Halbwahrheiten ganz durchblicken
Das Internet hat die Demokratie angreifbar gemacht. Zur gesellschaftlichen Selbstverteidigung muss das kritische Denken einer jungen Generation gefördert werden.
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Fakten können Menschen nicht immer davon überzeugen, ihre Meinung zu ändern – diese Erkenntnis ist heute von besonderer Aktualität. Die investigative Organisation Bellingcat hat seit ihrer Gründung vor acht Jahren eine Reihe von Themen untersucht, hinter denen zahlreiche Internetnutzer eine angebliche Verschwörung eines «orthodoxen Mainstreams» wittern. Der Einsatz von Sarin- und Chlorgas als Chemiewaffe durch das syrische Regime zwischen 2013 und 2018 etwa ist ihrer Meinung nach ein westlicher Schwindel, um ein militärisches Engagement in Syrien zu rechtfertigen. Ebenso gibt es Online-Communities, welche die Verantwortung Russlands für den Abschuss des Flugs 17 der Malaysian Airlines (MH17) im Juli 2014 zurückweisen und stattdessen fragwürdige Beweise für eine Beteiligung der Ukraine am Abschuss anführen. In den letzten Jahren verbreiteten sich im Netz zahlreiche weitere Verschwörungstheorien, wie das Beispiel der QAnon-Bewegung zeigt. Sogar die «Flacherde»-Bewegung geniesst immer mehr Zuspruch.
Die mediale Reaktion, insbesondere seit der Wahl von Donald Trump im Jahr 2016, besteht darin, auf die Versuche externer Akteure zu verweisen, welche die westliche Gesellschaft durch Desinformationskampagnen beeinflussen wollen. Insbesondere Russland wird oftmals vorgeworfen, von aussen gezielt die Meinung im Westen zu formen. Organisationen wie das Digital Forensic Lab des Atlantic Council oder die Europäische Union suchen eifrig nach Bot-Netzwerken und deren Verbindungen zu ausländischen Regierungen.
Zwar spielen ausländische staatliche Akteure bei der Desinformation durchaus eine Rolle. Doch wenn man sich nur auf sie konzentriert, übersieht man die grundlegenden Probleme, die überhaupt erst zur Entstehung und Verbreitung von Desinformationen führen. Werden diese nicht angegangen, so werden sich auch künftig dieselben Muster wiederholen und so demokratische Gesellschaften untergraben.
Die Wurzel der Desinformation
Durch meine Arbeit bin ich Menschen begegnet, die das leugnen, was für mich die offensichtlichste Realität zu sein scheint. Die Arbeit von Bellingcat basiert auf der Verwendung von Open-Source-Material – beispielsweise Satellitenbilder oder Videos aus den sozialen Medien, die im Netz öffentlich zugänglich sind und in unserer Arbeit mit nachvollziehbaren Methoden analysiert werden. Trotzdem gibt es im Internet zahlreiche Nutzer, die uns als Handlanger von westlichen Geheimdiensten abtun. So heisst es etwa, wir seien nichts anderes als Meinungsverstärker, um die westliche Agenda gegenüber Ländern wie Syrien und Russland zu fördern.
Was ist also die wahre Wurzel der Desinformation? Warum bilden sich diese kontrafaktischen Internet-Communities überhaupt? Oft finden diese Gruppen bei bestimmten Themen zusammen, die selbst nicht unbedingt verschwörerischer Natur sind. Einige der Personen, die heute den Dokumentationen über die Chemiewaffenangriffe in Syrien den Wahrheitsgehalt absprechen, waren früher einmal Sympathisanten der Anti-Kriegs-Bewegung.
