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Heilige Emelia, sollen wir wirklich Barabbas zupfen? Oh!

Die Mystikpop-Gruppe Lesiëm singt lateinisch Unsinn. Erfolg hat sie dennoch. Eindrücke eines anfangs wohlwollenden Hörers.

Das Weltall ist voller Gesang. Die Sonnen, Sterne und Monde, die ihre brausenden Bahnen ziehen, werfen einander mit dem Licht auch Harmonien, Rhythmen und Worte zu, und wir Staubgeborenen richten mit den Augen die Ohren aufwärts und empfangen, was von oben kommt: feine Harfenklänge, edle Bassstimmen und trockene Paukenschläge, die dazwischengeklopft werden. Horch, was wird da gesungen? «In cunabulis» – in der Krippe. Ist das ein Weihnachtslied? Es ist schön, du möchtest es wiederhören, und wenn du einen umsichtigen Musikhändler hast, liegt die glänzende Scheibe bald vor dir, die CD «Lesiëm times». Das Lied heisst «Spes» (Hoffnung), und es ist kein Weihnachtslied. In der Krippe liegt Emelia, wer immer das ist; sie trägt den alten Marien-Titel «Rosa mystica». Das Begleitheftlein sagt uns, dass wir es mit einem «Projekt» zu tun haben, einer «Pop-Opera». Auf Photos sehen wir Gestalten, die auch im «Herrn der Ringe» und anderen Filmen ihren Platz hätten: stolze Frauen und ernsthafte Männer, alle in feierliche Gewänder gekleidet und sicher fähig, Worte der Weisheit zu sprechen und im Kampf gegen das Böse ein scharfes Schwert zu führen. Wir dürfen Hoffnung haben, wir sind nicht allein. So spricht das Internet: «Lesiëm entführt in die spirituelle Klangwelt des Mystic-Pop.» Dort erleben wir eine Heilsgeschichte: eine «Kreatur» wird geboren, und alle möglichen Tugenden und Laster ermutigen oder gefährden ihre, das heisst unsere Menschwerdung. Die Titel der Gesänge sind «Prudentia» (Klugheit), «Fides» (Glaube) oder «Invidia» (Neid); aus der lateinischen Reihe tanzt nur das englische «Times». Auch die Texte sind aus der alten und neuen Weltsprache gemischt, es singen, neben weiteren Künstlern, Chor und Solisten der Deutschen Oper Berlin. Die Männer und Frauen wissen, wie man singt. Wissen sie auch, was sie da lateinisch singen?

Sie singen niederträchtigen Blödsinn. Lied «Iustitia» (Gerechtigkeit), siebte Strophe: «Keine Strafe ohne Gesetz. Zwölftafelgesetz. Feldherr. Gerechtigkeit. Gladiator. Tyrannenmörder. Tyrannen. Oh, gegen die Tyrannen. O Adler. Gerechtigkeit. Tyrannenmörder. O Adler. Tyrannenmord.» Die «Latin Lyrics» stammen von Thomas Pflanz. Warum verbindet er einen neuzeitlichen Rechtsgrundsatz mit dem Namen der ältesten Fassung römischen Rechts? Weil in Hubertus Kudlas «Lexikon der lateinischen Zitate» (München: Beck, 1999) auf die Nummer 812 «nulla poena sine lege» mit Nummer 813 ein Abschnitt über die «lex duodecim tabularum» folgt. Pflanz klaubt seine Texte aus Kudla, sinn- und bedenkenlos. Wo eine Silbe nötig ist, fügt er das beschwörende «O!» ein. So ruft der Chor die Grundsätze der Reformation an: «O, allein die Bibel (o sola scriptura)! O, allein durch den Glauben (sola fide)!» Einmal wird sogar das Goldene Haus, der Palast des Kaisers Nero, beschworen: «O domus aurea!» Das hat Pflanz nicht von Kudla, ebenso nicht den Kehrvers des Liedes «Times»: «Novem, noveni, duodecim, duodeni, duo» (neun, je neun, zwölf, je zwölf, zwei). Und woher hat er die beiden Verse aus dem Karfreitagshymnus des Venantius Fortunatus, die er wiederum mit einem sinnlosen «O!» streckt: «Arbor decora et fulgida/ O ornata regis purpura» (Du schöner Kreuzesbaum, geschmückt mit dem Blut des Königs)?

Zurück zur «Iustitia»: Der römische Philosoph Seneca überliefert das alte Sprichwort, dass ein Gladiator seinen Kampfplan erst in der Arena fasst, also dann, wenn er Schlüsse aus dem Verhalten seines Gegners ziehen kann. Bei Kudla findet Pflanz auch die Redewendung «einen toten Löwen am Bart zupfen», also einen Mächtigen herausfordern, wenn er wehrlos ist. Nun verbindet Pflanz die beiden Stellen: «Der Gladiator beschliesst in der Arena, den toten Löwen am Bart zu zupfen» – barbam vellere. Da der Komponist eine Note zuviel komponiert hat, singt der Chor: «Barabbam vellere» – Barabbas zu zupfen. Barabbas ist der Mörder, den Pilatus an Christi Stelle freigibt. Er verdient es, gezupft zu werden. Nachdem der Chor erklärt hat, dass ein Schwert das andere schärft (Kudla 2550) und dass durchs Schwert umkommt, wer es ergreift (Kudla 2551), steigt ein Bass tief in die Tiefe hinab, und aus dem prachtvollen Gewölbe seiner untersten Stimmlage ruft er lateinisch zu uns herauf, begleitet von feierlichen Paukenwirbeln: «Irren ist menschlich. Im Zweifel für den Angeklagten!» Er könnte auch Hallihallo rufen.

Wenn das der lateinische Text ist, wie steht es mit dem englischen? Und was ist eine Musik wert, die solche Texte trägt? Die Berliner Gruppe Lesiëm hat, wie viele ähnliche Unternehmen, Erfolg. Wir armen Menschenkinder sind zur Zeit etwas ratlos. Wir glauben, dass alles etwas bedeutet, aber wissen nicht, was. So lassen wir uns um teures Geld mit klingenden Lügen abspeisen – geschickt zusammengestellt von Geschäftsleuten, die nach der Vorstellung hinter der Bühne lachen.

Lesiëm: «Lesiëm times», CD, Da Music GmbH, 2003.

Stefan Stirnemann, geboren 1962, hat Theologie und klassische Philologie studiert und ist Lehrer am Gymnasium Friedberg, Gossau SG.

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