Hauptstadt des Bewahrens
Bern hätte die Voraussetzungen für eine dynamische Region. Doch statt Chancen zu packen, bleibt der Kanton von anderen abhängig und gefällt sich in der Opferrolle. Ein Weckruf zum Abschied.
Wenn man mehr als sieben Jahre an einem Ort gewohnt hat, ist es mit gewisser Wehmut verbunden, Abschied zu nehmen. Seit 2010 habe ich – mit Unterbrüchen – in Bern gelebt. Anfangs des Jobs wegen, später blieb ich, trotz Job in Zürich. Für mich war Bern irgendwie die perfekte Stadt zum Leben. Gross genug, dass immer etwas los ist, klein genug, um nicht so überlaufen und anonym wie Zürich zu sein; in angenehmer Entfernung von jeder grösseren Stadt der Schweiz ebenso wie Berggebieten wie aus dem Tourismusprospekt, mit einer malerischen Altstadt, viel Grün – und natürlich der Aare, diesem Berner Lebensgefühl in Flüssigform.
Lange sträubte ich mich dagegen wegzuziehen, auch als ich längst in Zürich arbeitete. Nun verlasse ich Bern trotzdem. Und es hat nicht nur berufliche Gründe. Es gab am Ende schlicht wenig, das mich hier gehalten hätte. Es kommt mir vor wie eine Beziehung zu einer Person, mit der man einst alt werden wollte, die einen aber irgendwann mehr betrübt als glücklich macht.
Die traurige Wahrheit ist: Bern macht zu wenig aus seinem Potenzial. Der Kanton hätte von der Lage her beste Voraussetzungen, mit Zürich, Basel oder Genf mitzuhalten, liegt aber weit hinter diesen Regionen zurück, was Wirtschaftsleistung oder Innovation angeht. Statt den Wettbewerb selbstbewusst aufzunehmen, jammert man hier lieber über die schlechten Voraussetzungen: Es ist ja eh schon alles in Zürich, deshalb will niemand nach Bern. Und flucht über den Steuerwettbewerb, von dem man indirekt dann aber doch gerne profitiert. Seit Jahren ist Bern in absoluten Zahlen der grösste Empfänger des Finanzausgleichs (vergangenes Jahr erhielt der Kanton total 1,2 Milliarden Franken). Und lebt gut damit. Äussert jemand nur schon die Ambition, aus dieser Situation herauszukommen, wird er als weltfremd und unsolidarisch gebrandmarkt. Vorschläge, die drückend hohen Steuern zu senken, werden mit einer Mischung aus Spott und Resignation quittiert. Heute könne man höchstens noch mit Zug und Co. gleichziehen, heisst es dann, das ziehe auch keine guten Steuerzahler an. Man hätte, wenn schon, früher die Steuern senken müssen, vor den anderen.
Das Sprechen im Konjunktiv befreit einen von der Last, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und etwas zu ändern. Denn Veränderungen begegnet man in Bern generell erst einmal mit Misstrauen.
Bauern und Beamte
Vielleicht hat das historische Gründe. Lange war Bern der mächtigste und reichste Ort in der Eidgenossenschaft. Er verfügte über üppige natürliche Ressourcen, Untertanengebiete und Geschick im Umgang mit Finanzen. Mit der Industrialisierung änderte sich die Lage. Während in der Ostschweiz und in der Region Zürich die Textilindustrie aufblühte, blieb man in Bern bei der Landwirtschaft und dem traditionellen Gewerbe. Erst spät und zögerlich entwickelte sich auch im Kanton Bern die Industrie.
Gründe gab es verschiedene. Dass Bern erst relativ spät, 1858, ans Eisenbahnnetz angeschlossen wurde, half sicherlich nicht. Der Staat stand grossen Unternehmen kritisch gegenüber. Vielleicht hatte es auch mit der Mentalität zu tun. Jeremias Gotthelf jedenfalls glaubte, dass Berner grundsätzlich nicht geeignet seien für die Industrie: «Der echte Berner hat einen Zug zur Landwirtschaft […] Das ist Naturzwang.» (Wenn Gotthelf heute sähe, wie viele Berner noch in der Landwirtschaft beschäftigt sind…)
So nahm Bern den langsamen Abstieg hin, halb der verpassten Chance nachtrauernd, halb Zuflucht suchend in der Ausrede, dass Industrie und Wirtschaftskraft ja auch nicht alles seien. Immerhin wurde Bern Bundeshauptstadt. Das half aber nicht wirklich; es scheint, dass die sich ausbreitende Beamtenmentalität der Entwicklung der Stadt eher hinderlich war.