Eine Verschwörungstheorie startet oftmals mit einem grundlegenden Misstrauen gegenüber einer bestimmten Autorität, in der Regel aufgrund einer Wahrnehmung von Verrat – unabhängig davon, wie berechtigt dieses Gefühl im konkreten Fall sein mag. Bei Internetnutzern, die den Einsatz von Chemiewaffen in Syrien bestreiten, erfolgte dieser Startschuss häufig mit der Invasion des Iraks im Jahr 2003: Dabei wird den Medien häufig Komplizenschaft vorgeworfen, da sie das Narrativ einer angeblichen Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen unwidersprochen befeuert hätten. Auf dieser Grundlage werden im Anschluss Parallelen zu Syrien gezogen.
Die Bubble-Gesellschaft
Es sollte betont werden, dass diese Gefühle des Verrats nicht immer unangebracht sind und dass man dadurch auch nicht zwingend beim Verschwörungsglauben landen muss. Bei denjenigen aber, die sich zu Verschwörungstheorien hingezogen fühlen, wird durch den Vertrauensverlust das ganze Weltbild gekippt. Komplexe Sachverhalte werden von heute auf morgen zu binären Konflikten zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch.
Dank des Internets können Menschen mit ähnlichen Ideen online zueinanderfinden, die sozialen Medien erhöhten die Zugänglichkeit zusätzlich. Rasch verwandelte sich dieses Zeitalter in eine Ära des Algorithmus, in der das Individuum proaktiv mit Inhalten gefüttert wird, von denen Suchmaschinen und soziale Medien glauben, dass ihre Nutzer sie sehen wollen. Das führt nicht zur Auseinandersetzung mit neuen Argumenten, sondern verstärkt bereits existierende Grundüberzeugungen und heizt so die Entstehung alternativer Medienechokammern an.
Wer einmal Zweifel an den Chemiewaffenangriffen in Syrien und dem Schicksal des Fluges MH17 hat oder Bedenken zu Impfstoffen anbringt, der landet via Algorithmus schon bald in Facebook-Gruppen und auf alternativen Nachrichtenkanälen, die dem User genau jene Meinung liefern, die er vermeintlich sehen will. Der User sieht mehr und mehr von der Unwahrheit – und glaubt daher auch immer mehr an sie. So entstehen neue Medien-Ökosysteme fernab des Mainstreams. Es ist diese selbstverstärkende Struktur des Internets, die unsere Demokratien anfällig für Halbwahrheiten und böswillige Lügerei gemacht hat.
«Komplexe Sachverhalte werden von heute auf morgen zu binären
Konflikten zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch.»
Stärkung der Jugend
Was sollten wir gegen Desinformation tun? Ich halte es für wichtig, einen vielschichtigen Ansatz zu verfolgen. Ein Schlüsselelement soll aber bei der Einbindung von Online-Communities liegen. Ein Musterbeispiel dafür liefert das Engagement zahlreicher Bürgerjournalisten nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022.
Seit 2014 gibt es eine engagierte Online-Community bestehend aus Journalisten, Aktivisten, Menschenrechtsaktivisten, Desinformationsforschern und engagierten Bürgern, welche die Ereignisse in der Ukraine mitverfolgt und vorhandene Internetquellen gezielt auswertet. Die Ukraine wurde zu einem der ersten Konflikte, bei denen Open-Source-Untersuchungen (also Analysen auf der Grundlage öffentlich zugänglicher Informationen aus dem Netz und den sozialen Medien) eine Schlüsselrolle spielten. So konnte die Community nicht nur die Verantwortlichen für den Abschuss von MH17 identifizieren, sondern betätigte sich auch bei weiteren Recherchen zu russischen Verwicklungen im Donbass. Als russische Soldaten im Februar 2022 in die Ukraine einmarschierten, existierte im Netz bereits eine Gemeinschaft, die sich mit der Situation in der Ukraine beschäftigt hatte und ein Gespür für Desinformation und Open-Source-Recherchen hatte.
