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Hauptstadt der Kriminalität
Die Polizei am Ort eines versuchten bewaffneten Raubüberfalls im Stadtteil Georgetown in Washington DC im Dezember 2021. Bild: Hugh Mitton/Alamy Stock Foto.

Hauptstadt der Kriminalität

Mit übereifrigen Polizeireformen aufgrund einer ideologischen Politik schlitterte Washington tief in eine Kriminalitätskrise. Wer hier lebt, erfährt ein Lehrstück darüber, was man bei der Verbrechensbekämpfung falsch machen kann.

«Go, go, go – they’re getting away!», schallte es aus der Richtung gut eines halben Dutzends dunkler Gestalten just in dem Moment, als wir zu Fuss unser am Strassenrand parkiertes Auto ansteuerten. Es war kurz nach 21 Uhr an einem Samstagabend vergangenen Dezember mitten in Washington DC, fünf Strassenzüge vom Weissen Haus. Plötzlich stürmte die Gruppe, deren Präsenz am Ende des nachtleeren Blocks von Bürogebäuden wabernde Marihuanaschwaden angekündigt hatten, auf uns zu. Dann wurde es hektisch. Wir sprangen ins Auto, verriegelten die Türen, meine Frau bog flott aus dem Parkplatz in den Verkehr. Durchs Fenster sah ich gerade noch ein paar gerippte Jeans und Daunenjacken direkt hinter uns, in denen ein paar afroamerikanische junge Männer einen Sekundenbruchteil zu spät gekommen waren. Um ein Haar war unsere Familie das 960. Carjacking-Opfer in Washington im Jahr 2023 geworden. Oder des 3500. Raubüberfalls. Dass wir die Mord- beziehungsweise Totschlagsstatistik um einen oder mehrere auf über 274 getrieben hätten, war weniger wahrscheinlich. Immerhin.

Es war ein Schockmoment, aber kein Einzelfall. Im vergangenen Jahr gingen die Verbrechensraten in der US-Hauptstadt durch die Decke: mit 40 pro 100 000 die höchste Mordrate seit 1997; gegenüber dem Vorjahr verdoppelten sich Carjackings (also die gewaltsame Übernahme eines belegten Autos) beinahe, die Anzahl von Raubüberfällen stieg um 66 Prozent, Eigentumsdelikte um über 40 Prozent. Zum Vergleich: In der Schweiz liegt die Mordrate bei 0,3 Tötungsdelikten pro 100 000, die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Raubüberfalls zu werden, ist fünfzigmal kleiner, Carjacking ist ein weitgehend unbekanntes Phänomen.

Auch war unser Erlebnis kein Freak-Fall in einer No-Go-Area: Einbruchdiebstahl im Veloraum unseres Gebäudes (in einem «sicheren» Quartier), ein Nachbar wurde an einem Samstagabend vor seinem Eingang von zwei schwarzen Teenagern ge-«jumpt» und nach einer Rangelei seines Portemonnaies beraubt. Und meinem 14-jährigen Sohn wurden am helllichten Tag bei einer Metrostation mitten in der Stadt unter Schusswaffenandrohung 20 Dollar in Cash abgenommen. Das Handy durfte er behalten, weil er schwindelte, es sei ein altes iPhone 6 – daran hatten die jugendlichen Räuber, drei schwarze Kids in Skimasken, kein Interesse.

Die Verbrechensstatistik korrespondiert mit der Erfahrung der Realität. Der District of Columbia ist nicht nur bei den Pro-Kopf-Raten einer der Kriminalitätsspitzenreiter im Vergleich mit anderen US-Städten in dieser Grössenordnung. DC ist zudem ein Sonderfall, insofern als die Verbrechensrate dem nationalen Trend zuwiderläuft: Während DC für 2023 eine Zunahme schwerer Straftaten um 38 Prozent verzeichnete, notierten für hohe Kriminalität bekannte Städte wie Portland, San Francisco oder Detroit einen Rückgang.

