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Hans-Hermann Hoppe im Gespräch

Hans-Hermann Hoppe ist einer der streitbarsten libertären Intellektuellen der Gegenwart. Er bietet in seinen Büchern eine radikale Kritik der Demokratie. Sie ist für ihn jene Staatsform, in der eine Mehrheit sich geschickt auf Kosten einer Minderheit bedient. René Scheu hat Hans-Hermann Hoppe in Zürich und Lech am Arlberg getroffen. Nach den Vorgesprächen
fand der Gedankenaustausch klassisch-verbindlich per E-Mail statt.

Herr Hoppe, mit Freunden in Brasilien habe ich jüngst eine intensive Diskussion über die Vor- und Nachteile direktdemokratischer Modelle geführt. Als ich ihnen das politische System der Schweiz erklärte, in dem das Volk das letzte Wort hat, war ihre spontane Antwort: «Das ist ja der reinste Kommunismus!» Wir sehen das in der Schweiz anders und sind stolz auf unsere direktdemokratische Tradition, um die viele Europäer uns beneiden. Wie sehen Sie das?

Hans-Hermann Hoppe: Ja, natürlich ist die Demokratie, ob direkt oder indirekt, eine Form des Kommunismus. Eine Mehrheit entscheidet darüber, was mir und was dir gehört und was ich und du tun dürfen oder nicht. Das hat mit Privat-eigentum nichts zu tun, sehr viel aber mit der Relativierung von Eigentum, also mit Gemeineigentum, also mit Kommunismus.

Bei Privateigentum bestimme ausschliesslich ich, was mit meinem Eigentum getan wird (vorausgesetzt, ich beschädige dabei nicht die physische Integrität des Eigentums anderer). Und bei mehreren Eigentümern derselben Sache können sich die Miteigentümer jederzeit trennen, insofern sie ihren Eigentumsanteil verkaufen. Jede andauernde Eigentümergemeinschaft ist also freiwillig und wechselseitig vorteilhaft. Umgekehrt: bei Gemeineigentum bzw. Kommunismus bestimmen (auch) andere – irgendeine Mehrheit – über die Verwendung in meinem Besitz befindlicher Sachen. Dabei kann ich mich nicht von den andern Miteigentümern und ihren Mehrheitsentschlüssen trennen, indem ich meine Gemeineigentumsanteile einfach verkaufe. Bezeichnenderweise gibt es solche Anteilscheine gar nicht, weder in irgendeiner Demokratie noch in den früheren sozialistischen Ostblockländern.

 

Die Verfassung setzt dem Staat und dem demokratischen Mehrheitsprinzip Grenzen und schützt die Freiheitsrechte der Bürger. Ihre Kritik am Mehrheitsprinzip ist berechtigt – doch ist es ein Problem des Rechtsstaates, nicht der Demokratie an sich.

Erstens sind Verfassungen immer Staats-Verfassungen, d.h. sie setzen das Recht, Steuern zu erheben und ein ultimatives Rechtsprechungsmonopol auszuüben, schon voraus. Doch wie, oh wie, kann von einer Institution, die auf Zwangsabgaben beruht und ein Rechtsprechungsmonopol besitzt, behauptet werden, dass sie Eigentum und Freiheit schützen könne?

 

Es ist eine der zentralen Aufgaben eines Staates, das Eigentum seiner Bürger zu schützen – auch eines modernen demokratischen Staates. In Artikel 26 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft heisst es: «Das Eigentum ist gewährleistet.» Wobei man ergänzen muss, dass es in Absatz 2
heisst: «Enteignungen und Eigentumsbeschränkungen, die einer Enteignung gleichkommen, werden voll entschädigt.»

