Gut, dass wir darüber geredet haben
EU-Politik, Genderdebatte, Familienfragen, Migration: Eine Replik auf den Essay von Karen Horn in der letzten Ausgabe des MONATS.
Werden die Liberalen «reaktionär unterwandert»? Gilt es «die brandgefährlichen rechten Satelliten des Liberalismus niederzuringen»? «Denn sie schaden der Freiheit»? Karen Horns Thesen in der «FAZ» und im «Schweizer Monat» klingen besorgniserregend1. Den Beweis dafür aber bleibt die nunmehr ehemalige Vorsitzende der liberalen Friedrich-A.-von-Hayek-Gesellschaft schuldig.
Wer sich, wie ich, darüber gewundert hat, welche Pappkameraden die Publizistin aufstellt, um ins Dunkle zu ballern, könnte auf die Idee kommen, dass der im politischen Konkurrenzkampf gern bemühte «Kampf gegen rechts» auch hier bloss einer macht- und parteipolitischen Intervention dient. Das bewährte Ziel: den Gegner moralisch zu diskreditieren und ihn damit indiskutabel zu machen. In der Hayek-Gesellschaft ging der Kampf um die Macht (vor dem Hintergrund eines beachtlichen Stiftungsvermögens) verloren. Doch parteipolitisch? Die FDP unter Christian Lindner scheint sich für eine rot-gelb-grüne Koalitionsvariante warmzulaufen; man grenzt sich nach rechts ab, um sich nach links zu öffnen. Dass mit Karen Horn nun nicht nur Lindner, sondern auch andere FDP-Mitglieder aus der Hayek-Gesellschaft ausgeschieden sind, klärt vielleicht die Fronten: Parteien müssen sich Koalitionsoptionen offenhalten. Liberale aber sollten sich von solcherlei politischen Manövern freihalten. Die Hayek-Gesellschaft hat sich zu Recht gegen Vereinnahmung und Funktionalisierung gewehrt.
Das heisst nicht, dass nicht viel zu diskutieren wäre – ganz im Gegenteil. Doch womöglich lässt sich eine andere Ebene finden als jene, auf der «Ewiggestrige» jenen anderen Menschen gegenübergestellt werden, die «die Tatsachen des modernen Lebens anerkennen», und sich all jene als «Staatshasser» etikettieren lassen müssen, die mit der derzeitigen Politik insbesondere der grossen Koalitionen in Deutschland und anderswo nicht einverstanden sind.
Wie viel Staat ist nötig? Der Rechtsstaat gibt den verlässlichen Rahmen für das Handeln freier Individuen ab. Wer könnte das bestreiten? Doch was sich in der «Eurorettungs»-Politik nun schon seit Jahren abspielt, verletzt nicht nur Recht und Gesetz, es delegiert auch wichtige Entscheidungsbefugnisse an demokratisch nicht weiter legitimierte Institutionen und missachtet wesentliche parlamentarische Mitwirkungsrechte. Das ist staatliche Anmassung in Kooperation mit der schleichenden Entmachtung des Parlaments.
Man muss nicht «Staatshasser» sein, um eine Politik zu kritisieren, die mit der Berufung aufs angebliche Gattungsinteresse übergesetzlichen Notstand postuliert. Der deutsche Alleingang in Sachen Energie-«Wende» ist ein weiteres Lehrbeispiel für staatliche Fehllenkung. Da wird eine überholte Technik wie die Windkraft subventioniert, der Energiemarkt ausgehebelt und jeder technischen Innovation der Weg verbaut. Doch wer sich als Mindeststandard auf die Rettung der Menschheit beruft, hält es meist für kleinlich, auf Recht, Gesetz, Besitzstand oder gar ökonomische Vernunft und technischen Fortschritt Rücksicht zu nehmen. Konsequenterweise hat einer der Päpste der «Klimarettungspolitik», Hans-Joachim Schellhuber vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung, den Ersatz der Demokratie durch die Herrschaft der Experten gefordert, da ein Projekt von solcher Grösse am mässigen Verstand des Wahlvolks notwendig scheitern müsse. So hat noch jeder wohlwollende Despot seine Autorität begründet.
Staatliche Anmassung ist auch die Einmischung in die Belange privater Lebensführung. Selbst wer es als segensreich empfindet, dass Kneipen und Restaurants nicht mehr verräuchert sind, und den Rauchern dankbar dafür ist, dass man nun auch als Nichtraucher draussen im Warmen sitzen kann, wünscht sich ein Ende der moralisierenden Fürsorglichkeit, mit der uns das gute und richtige Leben nahegebracht wird (je nach neuestem Forschungsstand, der sich indes schneller ändern kann, als Gesetzesvorlagen geschrieben werden). «Nudging», die neueste Methode, dem Untertan das als richtig Erkannte schonend nahezubringen, ist nichts anderes als ein «moderner» Name für Manipulation.
