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Hans-Peter Schwarz: «Republik ohne Kompass» und Hans-Werner Sinn: «Ist Deutschland noch zu retten?»

Hans-Peter Schwarz: «Republik ohne Kompass: Anmerkungen zur deutschen Außenpolitik», Berlin: Propyläen Verlag, 2005
Hans-Werner Sinn: «Ist Deutschland noch zu retten?», München: Econ Verlag, 2003

Hans-Peter Schwarz: «Republik ohne Kompass: Anmerkungen zur deutschen Außenpolitik», Berlin: Propyläen Verlag, 2005

Hans-Werner Sinn: «Ist Deutschland noch zu retten?», München: Econ Verlag, 2003

«Erdrückt unter Steuern und doch steuerlos / treibt in der Welt ein krankes Wrack.» Diese Zeilen eines Schlagers aus der Feder Friedrich Hollaenders, des grossen Genies deutscher Unterhaltungskunst zwischen den Weltkriegen, scheinen bei einem Blick auf die Publizistik und das politische Feuilleton wieder von brennender Aktualität zu sein. Der Boom der Wiedervereinigung war, wie man heute weiss, von Anfang an nur geliehen, und auch das Strohfeuer der Berliner Republik brennt längst nicht mehr. Der einstige Motor Europas stottert. Das Ende der Spassgesellschaft anerkennen selbst deren glühendste Anhänger. 15 Jahre nach der Wiedervereinigung hat Deutschland den Blues.

Wenigstens, so betonte Bundeskanzler Schröder kurz bevor er sich im Bundestag das Misstrauen aussprechen liess, habe seine Politik Deutschland «nach aussen selbstbewusster, freier und geachteter gemacht.» Hans-Peter Schwarz hingegen ist Realist. Während ein Teil der Literatur den Auftritt Deutschlands auf der Weltbühne mit dem Hauptdarstellerpaar Schröder und Fischer feiert (Gregor Schöllgen), dessen Leistung aus der Gegenkurve jedoch mit dem Vorwurf des Dilettantismus quittiert wird (Arnulf Baring), geht es ihm nicht um eine Abrechnung mit der rot-grünen Bundesregierung, sondern um die grundsätzliche Orientierung deutscher Aussenpolitik. Dieser, so Schwarz, sei der Bezugsrahmen abhanden gekommen, und so schlingere sie hin und her, ohne Sinn und ohne Ziel: Republik ohne Kompass. Über bissige Kommentare und hämische Kritik hinweg erkennt man im Kern die Weltsicht eines pragmatischen Konservativen, der versucht, der deutschen Aussenpolitik in den zu erwartenden Turbulenzen Orientierung zu geben. Bedarf ist vorhanden – das Werk dürfte noch mehrere Regierungswechsel in unverminderter Aktualität überdauern.

Schwarz wählt den zeitgeschichtlichen Analyseansatz. Ihm geht es um die elementaren Bedingungen, aus denen aussenpolitische Entscheidungen entstehen und mit denen sie zu erklären sind. Entscheidungskonstellationen werden unter Berücksichtigung struktureller Bedingungen in den geschichtlichen Kontext gestellt. Aus dieser Sicht reiht sich zunächst auch die rot-grüne Bundesregierung in die Galerie der Vorgänger ein. Wenn man der Kontinuität der deutschen Aussenpolitik von Adenauer bis Kohl das Wort redet, kommen Prämissen zur Sprache, die von keiner Regierung, gleich welcher Couleur, ernsthaft in Frage gestellt wurden: Ausgleich und Integration in Europa sowie transatlantische Partnerschaft. Die Feinfühligkeit bei der Behandlung der Empfindlichkeiten der wichtigen und weniger wichtigen Partner hatte sich als eine Stärke der Bonner Republik entwickelt. So konnte Helmut Kohl Mitte der neunziger Jahre ohne Übertreibung sagen, erstmals in der Geschichte überhaupt habe Deutschland zu den USA, England, Frankreich und Russland gleichermassen gute Beziehungen. Auch Schröder und Fischer bemühten sich zunächst um eine enge Zusammenarbeit mit den USA, was ihnen unter dem ihnen weltanschaulich näherstehenden Präsidenten Clinton leichter fiel. Sie pflegten einen wohltuend zurückhaltenden Kurs in der Europapolitik, und selten wurden Probleme so konsequent ausgeblendet wie zwischen Schröder und dem «lupenreinen Demokraten» Putin. Aber die Rahmenbedingungen hatten sich ja inzwischen auch geändert. Die bipolare Weltordnung war mit der Implosion der Sowjetunion überwunden, Deutschland wiedervereinigt und die USA die einzig verbliebene Weltmacht. Die Stärke des zeitgeschichtlichen Erklärungsansatzes liegt nun darin, unter Heranziehung der innenpolitischen Präferenzen die aussenpolitischen Handlungsmaximen aus der Interpretation der neuen internationalen Bedingungen herzuleiten und dadurch einen Orientierungsrahmen für anstehende Entscheidungsfindungen zu bieten. Die Schwäche der deutschen Aussenpolitik und ihrer massgeblichen Protagonisten ist es, dass dieser Fragestellung über ein Jahrzehnt ausgewichen wurde. Als es dann galt, in kurzer Frist eine Reihe kritischer Entscheidungen zu treffen, «ist bisher noch keine Bundesregierung derart hurtig, und stets mit anspruchsvoller Begründung, in der Hamstertrommel der Widersprüche herumgesaust.»

