rhizom-Metapher für ihr Modell der Wissensorganisation. Und ähnlich funktioniert Dominikas Beziehungsgeflecht. Weder hat sie noch braucht sie Wurzeln. Sie tritt mit Menschen in anderer Weise in Beziehung. Dies im Unterschied zur Generation ihrer oder meiner Eltern: Alles, wirklich alles, was diese wollten, war Wurzeln zu schlagen, irgendwohin zu gehören, sich sicher zu fühlen – nicht einmal frei, sondern sicher. Vielleicht ist das der grosse Unterschied zwischen der zweiten und der dritten Generation: derjenige zwischen sicher und frei. Und das sind zwei ganz verschiedene Dinge.
Können Sie die Reihe weiterführen? Was wird wohl die nächste Generation ausmachen?
Ich habe keine Kinder, ich weiss also nichts aus erster Hand. Vielleicht werden sie wieder weniger Freiheit und mehr Sicherheit suchen. Es ist möglich, dass in naher Zukunft alles, was wir brauchen könnten, online verfügbar ist. Und um diese Bedürfnisse zu stillen und sicherzustellen, könnte die nächste Generation weit über unsere eigene Datenfreigebigkeit hinausgehen.
Mit welchen Konsequenzen?
Das weiss ich nicht, ich kann es mir nur vorstellen. Nehmen wir die Otaku-Subkultur. Eine meiner letzten Japanreportagen handelt von diesen Männern, die die reale Welt aufgegeben haben und nur noch in der virtuellen leben – mit Mangas, Animes und Computerspielen. Diese Männer können tagsüber durchaus einer geregelten Arbeit nachgehen, meist in der Computerbranche selbst, aber sie haben keine Familie und keinen Umgang mit wirklichen Frauen, nur mit den niedlichen, imaginären Lolitas.
Das würde bedeuten, es gibt für sie weder Vergangenheit noch Zukunft, da alles im Moment und jederzeit abrufbar ist. Tritt für diese Männer an die Stelle der Wurzeln das fortwährende Schweben im Jetzt?
Ja, deshalb werden sie auch die «kleinen Jungs» genannt, weil sie sich weigern, erwachsen zu werden und Tritt zu fassen. Und die Gruppe der kleinen Jungs ist gross. Sie wohnen in ihrem eigenen Viertel in Tokio: Akihabara, kurz Akiba. Die Subkultur der Otaku ist zwar im Begriff, allmählich zu verschwinden – wie es das Schicksal aller Subkulturen ist: sie treten in Erscheinung, entwickeln sich weiter und verschwinden wieder. Ich finde sie aber höchst faszinierend, weil es in ihrem Kern um uns alle geht. Jeder von uns hat seine Geheimnisse im Internet, natürlich nicht in diesem exzessiven Mass, aber ein Teil unserer Beziehungen findet ausschliesslich vermittelt durch das Web statt.
Unzugängliche Männer und ein weiblicher Odysseus: Das grosse Medienecho auf Ihre Romane richtete sein Augenmerk fest auf
die «starken Frauen- und schwachen Männerfiguren». Das klingt schon fast nach Gesinnungsliteratur.
Wissen Sie, niemand fragt einen männlichen Autor, weshalb er über Männer schreibe – ausser Feministen, die fragen (lacht). Aber die restlichen Kritiker tun es nicht, weil es das Normalste auf der Welt ist, dass ein Protagonist ein Mann sein sollte.
Sie haben vor Ihrem ersten Japanaufenthalt in Philosophie doktoriert und über Feminismus, Postmodernismus und Psychologie geforscht. Reagieren die Kritiker eher auf Ihre akademische Tätigkeit oder steckt hinter Ihrer Schreibe die Absicht, gegen den Hemingwaymainstream zu schreiben?
Sicher nicht letzteres. Ich erfinde meine Figuren nicht auf rationale Weise, dass ich dasitze und denke: «Oh, welche Art von Figur soll ich denn heute erfinden?» Diese sind nur zu Beginn in meinen Händen. Wenn Sie mich fragen, wie ich zu ihnen komme, dann glaube ich, dass sie der Ausdruck, ja der innerste Kern meines Wesens sind. Natürlich hat alles, was ich schreibe, irgendwie mit mir zu tun, ist in diesem Sinne persönlich. Und in meiner Biographie ist es nun mal so, dass ich viel mehr interessanten Frauen als Männern begegne.
