Handelt der deutsche Staat legal?
Der Staat macht Gesetze. Das heisst aber nicht, dass alles, was er tut, auch schon Gesetz ist. Eine zweite deutsche Aussensicht.
Für juristische Laien ist es leicht. Man muss sich an Recht und Gesetz halten, sagen sie. Doch genau dort beginnen die eigentlichen Schwierigkeiten. Denn Recht und Gesetz können durchaus zwei verschiedene Dinge sein. Eine gesetzgebende Körperschaft ist nämlich zumindest de facto in der Lage, einem Unrecht Gesetzeskraft zu geben. Wehe dem, der dann vor dem Dilemma steht, entweder dem Gesetz oder dem Recht treu zu sein.
Gesetze kann man machen. Recht muss man erkennen. Insofern sind Recht und Gesetz zwei ganz verschiedene Arten menschlicher Geistestätigkeit. Wer einmal die Gewalt erlangt hat, gesetzliches und ungesetzliches Handeln festlegen zu dürfen, der selbst kann mit dem Gesetz nicht mehr in Konflikt geraten. Denn faktisch ist er das Gesetz. Ob er dabei allerdings auch im Recht ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Denn Recht ist ein Gefühl. Es ist die sorgsam erkannte und in sprachlogische Formen gefasste, emotionale Überzeugung der überwiegenden Mehrheit in einer Rechtsgemeinschaft. Das, was sie als Recht akzeptiert, gilt als Recht. Deshalb sprechen Juristen von ihrem Rechtsgefühl.
In gewöhnlichen Zeiten werden Recht und Gesetz nicht als Gegensätze begriffen. Wo das Leben ein ruhiger Fluss ist, da decken sie sich weitestgehend. Allenfalls an sogenannten Systemgrenzen – und besonders bei Systembrüchen – wird offenbar, dass Recht und Gesetz keine konzentrischen Kreise sind. Dann ringen Juristen um Gründe für Sanktionen gegen Menschen, die dem einen Kreis loyal, dem anderen hingegen illoyal gegenüberstehen. Die deutsche Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts kennt solche Problemlagen aus den Abwicklungen ihrer implodierten Totalitarismen. Wie hätte ein Marinerichter sich zu verhalten gehabt? Was wäre von einem Mauerschützen zu erwarten gewesen? Welches Recht galt?
Bestehen Systeme kontaktlos nebeneinander, kann Burgfriede herrschen. Die Frage nach dem Verhältnis von Recht zu Gesetz wird erst brennend, wenn unterschiedliche Rechtsgefühle in Raum und Zeit aufeinandertreffen. Grenzgänger, als Angehörige beider Rechtskreise, stehen vor der Gretchenfrage: Wie wollen wir es mit den Gesetzen unserer Nachbarn halten? Tolerieren wir den Unterschied? Oder wollen wir das eigene Rechtsgefühl verabsolutieren?
Deutschland und die Schweiz sind durch eine solche juristische Wetterscheide getrennt. Interessierte Kreise in Deutschland sind schon lange bemüht, das Rechtsgefühl ihres Landes in eine bestimmte Richtung zu biegen. Sie verbreiten eine Stimmung, die besagt, das Vermögen eines einzelnen sei überhaupt nur insoweit legitim, als der Staat es nicht für sich benötige. Und die Gewalt der Definition über den Staatsbedarf sehen diese Kräfte – aus Einfalt oder blanker Rücksichtslosigkeit – beim Staat selbst.
Demgegenüber akzeptiert das Schweizer Rechtsgefühl noch die wirtschaftliche Privatsphäre des Individuums. Wo also deutsche Gesetze längst unbarmherzig zugreifen, regiert in den Kantonen noch eine verbliebene fiskaljuristische Beisshemmung.
Die aktuelle Diskussion, gesetzwidrig erlangte Informationen aus der Schweiz zu kaufen und in Deutschland zum staatlichen Steuerprofit zu nutzen, ohne dies für unerlaubt zu halten, überschreitet die Grenzen der wechselseitigen Toleranz. Deutsches Rechtsempfinden erhebt sich über das Schweizer Gesetz. Das aber kann nicht ohne Wirkung auf das deutsche Recht bleiben. Warum ist das so?
Ein Staat, der mit seinen eigenen Gesetzen, wie gezeigt, nie in Konflikt geraten kann, muss sich selbst Grenzen ziehen, um nicht den Kontakt zu dem Rechtsgefühl seiner Bürger zu verlieren. Das deutsche Staatsrecht beschränkt staatliche Allmacht daher mit dem dreiteiligen Übermassverbot: Ist der Datenkauf geeignet, Steuereinnahmen zu bewirken? Ja, das ist er. Ist er erforderlich? Nein, man könnte die Datenträger auch beschlagnahmen. Steht der Pakt mit einem Gesetzesbrecher in angemessenem Verhältnis zum Steuergewinn? Gewiss nicht, denn Recht ist keine Frage des Preises.
Schon diese nur binnenstaatliche Betrachtung erweist: hier wird Rechtsgefühl verletzt. Der Fiskus will aus purer Finanznot Früchte des verbotenen Baumes verzehren. Hält sich ein Rechtsstaat aber nicht mehr an seine eigene Ordnung, so verrät er seine Prinzipien und untergräbt damit die Fundamente der eigenen Gesetzgebungsautorität. Es steht zu befürchten, dass die Bürger die Gesetze eines solchen Staates bald nicht mehr fraglos akzeptieren werden, weil ihr Vertrauen in die Einheit von Recht und Gesetz erschüttert ist.
Carlos A. Gebauer, geboren 1964, ist Rechtsanwalt und Autor (www.make-love-not-law.com).