Als Steuereintreiber ist der Staat ein enteignender Eigentumsschützer. Ein Widerspruch in sich. Und als Letztrichter und -schlichter in allen Konfliktfällen einschliesslich solcher, in die er bzw. seine Agenten selbst involviert sind, bewahrt und beschützt der Staat nicht geltendes Recht, sondern er verändert es per Gesetzgebung zu seinen Gunsten. Er pervertiert Recht. Noch ein Widerspruch. Und zweitens: jede Verfassung muss interpretiert werden, sei es von einem obersten Gericht oder, wie in der Schweiz, von einer bestimmten Volksmehrheit. Was bedeutet z.B. «voll entschädigt» im Zusammenhang mit einer Enteignung? Soviel wie der Enteignete verlangt? (Aber dann bedarf es keiner Enteignung.) Welche Beschränkungen eine Verfassung einem Staat in seinem Tun auch immer auferlegen mag, die Entscheidung darüber, ob sein Handeln rechtens oder unrechtens ist, wird in allen Fällen von Personen getroffen, die selbst Agenten des Staates sind. Es ist darum voraussehbar, dass die Definition von Privateigentum und Eigentumsschutz stetig zugunsten der legislativen Gewalt des Staates eingeengt und ausgehöhlt wird. Wer sägt schon den Ast ab, auf dem er selber sitzt?

 

Sie argumentieren strikt vom Eigentumsbegriff her. In einer idealen, von guten Menschen bevölkerten Welt ist klar geregelt, wem was gehört. In der Praxis kommt es jedoch stets zu Konflikten. Es braucht deshalb eine Instanz, die in solchen Fällen für klare Verhältnisse sorgt: den Rechtsstaat. Rechtsstaat und Demokratie gehören zusammen.

Richtig. Es wird vermutlich immer Mörder, Räuber, Diebe und Betrüger geben, und jede Gesellschaft muss solche Rechtsbrecher erfolgreich in Schach halten, um Bestand zu haben. Dazu braucht es eine Rechtsordnung. So weit, so gut. Aber eine Rechtsordnung ist etwas anderes als ein «Rechtsstaat» oder eine «demokratische Rechtsverfassung». Die Ideen «Staat» bzw. «Demokratie» und «Recht und Rechtssicherheit» sind logisch unvereinbar. Der (demokratische) Staat ist dadurch definiert, dass er Unrecht begehen und Enteignungen vornehmen darf. Staatliches Recht ist immer pervertiertes Recht. Was eine Gesellschaft tatsächlich braucht, um Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten und für «klare Verhältnisse» zu sorgen, ist kein Staat und keine Demokratie, sondern eine Privatrechtsordnung.

 

Bleiben wir vorerst bei der Demokratie. Die Opposition in der Schweiz bilden nicht irgendwelche Parteien, sondern das Volk. Sein stets drohendes Nein domestiziert die Politik. Sie schreiben in Ihren Büchern, dass die Demokratien ebenso untergehen werden, «wie der Sowjetkommunismus zum Untergang bestimmt war». Ein gewagter Vergleich – wie kommen Sie darauf?

Zunächst: jede Form des Kommunismus, einschliesslich der Demokratie, ist wirtschaftlich unproduktiv. Der allgemeine Lebensstandard ist niedriger, als er sonst wäre. Was den Fall der Schweiz im speziellen angeht: nun, Demokratie kann allenfalls in ganz kleinen, kulturell homogenen Gemeinden «halbwegs» funktionieren, d.h. ohne schnell im wirtschaftlichen Ruin zu enden. Wo jeder jeden kennt und um dessen gesellschaftliche Position weiss und wo es darum eine ausgeprägte soziale Kontrolle gibt, da ist es schwer, sich das Eigentum anderer auf «demokratischem Weg» verschaffen zu wollen, auch wenn dies «theoretisch» möglich ist. Sozialer Druck verhindert, dass so etwas passiert. Notfalls, wenn sozialer Druck allein nicht ausreicht, sorgen die natürlichen lokalen Eliten mit anderen Mitteln dafür, dass demokratisch-kommunistische Aufwiegler zur Raison gebracht werden.

 

Das ist einseitig gedacht. Politische Partizipation hat auch eine positive Wirkung: sie stärkt das Verantwortungsgefühl der Bürger.

Das ist Wunschdenken. Je grösser und anonymer die Personeneinheiten werden, über die demokratisch bestimmt wird, umso unbedenklicher kann man seinen jeweiligen Neidgefühlen, Machtgelüsten und Wahnvorstellungen nachgeben. Und umso schneller wird die Demokratie zu einem Instrument, um sich auf Kosten anderer zu ermächtigen und bereichern, und umso unausweichlicher kommt es zu einem stetigen wirtschaftlichen Niedergang.

