György Dalos: 1956 – Der Aufstand in Ungarn.
München: C.H. Beck, 2006
Im Herbst 1956 war György Dalos, Sohn einer armen jüdischen Familie aus Budapest, 13 Jahre alt, «ein magerer, auf gutes Essen und französische Romane gleicherweise hungriger Junge von mässigem Lernfleiss», wie er in der Einleitung seines neuen Buches schreibt. Im Oktober machte sich der immer heftigere Widerstand gegen die Lügen und die Gewalt der stalinistischen Diktatur von Mátyás Rákosi Luft. Es gab Unruhen in der Stadt, man hörte das Dröhnen von Panzern und später auch Schüsse. «Für uns Kinder war der Aufstand wie ein Film», sagt der seit langem in Berlin lebende Historiker und mehrfach ausgezeichnete Schriftsteller in einem Interview in der von ihm mitherausgegebenen Wochenzeitung «Freitag». «Bei uns herrschte eine merkwürdige Romantik. Fast alle Kinder betrachteten sich als Freiheitskämpfer. […] Nein, ich nicht. Ich war anders sozialisiert.» In seiner prägnant formulierten, auch für Kenner der Materie lehrreichen und demnach unbedingt lesenswerten Chronik des Ungarnaufstands vom Herbst 1956 ist diese «merkwürdige Romantik» auf den Strassen Budapests in nur wenigen Szenen bildhaft eingefangen.
Von 1957 bis 1989 hätten sich die dreizehn Tage des Aufstands allmählich in so etwas wie eine «Privatangelegenheit der Nation» verwandelt, und im heutigen Ungarn seien sie «bestenfalls in der Debatte von Historikern oder in der alljährlichen protokollarischen Erinnerung präsent», heisst es in der Einleitung. 50 Jahre danach tut Sachwissen not. Dalos fasst die wichtigsten Ereignisse rund um den Aufstand auf der Grundlage neuester Kenntnisse und zahlreicher Gespräche mit damals Beteiligten einleuchtend zusammen, wobei ihm vor allem die Öffnung ungarischer und sowjetischer Archive manches zuvor kaum oder gar nicht Bekannte erschlossen hat. Gibt es auch nur wenige in persönlichem Ton gehaltene Passagen – «Geschichte von oben» schreibt Dalos dennoch nicht. Er beleuchtet alle Seiten seines Themas und skizziert viele nicht im Zentrum der Macht angesiedelte Akteure, Sympathisanten oder auch nur Beobachter der Geschehnisse. Es entsteht ein vielschichtiges Tableau.
Dalos blendet zunächst zurück in die frühen fünfziger Jahre, als das Wachstum in der ungarischen Industrie das Dreifache des Jahres 1938 erreichte, während der allgemeine Lebensstandard unter das Niveau von 1939 gesunken war. Ungarn war ein hoch gerüstetes Mitglied des Warschauer Paktes und seit 1949 ein Terrorstaat mit politischen Schauprozessen ohne Ende – von 1950 bis 1952 liefen Strafverfahren gegen rund 650’000 Staatsbürger. «Man hatte Angst vor allem.» Das blieb auch nach Stalins Tod im März 1953 so – «aber nie mehr ganz so wie vorher». Ungarns damalige, eng an der Sowjetunion orientierte Kommunisten seien «die Verkörperung des vorauseilenden Gehorsams» gewesen, und so war das politische Wetter an der Donau vor allem vom Moskauer Barometer bestimmt. Immerhin gab es ein gewisses «Tauwetter», und deswegen wurde Regierungschef Imre Nagy bis zu seiner Amtsenthebung im April 1955 immer populärer. Die Sowjets jedoch klammerten sich bis Juli 1956 an den verhassten Rákosi. Die Lage wurde von Monat zu Monat instabiler, und ab dem 23. Oktober 1956 gehorchten die Ereignisse nur noch «ihrer eigenen blinden Dramaturgie». An diesem Tag, so Dalos, «fand das Gegenteil von einem gelenkten Aufstand statt».