Kann ein Schriftsteller sein Thema wählen?
Ich glaube, dass Schriftsteller, nennen wir sie «richtige» Schriftsteller, über jene Dinge schreiben, die ihnen wirklich wichtig sind, die ihnen am Herzen liegen und über die zu schreiben weh tut. Man kann nicht über etwas schreiben, das einen nicht interessiert. Figuren wie die Hausfrau, die zuhause sitzt und leidet, nur um in einem Befreiungsschlag auszubrechen, sind für mich völlig uninteressant, weil ich ihre Erfahrungen überhaupt nicht nachvollziehen kann. Dominika hingegen, ich habe es gesagt, ist mein Alter Ego, Jadzia die Kompilation der vielen polnischen Mütter, die ich gekannt habe.
Meine Lieblingsfigur ist Władek, der melancholische, hagere Ober, der den Huren eine extra Portion Brot und Wodka serviert, die erste Runde mittrinkt und sich dann wieder an die Arbeit macht.
(lacht) Er ist die Figur, die am meisten aus meinem eigenen Leben schöpft. Władek trägt die grossen, haarigen Ohren meines Grossvaters. Als dieser gestorben war, hielt ich eines davon in meinen Händen und wollte es Władek schenken, den ich zu der Zeit bewundert habe – als Liebesbeweis sozusagen.
Wie bitte? Wie kamen Sie zu dem Ohr?
(lacht) Ich weiss es nicht mehr, ich war ein Kind. Alles, an was ich mich von meinem Grossvater erinnere, sind diese grossen, haarigen Ohren. Er tat den ganzen Tag nichts, als zu rauchen und so auf einem Hocker zu sitzen, dass ich genau auf Augenhöhe mit dem Ohr war. So funktioniert das: etwas setzt sich in meinem Kopf fest, meist ein paar Worte oder ein Satz, und ich werde sie einfach nicht mehr los. Dann weiss ich: das ist der Anfang einer Geschichte.
Gibt es schon erste Worte für einen neuen Roman?
Ja, aber es war ein langer Weg dahin. Nach dem letzten Roman konnte ich über Monate hinweg nicht schreiben, bis sich folgender Satz festsetzte: «Sie verschwand, ohne eine Spur zu hinterlassen.» Und danach war wiederum Flaute, also googelte ich den Satz – in Polnisch, in Englisch, in Deutsch. Es gibt Millionen solcher Geschichten, dass eine Frau ohne Anhaltspunkt vom Erdboden verschwindet, aber nur eine, die all meine Aufmerksamkeit auf sich zog: jene von Sandra Valentine, deren Spur sich in Sri Lanka verliert. Der Klang ihres Namens ist so anziehend, so schön, dass ich ihn nicht vergessen konnte. Wenig später erzählte ich Adam Golec, einem berühmten polnischen Photographen, von meiner Schreibblockade, von Sandra Valentine, von ihrer verlorenen Spur – und er meinte: «Ich kenne Sri Lanka gut. Los, suchen wir nach ihr!» Und das haben wir gerade getan. Wir waren fünf Wochen in Sri Lanka unterwegs und haben einerseits einen Teaser für meinen neuen Roman gedreht – einfach, weil es eine ziemlich unübliche Sache ist. Andererseits arbeiten wir an einem photographisch-literarischen Buch über den Prozess des Schreibens, darüber, wie eine Geschichte beginnt, indem wir den Spuren Sandra Valentines folgen.
Letztes Jahr liessen Sie verlauten, dass es nun Zeit wäre, ein Haus zu bauen und sich niederzulassen. Das klingt aber so, als wären Sie immer noch nicht «angekommen».
Ja, das sieht so aus. Im Herbst unterrichte ich ein Semester in Bern, nächstes Jahr ziehe ich nochmal für ein Jahr nach Berlin als Writer in Residence. Danach vielleicht (lacht).
Das vorliegende Gespräch mit Joanna Bator fand anlässlich des Literaturfestivals «Eventi letterari» in Ascona statt. Wir danken den Presseverantwortlichen für die freundliche Organisation.