 

Warum steht dann die Schweiz als direktdemokratischer Staat ökonomisch und politisch stabiler da als die nördlichen und südlichen Nachbarn, die für repräsentative Demokratie stehen? Je direkter die Demokratie ist, desto erfolgreicher ist sie wirtschaftlich.

Ich habe die Antwort hierauf schon angedeutet. Der relative wirtschaftliche Erfolg der Schweiz im Vergleich zu ihren grossen Nachbarländern hat wenig oder gar nichts mit ihrer direkten Demokratie zu tun, sondern vielmehr damit, dass die Schweizer Demokratie eine kleine Demokratie ist. Klein nicht nur deshalb, weil die Schweiz insgesamt ein kleines Land ist; klein vor allem und insbesondere, weil die Schweiz stark dezentralisiert ist, mit vielen kleinen homogenen und (immer noch) relativ autonomen Kantonen. Demokratie in der Schweiz ist (immer noch) weitgehend lokale Demokratie. Lokale Angelegenheiten werden lokal entschieden, ohne Eingriff von «aussen» oder «oben» (von Bern, Brüssel, Washing
ton oder New York). Das ist das Geheimnis der Schweiz.

Gemessen am Idealbild vieler «Demokratiker», dem Bild eines demokratischen Weltstaates, für den alle lokalen Probleme globale Probleme sind, die auch global gelöst werden müssen, letztendlich dem Bild der Vereinten Nationen, ist die Schweiz mit ihren eigenständigen Kantonen damit sogar ausgesprochen undemokratisch. Denn sie schliesst ja andere, grössere (und damit gemäss demokratischer Logik «besser» legitimierte) Mehrheiten kategorisch von jeder lokalen Entscheidungsfindung aus. Doch ist es gerade dieses Undemokratische, d.h. ihr hoher Grad an politischer Dezentralisierung, der die Schweiz wirtschaftlich insgesamt so erfolgreich macht.

 

Demokratien haben einen unbestreitbaren Vorteil. Man kann jene Politiker, die eine krasse Umverteilungs- und Bereicherungspolitik befürworten, «ohne Blutvergiessen» wieder abwählen, wie Karl Popper es einmal formulierte. 

Zunächst einmal hat die Demokratie den viel wichtigeren Nachteil, dass man eine krasse Umverteilungs- und Bereicherungspolitik überhaupt befürworten darf und damit, jedenfalls in «grossen» Demokratien, auch gewählt werden kann und tatsächlich wird – anstatt als kommunistischer Aufwiegler an den Pranger gestellt und des Platzes verwiesen zu werden. Was den angeblichen Vorteil der Demokratie beim friedlichen Regierungswechsel angeht, so setzt die Frage voraus, dass Regierungen bzw. staatliche Machthaber – das bedeutet territoriale Rechtssprechungs- und Steuermonopole – überhaupt zur Friedenssicherung tauglich sind. Ich bestreite das. Aber selbst wenn man diese Annahme akzeptiert, dann folgt daraus keineswegs «Demokratie». Man kann eine Regierung z.B. auch friedlich wechseln, indem man die Inhaber staatlicher Machtpositionen durch regelmässig veranstaltete Lotterien bestimmt.

 

In Demokratien gibt es politischen Wettbewerb. Das heisst zwar nicht unbedingt, dass die besten und kompetentesten Leute in die wichtigen Ämter kommen. Aber es garantiert doch einen gewissen Kompetenzstandard der Politiker. 