Und was bitte hat «Gender Mainstreaming» auf der Ebene eines Regierungsprogramms zu suchen, eine Ideologie, keine Theorie, die nichts mit Wissenschaft zu tun hat? Ist das «modern» – oder nicht vielmehr Mumpitz und Arbeitsplatzbeschaffung für eine besonders verbohrte Sorte von Feministinnen? Es kann nicht Sache des Liberalismus sein, Gleichheit (strikte zu unterscheiden von Gleichberechtigung) für etwas zu fordern, was nicht gleich ist: Biologie ist eine Tatsache, keine soziale Erfindung.
Damit wären wir womöglich bei einem Kernpunkt der Debatte angelangt. Wenn ich zu Verschwörungstheorien neigte, würde ich die Beliebtheit der Gendertheorie und die Abneigung gegen alles, was Frau, Mann und Familie heisst, für einen konzertierten Angriff des Nannystaates auf die letzten Abwehrmöglichkeiten des Individuums gegen den Wohlfahrtsstaat halten: auf die Familie. Aber ich bin keine Verschwörungstheoretikerin. Ich frage mich allerdings, was genau am Familienmodell reaktionär sein soll.
Tatsächlich ist das einer der wenigen konkreten Punkte, die Karen Horn nennt: Das Ehegattensplitting, schreibt sie, begünstige «faktisch die Paarungen und Rollenmodelle von gestern, mit dem Mann auf der Arbeit und der Hausfrau am heimischen Herd». Sicher – das Klischee lebt. Doch auch bei anderen «Paarungen» als den heterosexuellen ist das Ehegattensplitting ein wichtiges Argument. Und ist die Wirklichkeit «von gestern»? Denn seit Frauen frei wählen können, wählen sie noch, auch und wieder das «reaktionäre» Modell – und keine Quotenregelung wird dafür sorgen, dass sie massenhaft in Aufsichtsratsposten drängen. Wäre es liberal, Männern und Frauen die Wahl eines Rollenmodells zu verbieten, nur weil es unvernünftig sein kann?
Viele Frauen wollen offenbar den Spagat zwischen Kindern und Karriere nicht. Ob es immer weise ist, sich auf den Mann als Ernährer zu verlassen, sei dahingestellt, aber das Risiko gehört zur Wahlfreiheit dazu – und wen die Liebe nicht blind macht, der schliesst einen Vertrag. Die Vorstellung zweier junger Arbeitsnomaden, die ihren Nachwuchs wie in der DDR in der Kita gemeinsam topfen lassen, ist offenbar für viele nicht sonderlich attraktiv. Der Lebenswirklichkeit vieler Menschen entspräche stattdessen ein flexiblerer Umgang mit der Lebensarbeitszeit. Wer Frauen nicht vom Arbeitsleben ausschliessen will, öffne den Arbeitsmarkt für die über vierzigjährigen «Wiedereinsteiger». Sie bringen das mit, was junge Menschen noch nicht haben können: Erfahrung und Resilienz.
Und mitnichten ist die gemeinsame steuerliche Veranlagung lediglich ein Wunsch heterosexueller Vorgestriger; auch homosexuelle Paare können sich darauf einigen, ihren Lebensalltag mit einem einzigen Einkommen zu bestreiten. Der Staat «begünstigt» hier gar nichts, er trägt lediglich einer grundlegenden Form von Solidarität Rechnung, mit der positiven Folge, dass der weniger oder nichts verdienende Partner einer solchen Zweisamkeit dem Sozialstaat nicht zur Last fällt. Soll uns das Modell «alleinerziehende Mutter auf Hartz-IV-Niveau» lieber sein?
Ähnlich schwach ist Karen Horns Attacke auf die «verlogene Idealisierung der christlichen Familie als Keimzelle der Nation». Wer redet denn davon noch? Die Ehe als eine pragmatische Institution zur Sicherung von Erbfolge und Eigentum hat sich erst ab dem 10. Jahrhundert in Europa mit der Kirche verbunden, ihre Idealisierung verdankt sie heute weniger dem Glauben als der Vorstellung, dass sich lieben müsse, wer sich zusammentut.
