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«Haben Sie einen Sack für mich?»
Bild: Djamila Grossman.

«Haben Sie einen Sack für mich?»

Manchmal sind es sprachliche Eigenheiten, die uns an die Heimat erinnern. Aber welche Heimat eigentlich? Eine moderne Odyssee aus der Fünften Schweiz.

 

Woher ich komme? Immerhin erkannte der Zürcher Herr, mit dem ich inmitten von Berlin auf Schweizerdeutsch konversierte, dass ich, Berndeutsch sprechend, aus Bern kommen musste. Was für manch einen die einfachste Frage auf Erden ist, bedeutet für andere ein sofortiges Abtasten unterschiedlichster Erinnerungen, emotionaler Momentaufnahmen, Erfahrungen von einst und die Frage nach dem Jetzt. Und woher komme ich denn nun wirklich? Weiss ich es? Werde ich es je wissen, wie andere aus einer grundlegenden Überzeugung heraus sagen können, sie kämen aus Bern? Wenn ich sage: Ich bin Schweizerin, dann kommt’s mir vor wie Verrat, als würde ich etwas verschweigen. Ich bin’s ja, aber da ist noch etwas anderes: Vergangenes, das in die Gegenwart wirkt. Mag sein, dass man die Heimat verlassen und eine neue Heimat finden kann; was geschieht aber, wenn man auch diese zweite Heimat verlässt?

Während ich einst noch sagen konnte: Mehr als mein halbes Leben habe ich nun in der Schweiz verbracht, muss ich heute eingestehen, mindestens ein Drittel meines Lebens irgendwie deutsch gelebt zu haben. Wenn ich aber heute noch sagen kann: I am Swiss, so könnte ich niemals behaupten: Ich bin aus Deutschland, geschweige denn: Deutsche, immer nur, dass ich in Deutschland lebe. Warum ist das so? Und was ist mit England, wo ich ebenfalls mehrere Jahre gelebt habe und immer wieder forsche?

Aber eines nach dem anderen. Die Schweiz, das war für mich zunächst Adelboden und Adelbodnerdeutsch, reinste Luft, weisse Weihnachten, das Dorfschulhaus; es folgte die Hauptstadt und das gemütliche Berndeutsch, dort das multikulturelle Lorraine-Quartier, dann aber zog es mich allmählich in den Westen zum Dreiseenland, zuerst La Neuveville (Neustadt) mit wöchentlichen Reisen nach Neuchâtel (Neuenburg) zum Théâtre du Passage und einigen Abstechern nach Murten, auch Morat genannt, und schliesslich Vevey und Lausanne am prächtigen Lac Léman. Zum Berndeutschen und Hochdeutschen gesellte sich das Französische hinzu, zuletzt sprach ich nicht nur Französisch, ich schrieb, dachte, ja träumte französisch; ich fühlte mich welsch. Diese Sprachen waren mir zu dem geworden, was man gemeinhin als Muttersprache bezeichnet, das Albanische blieb irgendwie hängen, einfachste Gespräche mit der Familie, mehr nicht. Doch mit jedem neuen Ort verlagerte sich auch die (innere) Ausrichtung. In der deutschsprachigen Schweiz leben hiess immer, willentlich oder auch nicht, nach Deutschland schielen, derweil wir am ­Genfersee meinten, Paris sei das Zentrum der Welt. Zwischen Bern und Lausanne zu pendeln, war, trotz der kurzen Stunde, heftiges Oszillieren zwischen Kulturen.