Wettbewerb ist nicht ausnahmslos «gut». Nur Wettbewerb bei der Herstellung von Gütern ist gut. Dagegen ist Wettbewerb bei der Herstellung von Ungütern «schlecht», ja schlechter als schlecht. Wir wollen keinen Wettbewerb darin, wer uns am besten verprügeln kann. So ist es auch mit der Demokratie und dem politischen Wettbewerb. Die Demokratie erlaubt es, sich per Mehrheit das Eigentum anderer Personen anzueignen. Sie steht im Widerspruch zum Gebot sämtlicher Hochreligionen, nicht das Eigentum anderer begehren zu wollen. Während uns eine Lotterie irgendeinen «zufälligen» Stehler-Hehler als Machthaber bescheren würde, garantiert «demokratischer Wettbewerb», dass nur die «besten» Stehler-Hehler in die entscheidenden Machtpositionen aufrücken, d.h. diejenigen, die vom Eigentümerstandpunkt aus die übelsten aller Machthaber sind. Die Demokratie sorgt dafür – und umso mehr, je grösser sie ist (!) –, dass nur und ausschliesslich üble, von keinerlei moralischen Skrupeln geplagte und von Machthunger und Grössenwahn besessene Personen an die Spitze des Staates gelangen – die jeweils «besten» Dummschwätzer und Nichtswisser, die dem «Volk» in demagogischer Manier das meiste versprechen, ohne damit die geringste Aussicht auf Erfolg zu haben.

 

Das ist eine Übertreibung. Politiker sind im Durchschnitt weder schlechter noch besser als andere Leute. Und was ist mit den unabhängigen Unternehmer-Politikern, wie die Schweiz sie auch heute noch kennt?

Ein Mann wie Christoph Blocher ist ein Glücksfall für die Schweiz. In einer «grossen» Demokratie, wie Deutschland oder den USA, hätte ein Blocher nicht den Hauch einer Chance. Und selbst in der Schweiz ist es Blocher ja bezeichnenderweise nicht gelungen, eine Mehrheit zu erringen und ganz an die Spitze zu gelangen. Und das, obwohl auch Blocher, bei allen Verdiensten, die er für die Schweiz hat, keineswegs ein lupenreiner Liberaler und kompromissloser Verteidiger des Privateigentums ist.

Besser noch wären die Chancen für solche Männer, wenn die Schweiz wieder, so wie sie es einmal war, eine Konföderation von Kantonen würde, statt ein zunehmend zentralisierter föderaler Gesamtstaat. Das alles gilt übrigens genauso für die USA. Auch dort wäre es besser gewesen, man hätte die nach dem Unabhängigkeitskrieg bestehende Konföderation beibehalten, anstatt die gegenwärtige, föderale Zentralstaatsverfassung anzunehmen. Das hätte der Welt nicht nur eine dauernde Quelle aussenpolitischer Aggression und Kriegstreiberei erspart. Amerika insgesamt wäre heute weit wohlhabender und friedlich-zivilisierter, als es tatsächlich der Fall ist.

Hieraus leitet sich übrigens eine zentrale Forderung ab – wenn einem denn Eigentum und Freiheit am Herzen liegt. Statt, politisch korrekt, den gegenwärtigen Trend zu immer grösserer politischer Zentralisierung zu unterstützen, sollte man ihn mit allen zu Gebote stehenden Mitteln bekämpfen. Wir brauchen keinen europäischen Gesamtstaat, so wie ihn die EU schaffen will. Und noch weniger brauchen wir einen Weltstaat. Wir brauchen vielmehr ein Europa und eine Welt, die aus Hunderten bzw. Tausenden kleiner Liechtensteins und Singapurs besteht.

 

Müssten Sie als Anarchist nicht grosses Vertrauen in die Klugheit des Volkes haben?

Was die Klugheit des Volkes angeht, so ist vor allem Realismus angesagt. Wir stimmen nicht darüber ab und lassen dann eine Stimmenmehrheit entscheiden, wer unsere Anzüge, Autos, Computer und Häuser herstellt, wer unsere Krankheiten heilt und wer uns belehrt oder unterhält. Jeder bestimmt dies selbst für sich, mit seinem Eigentum und seinen individuellen Kaufentscheiden. Das Volk würde es, mit Recht, als einen empfindlichen Wohlstandsverlust, ja als eine Katastrophe empfinden, wäre dies nicht so. Das zeugt von Klugheit. Aber ausgerechnet bei einem Gut wie Recht und Ordnung, das unser Leben viel tiefer betrifft als alle Autos und Häuser, da verlässt sich das Volk auf die vermeintliche Weisheit einer Mehrheit. Das zeugt von atemberaubender Dummheit. Oder besser: von Volks-Verdummtheit, für die die Propagandisten und Profiteure der Demokratie verantwortlich sind. Aber natürlich hoffe ich, dass das Volk letztlich klug genug sein wird, auch diesen Irrsinn zu durchschauen.