Gegen Zürcher und HSGler
Neue Entwicklungen werden in Bern immer zunächst als Gefahr gesehen. Als allerorten Mietvelos auftauchten, reagierte man in Zürich vorsichtig offen, in Bern verbot man sie vorsorglich und wartete auf eine staatliche Lösung. Zürich und andere Kantone haben mit der Buchungsplattform Airbnb Vereinbarungen abgeschlossen, dass diese die Kurtaxe direkt einzieht und an den Staat weiterleitet. Bern will Airbnb lieber gleich aus der Altstadt verbannen. Ein wiederkehrendes Muster: Zürich macht Neues zu Geld, Bern verbietet es.
Und wenn man dann doch einmal etwas wagt, sind die Nörgler und Verhinderer sogleich zur Stelle. Als die Formel E in Bern gastierte, heulte der Protest durch die Strassen wie Michael Schumachers Ferrari zu seinen besten Zeiten. Ein ökologischer Wahnsinn sei das, ereiferten sich jene, die jedes Jahr ohne jede Bedenken am Gurtenfestival aufkreuzen. Aber keine Sorge: Der Widerstand, der in Vandalenakten an der Infrastruktur des Rennens gipfelte, wird auf absehbare Zeit sämtliche Grossanlässe mit internationaler Ausstrahlung von Bern fernhalten.
Wo käme man denn hin, wenn man etwas anders machen würde als zu den Hochzeiten der Berner Republik? Tja, wo? Die Berner werden es nie wissen, weil sie es nicht versuchen.
Stattdessen verwenden sie ihre Energie für Besitzstandwahrung. Als die SRG ankündigte, das Berner Radiostudio nach Zürich zu verlegen, war der Aufschrei programmiert. Die Verschiebung von 170 Stellen wurde als Opferung des Service public auf dem Altar des Neoliberalismus und als feiger Verrat an der freundeidgenössischen Solidarität gebrandmarkt, und wer als Berner Nationalrat nicht mindestens ein öffentliches Protestschreiben unterzeichnete und einen Vorstoss im Parlament einreichte, konnte sich als abgewählt betrachten. Ein wiederkehrendes Argument war, dass die Medienmacht Zürichs mit dem Schritt noch erhöht würde. Tatsächlich sind in Zürich in den vergangenen Jahren vielversprechende neue Medienprojekte wie Watson oder die «Republik» entstanden. Es gibt keinen Grund, warum solche Ideen nicht auch in Bern entstehen könnten; als politisches und diplomatisches Zentrum, dazu noch mitten in der Schweiz gelegen, würde die Stadt die Voraussetzungen mitbringen. Doch die Berner ziehen lieber über Zürich her und gefallen sich in der Opferrolle. Der Schriftsteller Pedro Lenz erklärte in einem Interview, dass Bern nun mal koste (als wäre das ein Naturgesetz), und kritisierte das «Menschenbild der HSGler und der Zürcher, das Rentabilität über alles stellt».
Selbstverstärkende Entwicklung
Deprimierend ist, dass sich die Mixtur aus Bewahrungshaltung und Selbstmitleid selber verstärkt. Wo Offenheit und Dynamik fehlen, siedeln sich auch keine jungen, innovativen Firmen an. Dabei wäre es in Zeiten der Digitalisierung so einfach wie noch nie, Cluster aufzubauen, auch wenn man keine grosse Metropole ist. Zug versucht, sich als Blockchain-Hub zu etablieren. Ein paar Ideen, die dort entstehen, werden vielleicht Erfolg haben; vieles wird scheitern, der Kanton dürfte ab und zu einen Schuh voll herausziehen. Doch wer nichts riskiert, gewinnt auch nichts.
In Bern schaut man derweil skeptisch auf die neue Technologie und ihre Gefahren und hält sich im Zweifelsfall (und Zweifel gibt es immer) lieber zurück. Vielleicht wird man irgendwann neidisch nach Zug schauen und darüber sinnieren, was gewesen wäre, wenn man selbst die Chance gepackt hätte. Aber eigentlich ist man zufrieden, wenn alles so bleibt, wie es ist. «Gäng wie gäng», sagt man in Bern. Und wenn etwas daraus wird, kriegt man via Finanzausgleich ja etwas davon ab.