So wurde auch die Entscheidung in der Irak-Frage ad hoc und ohne weitere Strategiedebatte – unter den Opportunitätszwängen des Wahlkampfes zumal – getroffen und auf dem Marktplatz von Goslar der staunenden Weltöffentlichkeit der «Deutsche Weg» als Alternative zur «amerikanischen Kriegstreiberei» verkündet. Hier wurde das in einem halben Jahrhundert mühsam aufgebaute Beziehungsnetz der Äquidistanz zwischen den Vereinigten Staaten, Grossbritannien und Frankreich auf einen Schlag zerstört. Das Verhältnis zu den USA notleidend, jenes zu Grossbritannien zumindest angespannt, bleibt in der Not nur noch die Hinwendung zum Frankreich Chiracs, der «Inkarnation des politischen Opportunismus». Doch die Wiederbelebung des deutsch-französischen Tandems bringt keine Einigung Europas gegen Amerika, sondern die Spaltung: der grössere Teil des Kontinents wendet sich ab von dieser «entente fatale». Beide Grundpfeiler deutscher Aussenpolitik, der transatlantische wie der europäische, haben schweren Schaden genommen.

Hier setzt Schwarz’ Versuch an, der Republik den verlorengegangenen Kompass zurückzugeben. Um aber Leitlinien aufstellen zu können, an denen sich deutsche Aussenpolitik künftig orientieren könnte, müssen zunächst die ihnen zugrundeliegenden deutschen Interessen definiert werden. Dies ist umso schwieriger, als nationale Interessen, über die von Parteien propagierten «objektiven Interessen» hinaus, relativ und umstritten bleiben. Im deutschen Falle stehen zwei Probleme zur Lösung an. Zum einen ist im Mehrebenensystem der EU selbst deren grösster Staat nicht mehr in der Lage, die Interessen seiner Bürger allein zu definieren: «an vielen Bahnhöfen, wo deutsche Interessen verladen werden, sind die Züge nach Europa längst abgefahren.» Während andere das Ende nationalstaatlicher Souveränität in Europa beschwören, bleibt der Staat für Schwarz die massgebliche politische Handlungseinheit. Hier liegt das zweite Problem: die Formulierung deutscher Interessen scheint der political correctness zu widersprechen, weswegen das traditionelle Gleichgewicht aus Werten und Interessen in der Politikentwicklung in eine Schieflage geraten sei. Auf der Suche nach den deutschen Interessen muss sich die deutsche classe politique, so Schwarz, «lauter unkorrekte Fragen» stellen, insgesamt neun an der Zahl.

Der Reihe nach werden Chancen und Gefahren für eine Neuorientierung deutscher Aussenpolitik aufgezeigt. Europa und Amerika bleiben die Hauptbezugspunkte auf dem neuen Kompass, und für den Kenner der Politik Adenauers bleibt klar, dass beide Pole einander nicht ausschliessen. Wie sich Adenauer eine europäische Integration nicht ohne das Wohlwollen der USA vorstellen konnte, muss auch für Schwarz der Bezugspunkt USA wieder die gebotene Gewichtung erfahren. Schonungslos zeigt Schwarz deutsche Abhängigkeit sowohl von der wirtschaftlichen als auch der militärischen Potenz Amerikas auf, die allein es vermag, im Hinterhof Europas humanitäre, im nahen und fernen Osten sicherheitspolitische Ziele zu verfolgen. Der Versuch, sich – in Form von Frankreich, Russland und China – anderen Partnern zuzuwenden, erscheint von dieser Warte aus als geradezu töricht – und hier lässt das Selbstvertrauen des Autors in die Richtigkeit seiner Argumentation die eigene Fabulierlust mitunter arg ins Kraut schiessen: «Doch der Verdacht ist nicht abzuweisen, dass sich Deutschland wieder einmal mit den Leichtgewichten zusammentat, um mit dem stärksten Matrosen im Lokal Krach anzufangen.» So argumentiert Schwarz, nicht oft, aber hin und wieder, unter seinem eigentlichen Niveau.