Sie haben zu Beginn die Privatrechtsgesellschaft ins Spiel gebracht, die ganz ohne Staat auskommt. Solche Gedankenexperimente sind zweifellos reizvoll. Aber wie hat man sich eine solche anarchistische Privatrechtsordnung konkret vorzustellen? Die Anreize, sich das Eigentum anderer gewaltsam anzueignen, wären sehr hoch. Man muss sich nicht fürchten, von Polizei oder Militär belangt zu werden. 

Zunächst: eine Privatrechtsordnung ist eine Gesellschaft, in der jede Person und Institution ein und denselben Rechtsregeln unterworfen ist. Es gibt in dieser Gesellschaft kein «Staatsrecht» oder «öffentliches Recht», das Staatsangestellten Privilegien gegenüber blossen Privatpersonen einräumt. Es gibt kein ultimatives Rechtsmonopol und kein Steuerprivileg. Es gibt in dieser Gesellschaft nur Privateigentum und ein für jedermann gleichermassen gültiges Privatrecht. Konkret im Hinblick auf die Frage heisst dies: auch die Produktion von Recht und Ordnung wird in einer Privatrechtsgesellschaft von frei finanzierten und im Wettbewerb miteinander stehenden Unternehmen erledigt, genau wie die Produktion aller übrigen Güter und Dienstleistungen.

Nun zur Anreizstruktur einer privatrechtlich organisierten Rechts- und Sicherheitsindustrie im Gegensatz zur gegenwärtigen, staatlich organisierten. Da gibt es einen alles entscheidenden Unterschied. Der Staat, auch der demokratische, operiert als ultimativer Rechtsmonopolist in einem vertragslosen rechtlichen Vakuum. Es gibt keinen normalen, privatrechtlichen Vertrag zwischen dem Staat als Anbieter von Recht und Ordnung und seinen Bürgern als Abnehmern. Was der Staat «anbietet», ist etwa dies: ich garantiere dir vertraglich gar nichts; weder sage ich dir zu, welche Sachen es konkret sind, die ich als «dein Eigentum» zu schützen gedenke, noch sage ich dir, was ich mich zu tun verpflichte, wenn ich meine Leistung deiner Meinung nach nicht erfülle – aber ich behalte mir in jedem Fall das Recht vor, einseitig den Preis für meine «Leistung» zu bestimmen und überhaupt per Gesetzgebung alle derzeitigen Spielregeln während des laufenden Spiels zu ändern.

Man stelle sich nur einmal einen frei finanzierten, privatwirtschaftlichen Sicherheitsanbieter vor, gleichgültig ob Polizei, Versicherer oder Schlichter, der seinen prospektiven Kunden ein solches Angebot unterbreitet. Er wäre mangels Kunden sofort bankrott. Private Sicherheitsanbieter müssen ihren Kunden daher Verträge anbieten. Diese Verträge müssen klare Eigentumsbeschreibungen sowie eindeutig definierte wechselseitige Leistungen und Verpflichtungen enthalten, und sie können während ihrer vereinbarten Geltungsdauer nur einvernehmlich geändert werden. Mehr noch, um für einen Sicherheitskäufer akzeptabel zu sein, müssen die angebotenen Verträge Bestimmungen darüber enthalten, was im Fall eines Konflikts zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer passiert, und was bei einem Konflikt zwischen verschiedenen Versicherern bzw. ihren jeweiligen Kunden. Und diese Fälle können nur dadurch einvernehmlich zwischen Versicherern und Versicherten geregelt werden, dass man hierfür eine von den jeweiligen Streitparteien unabhängige, beidseits vertrauenswürdig erscheinende dritte Partei als Schlichter benennt. Und was diese dritte Partei angeht: auch sie ist frei finanziert und steht im Wettbewerb mit andern Schlichtern. Ihre Kunden, d.h. die Versicherer und die Versicherten, erwarten von ihr, dass sie ein Urteil fällt, das allseits als fair und gerecht anerkannt werden kann. Nur Schlichter, die dies vermögen, werden sich im Schlichtermarkt behaupten oder wachsen können. Schlichter, die das nicht können, verschwinden vom Markt.

