Hausgemachter Terrorismus
Dass Jugendliche den «heiligen Krieg» zunehmend «cool» finden, ist besorgniserregend, sagt aber mehr über den Zustand der westlichen Gesellschaften als über den Islam. Denn: Was bringt junge Leute eigentlich dazu, ein Leben in Freiheit und Frieden gegen organisierten Mord im Wüstensand einzutauschen?
Warum sympathisieren Jugendliche plötzlich offen mit islamistischen Terroristen oder ziehen selbst in den «heiligen Krieg»? Diese Frage sorgt sowohl in Familien und Schulen als auch in Regierungen für Ratlosigkeit. Europa meldet steigende Zahlen von nach Syrien oder in den Irak strömenden Freiwilligen. Bis zu 2000 Europäer sollen es mittlerweile sein. Allein in der Schweiz weiss man von rund 25 Personen, die ins Kriegsgebiet aufgebrochen sind, als hätten sie bloss auf den entscheidenden Augenblick gewartet. Aus Deutschland stehen je nach Quellenlage bislang zwischen 300 und 500 Kämpfer – und auch Kämpferinnen – im Einsatz.
Wer sind die westlichen Gotteskrieger?
Wer denkt, es handle sich bei diesen Jihadisten bloss um ausgegrenzte, in der westlichen Kultur nicht angekommene bzw. gescheiterte junge Männer mit arabischen Wurzeln, der irrt sich. Es sind westeuropäische Konvertiten, die einen erheblichen Anteil der in den Nahen Osten strömenden Gotteskrieger stellen. Augenzeugen berichten sogar, dass neben den Tschetschenen in den Reihen des IS die Europäer oftmals viel fanatischer agierten als die Syrer.1
Einer von ihnen ist ein 30jähriger Schweizer aus dem Unterwallis, der in einer katholischen Familie aufwuchs und erst spät zum Islam konvertierte.2 Oder der Deutsche Marko K. aus der Nähe von Köln: Er war früher sogar katholischer Messdiener; von ihm weiss man, dass er im «heiligen Krieg» gefallen ist.3 Philip B. aus Dinslaken am Niederrhein ist bei einem Angriff auf einen Stützpunkt der kurdischen Peshmerga ebenfalls zu Tode gekommen. In einem 2013 verbreiteten Propagandavideo des Islamischen Staates hatte er auf Deutsch dazu aufgerufen, sich dem Jihad anzuschliessen.4
Egal, wohin man in Europa schaut: Die Lebensläufe der westlichen «Gotteskrieger» ähneln sich insofern, als darin bis vor kurzem nichts auf eine solche Karriere hinwies. Scheinbar gut inte-grierte Jugendliche, häufig aus gemässigt oder nichtreligiösen Familien, gelangen in Kontakt zu Islamisten, wenden sich deren Mission zu und werden innerhalb weniger Monate zu radikalen Fanatikern. Interessant ist, dass soziale, psychologische oder charakterliche Stereotypen, die man den Konvertiten gern nachsagt – auffällige Zurückgezogenheit, Randständigkeit, niedriger Bildungsstand, Gewaltbereitschaft – vor der Konvertierung eher selten erkennbar sind. Das zeigt auch der Fall der 16jährigen Gymnasiastin Sarah aus Konstanz: Sie brach im November 2013 nach Syrien auf, heiratete dort einen deutschen «Gotteskrieger» und schilderte über soziale Netzwerke ihre und die Rolle ihrer westlichen Glaubensschwestern wie folgt: «Wir unterstützen unsere Ehemänner und gebären Kämpfer.»5
Auch wenn Politik, Soziologen und Öffentlichkeit es gerne anders hätten: Den Prototyp des westlichen Jihad-Rekruten gibt es nicht. Sie stammen manchmal aus zerrütteten Familien oder Problembezirken, aber manchmal eben auch aus geordneten Verhältnissen und wohlhabenden Vierteln; sie kommen aus Klein- und aus Grossstädten, manche hatten schulische Probleme, andere studierten brav und schmiedeten Karrierepläne. Wir kennen das: Auch die Attentäter des 11. September waren bestens ausgebildete, im Westen lebende Elitesprösslinge, die sich zumeist hier radikalisierten. Bildungsgrad oder grosse persönliche Karrierechancen schützen nicht vor Radikalisierung – nicht einmal bei angehenden Profifussballern, wie der Fall Burak Karan zeigt: Der frühere deutsche Jugendnationalspieler spielte gemeinsam mit heutigen Stars wie Sami Khedira, Kevin-Prince Boateng oder Lewis Holtby, bis er sich plötzlich zurück- und später in den Krieg zog. Erst die Nachricht, Karan sei im Oktober 2013 im Norden Syriens Opfer eines Bombenangriffes geworden, brachte den Fall wieder in die Schlagzeilen.6
Der «neue Terrorismus»
Wir müssen uns folglich vom Bild des «sozial benachteiligten» und ohnehin «seltsamen» Aussenseiters, der aus reiner Not zum islamistischen Killer wird, verabschieden – so wie wir uns bereits von unserem althergebrachten Terrorismusbegriff verabschieden mussten. Während europäische Terroristen des 20. Jahrhunderts bemüht waren, ihre Gewaltausbrüche vor sich selbst und anderen mit der Erreichung hehrer sozialistischer und nationalistischer Ziele zu begründen, so ist für den heutigen islamistischen Terroristen der Terror an sich Programm und Ziel. Er strebt gar nicht danach, «rational» zu wirken und sich positiv auf menschliche Werte zu berufen. Er braucht sich daher auch in seiner Gewaltausübung nicht zu zügeln.