Die üblichen Verdächtigen

Bei Ursachen und Symptomen der «Crime Wave» nimmt Washington keine Sonderstellung ein. Hauptverantwortlich sind sozioökonomisch marginalisierte Gruppen, allen voran junge Afroamerikaner. Polizeiwarnungen und -rapporte sind wie eine traurige Schallplatte mit Sprung: Immer wieder liest man «Lookout for B/M», also ein Black Male, meist ein Teenager oder Twen. Auch wenn man dies aus Angst vor Rassismusverdacht nicht gerne sagt oder hört – Analysten gehen davon aus, dass in Washington eine kleine Minderheit von ca. 1200 bis 2000 überwiegend schwarzen jungen Männern für bis zu
90 Prozent aller schweren Straftaten wie Schiessereien, Messerstechereien, Carjackings/Raubüberfälle und sexuelle Gewalt verantwortlich ist. Afroamerikaner sind auch unter den Opfern massiv übervertreten.

Bei jüngeren Straftätern macht die Child and Family Services Agency zum Teil soziale Risikofaktoren geltend: Platzierung in Pflegefamilien, chronisches Schuleschwänzen oder Sitzenbleiben, Verhaltensstörungen, belegter Missbrauch oder Vernachlässigung und Obdachlosigkeit führen zu ziviler Verwahrlosung und Werteverschiebung. «Inner City Kids» rutschen in die Gangkultur ab, konsumieren Drogen und handeln mit ihnen, werden erwischt, erhalten Vorstrafen, werden zu Wiederholungstätern.

Nichts daran ist sonderlich neu, weder das Phänomen selbst noch die weitgehende Verdrängung der Parallelwelt aus dem öffentlichen Diskurs. Die Dysfunktionalität korrespondiert weitgehend mit sozioökonomischer Schwäche und Nachteilen einer kleinen Gruppe von Afroamerikanern. Deshalb drohen Scylla von biologisch-rassistischen Vorurteilen und Charybdis postkolonialer Schuld der herrschenden Klasse an systemischem Rassismus. Diese Zwickmühle umschifft man besser – ungeachtet der Tatsache, dass ein paar tausend Gangster-Kids in keiner Weise repräsentativ für die gesamte schwarze Bevölkerung von DC sind (knapp 50 Prozent der rund 700 000 Einwohner sind schwarz).

Auch nimmt Washington keine Sonderstellung hinsichtlich anderer allgemeiner Ursachen des zeitweiligen Verbrechensanstiegs seit 2020 ein. Einerseits sorgte die Pandemie für Chaos. Andererseits setzten die Proteste für «Black Lives Matter» und gegen Polizeigewalt nach der Tötung von George Floyd im Mai 2020 Justiz und Polizei bekanntlich im ganzen Land unter Druck.

Cops springen ab

Dabei zeigte sich Washington besonders eifrig: Gleich einem woken Musterschüler setzte DC schon im Juni 2020 die Devise «Defund the Police» um und strich das Polizeibudget um 15 Millionen Dollar (oder knapp 4 Prozent). Im Oktober folgte ein weiterer Schnitt von 33 Millionen. Der Stadtrat bemühe sich, «Jahrhunderte systemischen Rassismus’ ungeschehen zu machen», so der Vorsteher des Komitees für öffentliche Sicherheit, Charles Allen.

Das Polizeidepartement verfügte zähneknirschend einen Einstellungsstopp für neue Polizisten und kündigte den Abbau von mindestens 200 Officers an. Eine weitere Tranche an gestandenen Polizisten flüchtete mangels politischer und legaler Unterstützung in die Pension oder in besser bezahlte und weniger gefährliche Security-Jobs. Viele sahen nicht ein, warum sie in einer von schiesswütigen Gangstern geplagten Stadt, die allein 2019 rund 3000 illegale Schusswaffen konfiszierte, nicht nur ihr Leben, sondern auch noch ein Gerichtsverfahren, Jobverlust oder gar Haft wegen neuerdings als Polizeigewalt taxierter Selbstverteidigung im Dienst riskieren sollten. Einige Cops gestanden mir hinter vorgehaltener Hand, dass sie mittlerweile höchstens Dienst nach Vorschrift verrichteten. Mit der am schwächsten besetzten Verbrechensbekämpfung der letzten fünfzig Jahre – noch heute fehlen 500 Cops – waren Probleme vorprogrammiert.