Ich frage: Unter welchem dieser beiden Arrangements, dem staatlichen oder dem privatrechtlichen, kann man sich seines Lebens und Eigentums sicherer sein?

 

Bleiben wir beim Konkreten. Zwei Nachbarn zerstreiten sich, weil eine grosse Tanne zuviel Schatten wirft. In einer Privatrechtsgesellschaft ist nicht klar, an wen der Geschädigte sich im Fall eines Konflikts wenden soll. Wer repräsentiert die Rechtsordnung, von der Sie sprechen? Und was, wenn nicht alle Bewohner eines Territoriums dieselbe Rechtsordnung akzeptieren?

Ganz einfach. Die beiden Streitparteien gehen zu ihrem Versicherer. Sind sie beide Kunden ein- und derselben Versicherung, entscheidet diese den Fall, selbstverständlich nach gründlicher Überprüfung der bestehenden Eigentums- und Vertragsverhältnisse der Kontrahenten und in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des Versicherungsvertrags. Wenn mehrere Versicherer involviert sind und diese in der Beurteilung des Falls zu einer einheitlichen Lösung kommen, dann sind es beide Versicherer zusammen, die die Entscheidung treffen. Und wenn verschiedene Versicherungen zu unterschiedlichen Urteilen gelangen, dann ruft man einen allseits geschätzten Schlichter an, und es ist dieser Schlichter, der die Entscheidung fällt. Das Prozedere ist ganz klar und eindeutig, und es entspricht der in weiten Teilen des (internationalen) Geschäftsverkehrs tatsächlich geltenden Rechtspraxis.

Hinsichtlich seiner Eindeutigkeit (kein Chaos, sondern klare Verhältnisse!) unterscheidet es sich in keiner Weise von der gegenwärtigen (nationalen) Rechtspraxis. Aber es hat den entscheidenden Vorteil, dass sich jedermann seine Versicherer, Versicherungsverträge und unabhängigen Schlichter auswählen und sie kündigen kann, anstatt von einer einzigen und unkündbaren Zwangsanstalt versichert und gerichtet zu werden.

 

Das klingt nach schöner, idealer Welt. In der Praxis sind die Leute jedoch keiner kohärenten Haltung verpflichtet. Gesetze und Verträge müssen interpretiert werden – nach verbindlichen Kriterien, die wiederum interpretiert werden müssen. Es droht Unübersichtlichkeit und Chaos, ein wenig wie im Markt der Handyanbieter und -tarife, wo ständig neue Anbieter auf den Markt drängen, deren Angebote und Verträge wiederum von Metaanbietern beurteilt werden müssen usw. Wäre ein solches Leben nicht sehr anstrengend? 

Ich nehme an, diese Frage ist nicht ganz ernst gemeint. Sie erinnert mich an die Situation 1989, kurz nach dem Zusammenbruch des «real existierenden Sozialismus» in der DDR. Damals, als die DDR-ler, die Ossis, zum erstenmal die Fülle des Warenangebots in westdeutschen Läden zu Gesicht bekamen, gab es nicht selten die Klage zu hören, das sei ja alles vielzuviel und unübersichtlich. Man wisse vor lauter Angeboten gar nicht, was man denn kaufen solle. Wie schön sei es dagegen doch in der vormaligen DDR gewesen. Da gab es z.B. bei Autos nur die Auswahl zwischen einem Trabi und einem Wartburg, und das bei über zehnjähriger Lieferfrist, und die Läden waren fast immer leer, so dass die Auswahl, wenn es eine solche angesichts der allgemeinen Mangelwirtschaft überhaupt gab, immer denkbar einfach war. Wollen Sie das? Dann, und nur dann, macht es Sinn, für die gegenwärtige demokratische Rechtsverfassung zu plädieren!

 

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Das Gespräch führte René Scheu schriftlich.

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