Dies zeigen die nackten Zahlen: In den 1980er und ’90er Jahren konnte man die jährlichen Selbstmordattentate weltweit noch an einer Hand abzählen. Seit den frühen 2000er Jahren ist ihre Zahl auf 300 bis 400 pro Jahr gestiegen. Allein im Jahr 2006 gab es auf der Welt mehr Selbstmordattentate als in den gesamten 20 Jahren zuvor.7 Diese Anschläge werden nicht nur immer blutiger und willkürlicher, sie richten sich auch immer seltener gegen strategische Ziele und immer häufiger gegen die Zivilbevölkerung.
Der australische Soziologe Riaz Hassan fand in seinen Studien heraus, dass entgegen der landläufigen Meinung auch nicht die Religiosität, sondern «eine Mischung verschiedener Motivationen aus Politik, Demütigung, Rachegefühle, der Wunsch nach Vergeltung sowie Altruismus» zu den Triebkräften gehören, die bei der Rekrutierung von Selbstmordattentätern angesprochen werden.8 Auch hieran zeigt sich: Wir haben es weder mit einem rein religiösen Phänomen zu tun noch ist es durch das Zurückdrängen oder eine Zivilisierung des Islams aus der Welt zu schaffen.
Schlüssel: die Motivation der neuen Gotteskrieger
In ihrer Suche nach den Ursachen für die neue Anziehungskraft des Islamismus richtet die westliche Welt den Blick nach aussen und beschuldigt fremde Prediger, sie würden die Manipulierbaren und Schwachen hierzulande zu willfährigen Lemmingen machen. Der Blick auf die Lebensläufe westlicher Jihadisten liefert jedoch keine Hinweise darauf, dass deren Radikalisierung die Folge einer unfreiwilligen Unterwerfung war. Es zeigt sich eher, dass die Mehrheit von ihnen aktiv den Kontakt zu Islamisten suchte. Anders formuliert: zwar stehen Salafisten und andere Prediger regelmässig in Fussgängerzonen herum und sprechen Leute an. Dass sie für einige offensichtlich ansprechend wirken, hängt aber nicht mit ihrer unwiderstehlichen Überzeugungskraft zusammen. Es scheint eher, als würden sie bei manchen jungen Menschen offene Türen einrennen: Türen, hinter denen ein so eklatanter Visions-, Werte- und Orientierungsmangel sowie ein so hoher Grad an persönlicher Desillusionierung herrschen, dass dies nicht allein auf Familienprobleme zurückgeführt werden kann, sondern gesellschaftliche Dimensionen haben muss. Die sogenannte «freie Welt» scheint mit all ihren Möglichkeiten auf so manchen Jugendlichen eher abstossend denn lebenswert zu wirken. Vielfalt und Überfluss erscheinen in diesem Licht als dekadent, Freiheit, Individualismus und Wertepluralismus als Überheblichkeit, als Sünde. Die Sehnsucht nach einfachen, klaren, «natürlichen» und moralisch scheinbar überlegenen Strukturen nimmt zu.
Wie damit umgehen? Medial und politisch schiesst man sich derzeit auf das direkte Umfeld der Konvertiten ein, verbietet salafistische Kundgebungen oder, wie in Deutschland und der Schweiz, die Aktivitäten des «IS», dem man allerdings bislang nicht einmal vereinsähnliche Strukturen nachweisen konnte.9 Die Fähigkeit der Gesellschaft, sich gegen feindliche und zersetzende Einflüsse, woher sie auch immer kommen mögen, zu wehren, wird dadurch nicht gestärkt, im Gegenteil: Die wirre Verbotspolitik intensiviert das Gefühl der Angst und Ohnmacht vieler Bürger im Umgang mit ihren muslimischen Nachbarn, wo doch Entschlossenheit und Mut im Einsatz für Freiheit und Demokratie – öffentlich wie privat, politisch wie zwischenmenschlich – angesagt wären. Wenn aber Politik und Öffentlichkeit einen Salafistenprediger wie Pierre Vogel für fähig halten, persönlich gefestigte Menschen massenhaft von der Idee eines demokratischen, offenen und toleranten Gemeinwesens abzubringen und sie in den «heiligen Krieg» gegen die Moderne zu schicken, dann müssen sich beide die Frage gefallen lassen: Wie überzeugend sind die sogenannten «westlichen Werte» – Freiheit, Toleranz, Gerechtigkeit usw. – eigentlich noch? Und: Wie kommt es, dass Bürger aus der «Mitte der Gesellschaft» buchstäblich gegen sie in den Krieg ziehen?