Einen schlechteren Partner als Chiracs Frankreich hätte Schröder 2002 kaum finden können. Nicht nur mit überkommenen neogaullistischen Grossmachtphantasien kann Schwarz nichts anfangen, für ihn liegt der Knackpunkt in einer unterschiedlichen Interessenausrichtung. Während sich Berlin für eine Stärkung der supranationalen Ebene einsetzt, wird Europa in Paris eher als Vehikel für staatsinterventionistische Industriepolitik gesehen. Als das französische Kalkül aufging, den deutschen Wirtschaftsriesen in der EG zu domestizieren, konnte man in Paris ungehindert egoistische Politik unter Verletzung des liberalen Geistes des Binnenmarktes betreiben. Da wichtige Politikvorhaben aber nicht auf die nationale Ebene zurückverlagert, sondern in Brüssel schubladisiert wurden, war Stillstand die Folge. Auf den Partner wurde dabei (etwa im Fall Alsthom/Siemens) keinerlei Rücksicht genommen. Liegt das im deutschen Interesse? Jedenfalls nicht im Interesse der EU, wenn das selbsternannte Führungsduo die Reihen spaltet, während es selber wirtschaftlich darniederliegt und dabei auf vereinbarte Regeln wie den Stabilitätspakt keine Rücksicht nimmt. Bei der Suche nach dem wirklichen kranken Mann Europas hätten beide gute Qualifikationschancen. Genüsslich zitiert Schwarz Nicolas Baverez’ Studie über den Abstieg der Grande Nation. Dazu im Gegensatz bevorzugt er selber eine graduelle Hinwendung nach London. Aber auch bei der Wiederherstellung früherer Äquidistanz warnt Schwarz vor frisch-fröhlichen Improvisationen.

Die auch in der deutschen Öffentlichkeit meistumstrittene Frage bleiben die Auslandeinsätze der Bundeswehr. Nach der Vehemenz, mit der man solche in der Opposition abgelehnt hatte, musste die rot-grüne Koalition schon auf höchste moralische Begründungen («Nie wieder Auschwitz!») zurückgreifen. In der Folge stieg die Zahl solcher Einsätze dann geradezu inflationär, ohne indessen eine klare Linie oder Logik erkennen zu lassen. Auch hier fordert der Autor eine neue Sachlichkeit. «Es ist unerfindlich, wie auf längere Sicht die Pazifizierung und Demokratisierung von Bergvölkern gelingen soll, die […] sich dann wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung widmen, einander gegenseitig die Hälse abzuschneiden. Wer die Öffentlichkeit glauben machen möchte, damit einen gewichtigen Beitrag zu einer ‹Zivilgesellschaft› zu leisten, bewegt sich am Rande der Lächerlichkeit.» Egal, ob Neocons mit der Waffe die Segnungen der Demokratie in die Welt hinaustragen oder Neogaullisten ihre zwielichtige Afrikapolitik betreiben – die deutschen Interessen blieben am besten gewahrt, wenn man den Partnern mit den besten Wünschen absagt. Äquidistanz auch hier.

Schwarz’ Überlegungen münden in eine Staatsräson deutscher Aussenpolitik, die, neben den bereits vorgestellten, noch auf einem weiteren Grundpfeiler ruht: wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erleichtert die Wahrnehmung eigener Interessen ungemein, notfalls mit Scheckbuchdiplomatie. Man muss sie sich allerdings leisten können.

Allein, die deutsche Wirtschaft krankt. Hohe strukturelle Arbeitslosigkeit, steigende Abgaben, marode Sozialsysteme, Insolvenzzahlen auf Rekordniveau, sowie Produktionsverlagerung ins nahe und ferne Ausland lassen den deutschen Patienten darniederliegen. Nach einer gründlichen Diagnose verordnet ihm Hans-Werner Sinn eine Therapie nach der «ökonomischen Schulmedizin». Nur so sei Deutschland noch zu retten. Das Rezept in Form eines Sechspunkteplans ist vielleicht der schwächste, jedenfalls der kürzeste Abschnitt in der Krankenakte. Sinns Forderungen sind nicht unumstritten. Seinem Vorschlag der Kinderrente etwa halten Berufsgenossen den radikalen Umstieg auf ein kapitalgedecktes System entgegen. Und die Entmachtung der Gewerkschaften wird sich nicht ohne weiteres bewerkstelligen lassen. In der Diagnostik aber beweist sich die Meisterschaft des Mediziner-Ökonomen. Schonungslos deckt er die strukturellen Schwächen einer deutschen Wirtschaft(spolitik) auf, die sich im Lauf der Zeit institutionalisiert haben. Dabei räumt er mit manchen sich im politischen Diskurs hartnäckig haltenden Vorurteilen auf – auch mit jenem, Ökonomen könnten nicht gleichzeitig seriös und allgemeinverständlich argumentieren. Nicht mit der essayistischen Brillanz eines Hans-Peter Schwarz, jedoch eindringlich und auch für Laien jederzeit einleuchtend, beschreibt Sinn die Leidensgeschichte dieser einst so vitalen Volkswirtschaft.

Nach längerer Stagnation wird eine neue Bundesregierung ihren Dienst aufnehmen. Eine grosse Koalition des kleinsten gemeinsamen Nenners? Die radikalen Rezepte Hans-Werner Sinns dürften kaum in der Apotheke einer neuen Wirtschaftspolitik einzulösen sein werden. Vielleicht aber greift man im Auswärtigen Amt vermehrt zum Kompass eines Hans-Peter Schwarz. So käme das deutsche Schiff zwar nicht auf Volldampf, immerhin aber wieder in ruhigere Gewässer.

besprochen von Andreas Böhm. Der 1977 geborene Politikwissenschafter ist Assistent am Schweizer Lehrstuhl für Politische Wissenschaften der Andrássy-Universität Budapest.

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