Schon in den Wochen vor dem Einmarsch begannen Teile dieser Community, den russischen Truppenaufmarsch entlang der Grenze zur Ukraine zu dokumentieren. Hilfreiche Quellen waren dabei zum Beispiel das Videomaterial russischer TikTok-Nutzer, die Verschiebungen von Truppen und Logistik gefilmt hatten. Die russische Regierung behauptete zwar, dass es beim Aufmarsch um Übungszwecke ging – die Art und das Ausmass der verlagerten Einheiten und Fahrzeuge legten jedoch nahe, dass es sich hier nicht um einen übungstypischen militärischen Zusammenzug handelte.
Als der Tag der Invasion näherrückte, wurden auf prorussischen Kanälen Gerüchte über ukrainische Verbrechen verbreitet – so kursierten beispielsweise Videos, auf denen ukrainische Streitkräfte angeblich auf russisches Territorium vordrangen. Das Beweismaterial wurde von der Internet-Community schnell untersucht und auseinandergenommen. Oft waren die russischen Behauptungen in weniger als einer Stunde nach ihrer Veröffentlichung entkräftet. Videos, die einen angeblichen Angriff der ukrainischen Streitkräfte auf russisches Territorium zeigten, stellten sich als manipuliert oder kontextfremd heraus.
Was zu tun ist
Wenn eine Gesellschaft Desinformation nachhaltig bekämpfen möchte, soll sie Einzelpersonen aufzeigen, dass man mittels eines Rechercheengagements im Internet etwas bewirken kann. Junge Menschen sollen lernen, dass sie als Teil einer Online-Community einen positiven Beitrag zu Themen leisten können, die ihnen am Herzen liegen. Kritisches Denken und investigative Fähigkeiten sollen ihnen früh beigebracht werden, damit die jungen Menschen in den sozialen Medien den Überblick behalten können.
Kontrafaktische Communities sollten unter dem Aspekt der Online-Radikalisierung betrachtet werden. Normalerweise verbinden wir den Radikalisierungsbegriff eher mit der extremen Rechten und Islamisten – für mich findet derselbe Prozess im Internet aber für ein breiteres Spektrum von Meinungen statt, von Flacherdlern bis zu Coronaleugnern. Der Sturm auf das amerikanische Kapitol vom 6. Januar 2021 zeigt, wie viele Formen die Online-Radikalisierung eigentlich annehmen kann – rechtsextreme Gruppierungen marschierten Seite an Seite mit Menschen, die an eine pädophile und satanische Weltelite glauben. Die Deradikalisierung von Menschen mit solch extremen Weltanschauungen ist äusserst kompliziert und erfordert viel Einsatz von denjenigen, die den Betroffenen am nächsten stehen – nicht die Bekehrungsgebote der Medien, der Regierung oder von Faktenprüfern, die von den Radikalisierten von vornherein abgelehnt würden. Wer im Verschwörungsgewirr verlorengeht, strebt im Kern eigentlich nach Ermächtigung und Halt – es sind Freunde und Familie, die den Betroffenen ein vertrautes Umfeld geben können. Externe Belehrungsversuche, wie man sie heute immer wieder in den Medien findet, sind nicht zielführend.
Bellingcat wird demnächst mit der britischen Organisation The Student View zusammenarbeiten, um 16- bis 18-Jährigen beizubringen, wie sie online faktengetreu Themen hinterfragen können. Durch eine Kombination traditioneller Recherchemethoden mit Open-Source-Tools wollen wir ihnen zeigen, wie sie im Netz einen Unterschied machen können. Aus ihnen soll keine neue Generation von wütenden, entmündigten Internetnutzern werden, die in den kontrafaktischen Verirrungen des Netzes einen Halt suchen. Das ist kein leichtes Unterfangen, es erfordert viel Einsatz, und Bellingcat ist nach wie vor eine kleine Organisation. Ich hoffe dennoch, dass die Online-Welt so zu einem besseren, produktiveren Ort werden kann. Die Chance ist da – die Gesellschaft muss aber aktiv daran arbeiten.