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Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne

Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005

«The time is out of joint» – Hamlets Klage wird immer plausibler; denn heute ist nichts konstanter als der ständige und immer schneller werdende Wandel. «We have at least three accelerations of accelerating accelerations involved here», schrieb Buckminster Fuller schon 1960 zum Wandel in Transport und Technik. Doch wie kann so etwas wie eine sich beschleunigende Zeit theoretisch und empirisch schlüssig gefasst werden? Dieser Frage stellt sich Hartmut Rosa in seiner umfangreichen Untersuchung. Beschleunigung findet nach Rosa auf drei Ebenen statt. Erstens als technische Beschleunigung; zweitens als Beschleunigung des sozialen Wandels in Form einer «Gegenwartsschrumpfung», und drittens als Beschleunigung des Lebenstempos, das sich objektiv durch eine wachsende Anzahl von Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit und eine Fragmentierung der Zeitstrukturen auszeichnet. Ein Beispiel ist multitasking – häufige «kurz-kurze» Zeiterfahrungen, wie beim Fernsehen: einer kurzen Erlebenszeit folgt eine kurze Erinnerungszeit. Die Zeit vergeht schnell, und wir erinnern uns nicht lange an das, was geschehen ist. Subjektiv drückt sich diese Erfahrung in einer zunehmenden und zeittypischen Klage über Hektik, Zeitnot und Stress aus.

In einem sich selbst steigernden Akzelerationszirkel werden diese Beschleunigungen durch drei Motoren angetrieben: durch eine Ökonomie, bei der Zeit Geld ist; durch den Strukturwandel, der Systeme spezifiziert und Entscheidungen und Optionen in die Zukunft verschiebt; und durch die kulturelle Beschleunigung, die auch eine säkularisierte Antwort auf die Todeserwartung des Menschen gibt. Wer unendlich schnell lebt, lebt ewig und verpasst nichts.

Doch nicht alles geht immer schneller. Rosa gesteht Entschleunigungstendenzen ein und diskutiert sie differenziert. Zum einen verstecken sich jedoch dahinter zum Teil verkappte Beschleunigungsstrategien (wie etwa beim Manager, der sich für einige Wochen ins Kloster zurückzieht, um dann wieder Schritt halten zu können). Zum anderen sind sie oft eine Reaktion auf Beschleunigungen, wie die Zunahme von «Beschleunigungspathologien». Als eine dieser Pathologien interpretiert Rosa die rapide Zunahme von Depressionserkrankungen, das psychische «Einfrieren der Zeit».

Und das ist nicht der letzte Widerspruch. Technische Beschleunigung führt an sich zunächst zu Zeitgewinnen. Können wir schneller etwas erledigen, dann haben wir mehr Zeit. Moderne Beschleunigung zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass die Wachstumsrate über der Beschleunigungsrate liegt, zum Beispiel indem die Anzahl von Kurznachrichten, E-Mails und Faxen schneller wächst als die Zeitersparnis durch die Umstellung vom Brief. Ein weiteres Paradox: gesamtgesellschaftlich gibt es mit dem Wegfall endzeitlicher Geschichtsvorstellungen keine «finale Deadline», keinen «letzten Termin» mehr, im Prinzip haben wir also unendlich viel Zeit – ein Gedanke, auf den die moderne Kultur mit dem Verbot der Zeitverschwendung, mit elaborierter Zeitdisziplin und schliesslich mit einer «universalen Beunruhigung» von Verpassensangst und Anpassungszwang reagiert habe.

In der extensiv geführten Diskussion, die auf der verfügbaren Literatur und empirischen Untersuchungen basiert, geht es um nicht weniger als um die Reinterpretation der Moderne aus beschleunigungstheoretischer Sicht. Dabei ist jedoch der Begriff «Spätmoderne» unglücklich gewählt. Üblicherweise zeigen Bezeichnungen dieser Art polemische Abwertungen an, so im Fall des Begriffs «Spätkapitalismus, oder des «Neoliberalismus», bei dem das «Neo» implizieren soll, dass es sich lediglich um alten Wein («Steinzeitliberalismus», «Manchestertum») in neuen Schläuchen handle.

Als Globalisierungsphänomen bezeichnet Rosa auch das, was er den «beschleunigungsinduzierten Epochenbruch» nennt. Er nimmt die im Globalisierungsdiskurs vermeintlich vorherrschende Sachzwangrhetorik als ein Anzeichen dafür, dass es zu einer Krise «klassisch-moderner» Institutionen wie des Nationalstaats und politischer Gestaltbarkeit – zu einem «Ende der Politik» – komme. Dies stellt allerdings eine verkürzte Sichtweise dar. Dass damit die Idee eines umfassenden «demokratischen Steuerungsanspruchs der Moderne» an Macht verliert, ist allerdings zuzugeben. Ebenso ist es einleuchtend, wenn Rosa verstärkte «Desynchronisationen» zwischen dem Wirtschaftssystem, der Politik und «ökologischen Eigenzeiten» diagnostiziert.

Kritisch ist ausserdem zu fragen, ob gegenüber den offensichtlichen Beschleunigungstendenzen – und neben den zugestandenen Entschleunigungen – nicht auch andere Zeitstrukturen entstehen. Zu denken wäre einerseits an Vertaktungen und Regelmässigkeiten, die sich prinzipiell auf allen Geschwindigkeitsebenen einstellen können bzw. die nicht einfach aufhören zu existieren (man denke an wirtschaftliche Jahresberichte, Legislaturperioden, jährliche Rituale). Auch treten Gewöhnungen ein, die neue Geschwindigkeitsbalancen erzeugen. Zudem besteht die grundlegende Zeiterfahrung der Trennung von Arbeitszeit und Freizeit weiter. Sie ist für eine grosse Zahl von Menschen nach wie vor zentral.

Neben der anspruchsvollen Thematik steht einer schnellen Lektüre auch die manchmal etwas umständlich gebaute Argumentation im Weg. Jedoch: wer wissen will, was es mit der Beschleunigung unseres Lebens auf sich hat, wird es lohnend finden, sich für diese detailreiche und dichte Lektüre die angemessene Zeit zu nehmen.

besprochen von OLAF BACH, geboren 1977, Doktorand der Ökonomie an der Universität St. Gallen.

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