Sprach ich Schweizerdeutsch, konnte keiner erkennen, dass ich kosovo-albanischer Herkunft war; mein Akzent im Französischen erweckte bei vielen den Anschein, ich sei Italienerin, aber niemals hätte man mich mit meiner wahren Abstammung in Verbindung gebracht, was mir recht war. Manchmal war’s Scham, doch gelegentlich dienten mir meine kosovarischen Wurzeln auch als Trumpfkarte, der Überraschungseffekt war garantiert, insbesondere wenn ich es mit einer Person gleicher Abstammung zu tun hatte. «Qysh bre, a shqiptare je a?» Eine Fremdsprache so sprechen zu lernen, dass es keiner merkt. Nirgends war mir das wichtiger als in Deutschland, wohin es mich dann verschlug. Ich hatte noch in der Schweiz zu üben begonnen; Bühnendeutsch war unser Ziel, wir, die wir Schauspieler werden wollten und die Berner Bühnen eroberten, nun, zumindest die des Schlachthaus-Theaters. Mir sollte nie wieder ein Missgeschick widerfahren wie einst in einem Leipziger Supermarkt, als ich die Verkäuferin fragte, ob sie einen Sack für mich hätte. Im Hochdeutschen zu Hause sein bedeutete auch, allmählich die Helvetismen aus dem Vokabular zu streichen, «das tönt gut» hiess von nun an «das hört sich gut an», und es kam der Tag, da war ich, zumindest was meine Aussprache anbelangte, ganz deutsch.

Und damit begann sich die ohnehin bereits sehr intrikate Herkunftsthematik zu einem gordischen Knoten zu schlingen. Früher hatte ich mich in der Schweiz «nur» als Kosovarin zu erkennen geben können. Nun aber, war ich in der Schweiz zu Besuch, konnte, ja musste – wollte? – ich mich ausserdem als Schweizerin oder zumindest Schweizerdeutschsprechende zu erkennen geben. Traf ich Freunde, sprachen wir selbstverständlich Schweizer­deutsch miteinander; die Schwierigkeit ergab sich erst, wenn ich berufsbedingt dort auftreten musste, wo man naturgemäss Hochdeutsch spricht: in akademischen Kreisen. Ich konnte unmöglich einen Schweizer Akzent auflegen, nur weil wir gerade in der Schweiz waren; meine deutschen Kollegen hätten sich totgelacht. Wenn ich mich später inmitten eines Gesprächs doch zu erkennen gab und etwas auf Berndeutsch sagte, war das Entsetzen einiger Urschweizer gross: wie seltsam, dass ich nicht gleich Schweizerdeutsch gesprochen hätte. Als müsste mir auf der Stirn stehen: Schweizerin. Auch diese unmissverständliche Bezeichnung hätte aber mein Wesens-Enigma nicht zu vereinfachen vermocht: Ich, eine Schweizerin? Es wäre nur die halbe, womöglich noch geringere Wahrheit gewesen. In diese Wunde legte so mancher seinen Finger, freilich ohne dies ahnen zu können, wie einst in Lindau, als ich einer Schweizerin vorgestellt wurde mit dem Hinweis: «Frau Latifi ist auch Schweizerin»; wir geben uns die Hand, sie fragt: «Eine echte?» Auch in England nun, in London, wo ich ­zwischendrin einige Jahre lebte, gab’s keine einfachen Antworten, auch weil dort, etwas provokativ gesagt, die Mehrheit meint, alles, was sich im deutschsprachigen Raum bewegt, sei German. Die Frage «Where do you come from?» war wie ein Stachel im Fleisch. Buchstäblich war ich gerade aus Deutschland gekommen, «from Germany». Aber diese Jahre in Deutschland hatten mich nicht in eine Deutsche verwandelt. Ich musste also hinzufügen: «Actually, I am from Switzerland, but I have lived in Germany for many years.» Und wenn ich einfachheitshalber dabei blieb: «I am Swiss, from Switzerland», befürchtete ich, mein Name könnte mich verraten und ich müsste wieder weit ausholen. Seltsamerweise nahm kaum einer daran Anstoss, manche glaubten sogar zu wissen: «Latifi, that is a very Swiss name, isn’t it?»

Was ist mir die Schweiz? Sie ist Sprachenvielfalt und multi­dialektale Besonderheit; das heimelig anmutende Empfinden eines sonderbaren Inseldaseins: inmitten des europäischen Kontinents, ja in seinem Herzen und zugleich in der Peripherie; stolz, mittendrin zu sein und doch willentlich aussen vor bleiben zu können. Ihre Magie geht aus ihrer tatsächlichen Verschiedenheit hervor, der unvermeidlichen Aussicht auf das, was die Schweiz umgibt, nämlich die grosse europäische Welt, direkt vor unserer Haustür.

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