Muslimischer Generationenkonflikt
Die Frage, die uns zum Kern des Problems führt, lautet also: Warum sind islamistische Dogmen heute für manche Menschen mit oder ohne muslimischen Familienhintergrund im Westen so attraktiv? In der Tat eignet sich die salafistische Rhetorik für Jugendliche mit muslimischem Familienhintergrund bestens dazu, sich sowohl vom als dekadent wahrgenommenen Westler als auch von der eigenen, in der Regel moderat religiösen Familie abzugrenzen – je radikaler, desto authentischer. Der Salafismus wird an dieser Stelle zur idealen Grundlage für persönlich motivierte Protest- und Widerstandshaltungen. Und er hat das Potential, zur Basis einer islamischen Jugendkultur im Westen zu werden. Aber auch für manche Jugendliche anderen oder keines religiösen Glaubens ist die Radikalität und Kompromisslosigkeit von Islamisten offenbar durchaus attraktiv. Sie grenzen sich dabei weniger gegen eine moderate Religiosität ab, sondern eher gegen die als verlogen, korrupt und oberflächlich, aber auch als orientierungslos, halbherzig, inkonsequent und ängstlich empfundene westliche Kultur, die ausser Äusserlichkeiten und Anpassertum nur wenig anzubieten hat.
Für den Nahost-Experten Guido Steinberg vermittelt der Salafismus vielen Jugendlichen «einen Sinn, wie ihn die deutsche Gesellschaft offenbar nicht liefern kann». Diesen Befund kann man ausweiten auf alle prinzipiell «offenen Gesellschaften». Ein weiteres Merkmal gewalttätiger Salafisten ist für Steinberg zudem die Abenteuerlust: «Man merkt bei vielen dieser jungen Leute, dass ihnen ihr Leben in Deutschland aus ganz unterschiedlichen Gründen zu langweilig ist. Sie möchten etwas erleben. Und dann ist diese Romantik des Kampfes in Syrien, zumindest wie sie in der Propaganda dargestellt wird, offenbar sehr anziehend.»10
Vereint im Hass auf die Moderne
An den Aussagen westlicher Jihadisten oder Prediger fallen neben der zumeist extrem grobschlächtigen religiösen Fundierung die direkte Ansprache sowie das Eingehen auf die individuelle Sinnsuche jenseits westlicher, konsumorientierter Lebensstile auf. Das Versprechen, dass der richtig praktizierte Islam mit dieser Sitten-, Sinn- und Gottlosigkeit ein Ende machen und wieder für klare Vorgaben und Regeln sorgen werde, zieht sich wie ein roter Faden durch nahezu alle dieser Äusserungen.
Das Aufbegehren gegen gesellschaftliche Offenheit, gegen Oberflächlichkeit, gegen blosses Konsumieren. Die Suche nach Zusammenhalt, nach geistiger Orientierung und sozialer Geborgenheit, nach Authentizität und Echtheit, ohne die «realpolitische» Verpflichtung, ängstlich nach Ausgleich und feigen Kompromissen zu suchen. Das Ganze auf Basis eines weitgehenden Politik- und Menschheitsverdrusses, ohne Glaube an die Ideale des Westens, die gleichgesetzt werden mit Dekadenz und Korruptheit, garniert mit viel Zynismus gegenüber der Zukunft und den Herrschenden. Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor?
Richtig, trotz aller offensichtlichen Unterschiede – gerade auch hinsichtlich der Gewaltbereitschaft – sind doch die inhaltlichen Übereinstimmungen mit modernen westlichen Protestbewegungen im Stile von «Occupy» oder «Attac» nicht zu übersehen. Was die Bereitschaft anbelangt, die Errungenschaften und Werte der Moderne, die westliche Zivilisation, den Glauben an die Aufklärung und an die Menschheit insgesamt zu verdammen, nehmen sich zumindest die radikalen Vertreter der heutigen westlichen Gesellschaftskritik nicht viel gemässigter aus als die Islamisten. Ein weiterer Berührungspunkt beider Gruppen liegt nicht selten in der Bewertung des Staates Israel. Für die einen sind Juden die traditionellen Todfeinde, für die anderen ist der Staat Israel zum Inbegriff dessen geworden, was man am Westen kritisiert. Hier braut sich ein neuartiger Antisemitismus zusammen, der moderne antikapitalistische Kritik am Westen mit traditionellem Judenhass und islamistischer Barbarei verbindet.