Die Strasse verlangte nach Imre Nagy. Der aber zögerte. «Er war ein Hamlet der Politik, ein Fanatiker des Gesetzes, ähnlich wie fünfzehn Jahre später der Chilene Salvador Allende.» Und so weitete sich eine friedliche Kundgebung rasch zum «Flächenbrand» aus, in dem viele Zeitgenossen einen neuen Wind grösserer Freiheit zu spüren glaubten. Man stürmte das Budapester Rundfunkhaus und stürzte das riesige Stalindenkmal vom Sockel. Der allgegenwärtige Geheimdienst reagierte prompt. Es gab die ersten Toten, auf beiden Seiten. Am 24. Oktober waren es bereits über 200. Dalos schildert die chaotischen Tage und Nächte von Budapest, im Wechsel mit den Prozessen der hohen Politik, die in diesem Fall vor allem in Moskau gemacht wurde. Man wollte die ungarische Hauptstadt rasch besetzen, und so rückten die Panzer durch dichten Nebel in Richtung Budapest vor. «In Übereinstimmung mit dem Wunsch der Regierung beteiligen sich die sowjetischen Verbände an der Wiederherstellung der Ordnung», meldete der Rundfunk. Der erste Einmarsch der Roten Armee, dem sich auch der als wankelmütiger Parteisoldat gezeichnete Imre Nagy nicht widersetzte, löste bei vielen Ungarn ein Gefühl der Verzweiflung und Ohnmacht aus. «Russen raus!» hiess die neue Parole, «Radio Free Europe» hiess der all dies auf seine Weise kommentierende Radio-sender. Anders als am 17. Juni 1953 in Berlin, trafen die Besatzer auf militärisch zwar kaum bedeutenden, aber doch nicht ganz ungefährlichen bewaffneten Widerstand. Die Politik schien zeitweise zu kollabieren – Kopflosigkeit allerorten. Dalos zitiert dazu einen dem Philosophen und Politiker György Lukács zugeschriebenen Ausspruch: «Es gibt nichts Fürchterlicheres als eine Tyrannei mit schwacher Hand». Es kam, nach einem verheerenden Blutbad vor dem Parlament, zu einer zunächst auch von Moskau tolerierten «Politik der kleinen Zugeständnisse».
Chaos und Kopflosigkeit konstatiert Dalos freilich auch auf Seiten der Aufständischen, deren wichtigste Anführer er kurz porträtiert – zum «Man of the Year» kürte das «Time Magazine» 1956 aber, nicht zufällig, eine anonyme Gestalt, den «Hungarian Freedom Fighter». Man wisse wenig über die politischen Ansichten der verschiedenen aufständischen Gruppen, um so mehr über die meist tragischen Schicksale der Kämpfer, die weder als «rechts» noch als «links» einzuordnen und trotz manchen, durchaus nicht verschwiegenen Delikten bestimmt nicht als «Kriminelle» abzutun seien. Das Regime war sich jedenfalls unschlüssig, welchen Forderungen nachzugeben und was überhaupt zu tun sei, und so ergriff der Aufstand bald auch die Provinz. In Györ gab es Tote, in Mosonmagyaróvár viel mehr, unter ihnen Frauen und Kinder. Dennoch, der Wunsch nach einer Neutralität im Sinne der Republik Österreich schien fast in Erfüllung zu gehen. Dalos kommentiert trocken: «Die stockenden sowjetischen Kampfhandlungen und das sichtbare Zaudern der Regierung liessen einen nationalen Wunderglauben aufkeimen, im Vergleich zu dem selbst die berühmte Fata Morgana, die Luftspiegelung in der Puszta Hortobágy, eine bodenständige Realität war.»
Am 27. Oktober war Imre Nagy mit seinen Kräften am Ende, und das Moskauer Parteipräsidium verlor allmählich die Geduld mit dem leidigen Thema «Ungarn», das die Weltpresse beherrschte und dem Image der UdSSR nicht eben förderlich war. Auch Dalos kann in seinem «Die Regierung ergibt sich dem Volk» überschriebenen Kapitel nicht exakt rekonstruieren, wie die für die zukünftige Entwicklung Ungarns schicksalhaften Entscheidungen in Moskau und Budapest zustande kamen. Am 28. Oktober jedenfalls habe im teilweise arg zerstörten Budapest Frieden geherrscht, der jedoch eher als eine Art unheilschwangeren Waffenstillstands zu begreifen ist. Die Soldaten der Roten Armee zogen sich am 29. Oktober aus Budapest zurück – eine «kurze Gnadenfrist» wurde den Ungarn noch konzediert. Noch hoffte man. Der 1949 zu lebenslanger Haft verurteilte József Kardinal Mindszenty, von Dalos als konservativ-royalistischer Kirchenfürst alten Stils charakterisiert, wurde aus seinem Hausarrest entlassen und sprach im Radio zur sicherlich keinen Kommunismus wollenden, abgesehen davon aber schwankenden und politisch zersplitterten Nation. Am 1. November erklärte Imre Nagy die Neutralität der Volksrepublik Ungarn. Er habe, so Dalos, ebensowenig wie andere Ungarn davon gewusst, dass das Moskauer Politbüro 24 Stunden zuvor die militärische und politische Unterdrückung des Aufstands beschlossen hatte.