Inzwischen hat in den USA der breiten Öffentlichkeit gedämmert, dass zwischen dem Abbau von Ordnungskräften und rasant steigender Kriminalität ein Kausalzusammenhang bestehen könnte. «Defund the Police» wurde sogar von Demokraten im Kongress als «tot» bezeichnet und flugs in «Refund the Police» verkehrt. Bis nach Washington kam die Message indes nicht oder erst spät. Heute steht die Stadt als abschreckendes Beispiel einer verfehlten ideologischen Politik da.

Laisser-faire in der Strafverfolgung

Eine womöglich noch fatalere Wirkung auf die Verbrechensrate zeigte die lasche Strafverfolgung und Strafjustiz in Washington. Sie ist weitgehend den Eingriffen der Bundesregierung geschuldet, welche aufgrund des Sonderstatus von Washington als Capital District weitreichende Autoritäten besitzt.

Unter dem von Präsident Biden eingesetzten Bundesstaatsanwalt Matthew Graves, dem obersten Ankläger im District of Columbia, kam es 2023 trotz stark steigender Kriminalitätsraten zu 36 Prozent weniger Verurteilungen schwerer Kriminaltäter als im Mittel der Jahre 2014 bis 2018. Dies betraf schwere Strafbestände wie Mord, Sexualstraftaten, bewaffneten Raub und Überfall, aber auch Diebstahl, illegales Waffentragen und Drogenhandel.

Gemäss dem Jahresbericht von Washingtons Verurteilungsbehörde wurden vergangenes Jahr 79 Prozent der mit einer illegalen Schusswaffe verhafteten Erwachsenen nicht für eine schwere Straftat verurteilt. Über 2000 solche Schusswaffenfälle wurden überhaupt nicht strafrechtlich verfolgt, fallengelassen beziehungsweise nach Schuldeingeständnis in mindere Delikte oder Ordnungswidrigkeiten deklassiert. So kommen gefährliche Kriminelle nicht in den Knast, sondern kehren auf die Strasse zurück.

Dahinter steht neben Ideologie auch Kalkül. Wie in der TV-Serie «The Wire» betreibt man «juicing the stats». Werden schwere Straftaten beispielsweise nur als «versuchtes» Carjacking oder «versuchter» Raubüberfall taxiert, ergibt die geschönte Statistik ein positiveres Gesamtbild mit weniger schweren Straftaten. Wegen Formfehlern oder mangels Beweismate­rials nicht zustande gekommene Verfahren und Verurteilungen tauchen gar nicht als Verbrechen in der Statistik auf. Das mag gut für die Bilanz der zuständigen Politiker sein. Für Washington ist es schlecht: Nicht nur werden Straftäter auf Bewährung oder mit Fussmanschettensender ungehindert erneut straffällig. Die Behörden senden damit auch ein klares Signal, dass kriminelles Verhalten keine Konsequenzen hat. Warum sollte sich ein Krimineller dann läutern?

Hoffen auf Trump?

Washington wurde also von einem perfekten Sturm progressiver Ideologie getroffen.

Immerhin, mittlerweile scheint sich die Lage etwas verbessert zu haben. Aufgrund massiven Drucks der Washingtoner Bevölkerung verabschiedete der Stadtrat vergangenes Jahr eine Notverordnung und im Frühjahr ein neues Gesetz. Demnach können beispielsweise Untersuchungshaft und Inhaftierung bis zum Gerichtstermin sowie die Definitionen von Strafbeständen verschärft werden; die Liste der aufgrund der Pandemie hängigen Verfahren und Gerichtsfälle wird abgearbeitet. Das zeigt Wirkung: Fast alle Indikatoren in der Verbrechensstatistik liegen rund 25 Prozent tiefer als im Vorjahr.

Soll die Verbrechensrate indes nur schon wieder auf den Stand vor 2022 gesenkt werden, muss der Trend weiter forciert werden. Andernfalls müssten die traditionell linksliberalen Washingtoner wohl oder übel auf einen Wahlsieg Donald Trumps hoffen. Dieser hat nämlich durchblicken lassen, er werde die «Home Rule», also die vor einem halben Jahrhundert eingesetzte Teilautonomie der Stadt Washington, widerrufen und DC direkt unter Aufsicht des Kongresses stellen. Dann würde mit harter Hand aufgeräumt und Washington zur durch die Nationalgarde gesicherten Polizeistadt.

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