Wenn sich eine solche Melange dann noch von frustrierten westlichen Teenagern auf einen realen Bürgerkrieg projizieren lässt, wird deutlich, wie gefährlich das Phänomen des hausgemachten Jihadismus ist und wie viel es tatsächlich mit der von vielen Menschen empfundenen Perspektiv- und Orientierungslosigkeit unserer Gesellschaften zu tun hat. Viele der Werte, für deren Realisierung die Bürger in der Vergangenheit ein- und zusammenstanden, gelten unter Heranwachsenden heute zunehmend als «out». Und dass insbesondere Jugendliche die Fliehkräfte einer zunehmend unübersichtlichen und unberechenbaren Gesellschaft sehr deutlich spüren, ist auch keine neue Entdeckung. Wenn es offenen Gesellschaften aber zunehmend schwerer fällt, ihren Mitgliedern die vergleichsweise jungen, persönlichen wie beruflichen und sozialen Entwicklungsperspektiven als Errungenschaften aufzuzeigen, diese also im Vergleich mit dem sicheren Märtyrertod im Kampf für das Kalifat als vergleichsweise langweilig und anpasserisch erscheinen, dann ist dieser Umstand eben nicht radikalen Predigern anzulasten. Die westlichen Wertgemeinschaften müssen die Ursachen dafür bei sich selbst suchen. Eine weitere planlose Debatte darüber, was man mit den heimkehrenden westlichen Gotteskriegern machen solle, macht die Sache nicht besser. Es ist anzuerkennen: Die Brutstätten enthemmter westlicher Jihadisten liegen nicht im Nahen Osten oder in IS-Ausbildungscamps, sie liegen in London, Paris und Amsterdam, in Berlin, in Basel und in Zürich.
Das einzige, was hier langfristig helfen kann, ist eine kraftvolle, möglichst breite, möglichst offene, extrem robuste und deshalb mutige Debatte darüber, wie Begriffe wie Aufklärung, Toleranz, individuelle Freiheit und gesellschaftlicher Fortschritt wieder mit sinnvoller Substanz und realem Leben zu füllen sind. Aus diesen Werten entspringt die eigentliche Antriebskraft einer humanistisch geprägten Gesellschaft. Und sich dafür konsequent einzusetzen, erfordert weitaus mehr Mut, Rückgrat und Ausdauer als das barbarische Morden im syrischen und irakischen Wüstensand.
1 «Syrische Terror-Aussteiger: ‹Ich war auf der falschen Seite.›» In: Der Spiegel, 2.10.14. http://www.spiegel.de/politik/ausland/is-islamischer-staat-in-syrien-zwei-aussteiger-erzaehlen-a-995006.html
2 «Bundesanwaltschaft ermittelt gegen IS-Terroristen in der Schweiz». In: NZZ am Sonntag, 21.9.14. http://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/ bundesanwaltschaft-ermittelt-gegen-is-terroristen-in-der-schweiz-1.18387988
3 «ISIS-Terror: Gotteskrieger aus Deutschland». ARD: Panorama, 3.7.14. http://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/panorama/ videosextern/isis-terror-gotteskrieger-aus-deutschland-100.html
4 «NRW zu lasch gegen Salafisten?». WDR: Westpol, 23.2.2014. http://www1.wdr.de/fernsehen/regional/westpol/sendungen/salafisten356.html
5 «Als ‹Gotteskriegerin› in den Dschihad». In: Deutsche Welle, 5.4.14. http://www.dw.de/als-gotteskriegerin-in-den-dschihad/a-17534085
6 «Der Bomben-Tod des Jugend-Nationalspielers». In: Die Welt, 18.11.13. http://www.welt.de/sport/article122000997/Der-Bomben-Tod-des-Jugend- Nationalspielers.html
7 Siehe hierzu: Riaz Hassan: «Suicide Bombings» (Routledge, 2011).
8 «What Motivates the Suicide Bombers?». In: YaleGlobal, 3.9.2009. http://yaleglobal.yale.edu/content/what-motivates-suicide-bombers-0.
9 «‹Islamischer Staat› in Deutschland: Der schwierige Kampf gegen die Terroranhänger.» In: Der Spiegel, 16.8.14. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/ is-terror-im-nordirak-debatte-ueber-deutsche-unterstuetzer-a-986287.html