Dalos weist die häufig geäusserte Annahme zurück, das Blutbad vor dem Budapester Parteihaus, bei dem 24 Personen der Lynchjustiz einer tobenden Menge zum Opfer fielen, sei für den zweiten Einmarsch der Sowjets am 4. November verantwortlich gewesen. Die weltpolitische Lage habe die entscheidende Rolle
gespielt, vor allem die Tatsache, dass Frankreich und Grossbritannien, die USA und die UNO in Suez engagiert waren. «Heute wissen wir, dass diese sechs Tage ebenso eine Gnadenfrist waren wie die acht Monate des Prager Frühlings 1968 oder die mehr als ein Jahr währende Betätigung der polnischen Gewerkschaftsbewegung.» Es kam, was kommen musste, und damit kam auch, wenngleich zunächst noch unter Rücksichtnahme auf den trotz allem fast zum nationalen Idol avancierten Imre Nagy, die Stunde des János Kádár. Am Morgen des 4. November verkündete Nagy im «Freien Sender Kossuth»: «Unsere Truppen stehen im Kampf. Die Regierung befindet sich auf ihrem Platz.» Der Freiheitssender «Dunapentele» wandte sich an die Weltöffentlichkeit: «Helft uns! Helft uns!» Da war Nagy schon auf dem Weg nach Jugoslawien, das ihm drei Wochen lang politisches Asyl gewährte. Im Frühjahr 1957 begannen die Prozesse, und die Henker bekamen reichlich Arbeit. Die Todesurteile gegen Nagy und seine Gefährten erfolgten im Juni 1958.
Der Aufstand war bald vorbei. «In Ungarn starben infolge der Kämpfe zwischen dem 23. Oktober und dem 31. Dezember 2652 Menschen, verwundet wurden 19’926», resümiert Dalos. «Die Schätzung der Anzahl der Flüchtlinge schwankt zwischen 180’000 und 240’000.» Auf sowjetischer Seite habe die Ungarnintervention zu 669 Toten und 1’541 Verwundeten geführt, «arme, vergessene, totgeschwiegene junge Männer». In Budapest fuhren ab Mitte November wieder die gelben Strassenbahnen. Auch wenn lokal bis Dezember gekämpft wurde und im nordungarischen Salgótarján noch 50 unbewaffnete Demonstranten sterben mussten – es kam eine andere Zeit, und erst 1989 sollte sie enden. «Wir wurden betrogen, aber wir haben uns auch selbst betrogen», stellt Dalos nüchtern fest. «Wir waren enttäuscht, aber wir erwarteten vielleicht auch nichts anderes. […] Das war das Unreife, Halbgare, Romantische unseres damaligen Bewusstseinszustands.» Die Menschen seien nach dem Aufstand in einer ähnlichen Stimmung gewesen wie unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, «ein merkwürdiges Empfinden zwischen Trauer und Lust am Weiterleben». Dalos erörtert auch die Flucht vieler Ungarn in den Westen, eine bis Ende 1956 noch einigermassen erfolgversprechende Option, die die allermeisten Ungarn zumindest erwogen hätten. Er schildert das nicht mehr auf Schauprozesse, sondern auf formale Korrektheit bedachte Terrorsystem der frühen Ära Kádár, der man allerdings irgendeine Tendenz zur Rechtsstaatlichkeit beim besten Willen nicht bescheinigen könne. Willkürliche Verhaftungen, Internierungslager, psychische Folter von Gefangenen – das und noch mehr war zumindest bis 1961 traurige Realität. Und der gesamte Ostblock hatte spätestens Ende 1956 begriffen, dass nationale, gegen die Macht der Sowjets gerichtete Aufstände bis auf weiteres keine Chance hatten.Der Epilog streift die eigentlich nur im sicheren Exil mögliche freie intellektuelle Reflexion der Ereignisse vom Herbst 1956, die zu den unterschiedlichsten Auffassungen und Deutungen des Geschehens geführt haben. Seriöse Geschichtsschreibung aber sei erst seit 1989 möglich. Das Buch von György Dalos ist ein überzeugender Beweis dafür, dass es sie gibt. 16 eindringliche Aufnahmen des Magnum-Photographen Erich Lessing illustrieren den übersichtlich strukturierten, sachlich ausgewogenen und auch sprachlich ansprechenden Band, dem eine Zeittafel, eine sehr knappe Auswahlbibliographie und ein Personenregister beigegeben sind.
besprochen von Klaus Hübner, Redaktor der Zeitschrift «Fachdienst Germanistik» in München.