Gewiss: Familie ist eine höchst ambivalente Angelegenheit: Sie ist eine Fessel des Individuums und Schutz vor der (Staats-)Macht zugleich. Allen paternalistischen Gesellschaften ist gemein, dass die Familie an erster Stelle kommt und dass sich das Individuum mit seinen Freiheitsbedürfnissen den Interessen des Clans unterzuordnen hat. Ehen werden da nicht aus Neigung, sondern im Dienste der Familie geschlossen. Der persönliche Ehrgeiz aber leidet, wenn das Ich nichts und das Wir alles ist. Wirtschaftliche Dynamik setzt die Freiheit des Individuums voraus. Die amerikanische Buchautorin Barbara Ehrenreich hat vor Jahrzehnten beschrieben, was das für die Familie heisst: Wer einmal entdeckt hat, dass man seinen Campari auch allein auf der Terrasse der Junggesellenwohnung schlürfen kann, ist weniger geneigt, sein Einkommen mit Frau und Kindern zu teilen.2
Doch seltsamerweise streikt der «Ernährer» noch immer nicht massenhaft, obwohl sein Einkommen heute als Individualeinkommen gilt. Das übrigens hat Karl Marx einst als Illusion enthüllt: Der Arbeiter glaube, mit seinem Lohn für geleistete Arbeit entgolten zu werden, in Wahrheit aber diene der Lohn seiner Reproduktion, also der Wiederherstellung seiner Arbeitskraft – durch Nachwuchs. Mit anderen Worten: was wir heute als Individualeinkommen sehen, galt früher als Familieneinkommen. Es ist sicherlich kein Fortschritt, wenn ein Einkommen heute für eine Familie nicht mehr reicht.
Liegt das am Kapitalismus – oder nicht vielleicht doch an einer Steuerquote, die wesentliche Zusammenhänge verschleiert? Der Staat nimmt aus der einen Tasche, was er in die andere wieder hineinsteckt, und nennt das Ganze «Familienförderung». Aus liberaler Sicht aber sollte die Besteuerung doch wohl so ausfallen, dass Familien selbst entscheiden können, nach welchem Modell sie leben. Ich halte nichts von einer Absurdität wie dem deutschen «Betreuungsgeld», das jenen gezahlt wurde (und noch wird), die eine staatliche Leistung namens Kita nicht in Anspruch nehmen wollen. Aber ich habe mittlerweile für alle jene Verständnis, die ihre Kinder keiner staatlich organisierten Fürsorge überantworten wollen, in der es um ideologische Deutungsmacht geht. Man gebe den Eltern die Freiheit, ihre Wünsche nach Kinderbetreuung über den freien Markt zu befriedigen.
Es bedarf gewiss keiner Idealisierung der christlichen Familie, wohl aber eines Gespürs dafür, dass es noch etwas anderes gibt als das einsame Individuum, das nur einen Anker kennt: Väterchen und Mütterchen Staat. Und so sehr die staatlich organisierte Rente Eltern und ihre Nachkommen aus einem Zwangsverhältnis der Sorge füreinander befreit hat – ersetzt hat sie sie nicht.
Was die «Keimzelle der Nation» betrifft, so könnte ein anderer Aspekt wichtig sein. Die christliche Beglaubigung der Ehe und ihrer Nachkommenschaft ist in ihrer historischen Bedeutung der Sicherung von Besitz und Eigentum über viele Generationen hinweg geschuldet, also ganz auf Nachhaltigkeit ausgerichtet. Auch hier zeigt sich wieder die Janusköpfigkeit der Familie als Fessel wie auch als Ort der Subsidiarität: Mächtige Familien können die Macht des Staates bedrohen, vor allem auch sein Gewaltmonopol – man denke an mafiöse Familienclans. Zugleich aber ist die Familie über Generationen hinweg ein Schutzraum des Privaten vor politischer Einflussnahme. (Dass das «Elternhaus» aus der Mode gekommen ist, weil junge Familien sich ihr eigenes Gehäuse wünschen, das es im übrigen selten wert ist, länger als eine Generation zu überdauern, ist allerdings schade für die Wohnlichkeit der Städte. Auch öffentliche Gebäude werden mittlerweile mit Blick auf ihren baldigen Abriss gebaut.)
Die Debatte über die Besteuerung von vererbtem Vermögen aber blendet stets aus, dass Familie für mehr steht als für den Zeitraum, in dem Kinder erwachsen werden. Nun, Politiker denken in Wahlperioden, Politik wird für die Gegenwart gemacht, und dass ausgerechnet das staatliche Rentensystem «Generationenvertrag» genannt wird, ist frivol: genau das ist es nicht. Bei der Erbschaftssteuer aber offenbart sich der Affekt gegen die Familie in aller Radikalität: Vermögen soll in der Gegenwart entstehen und verbraucht werden, der Bürger als Steuerzahler hat weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft. Ist die Forderung nach der Besteuerung von Erbschaften bis kurz vor der Enteignung ein deutsches Phänomen? In der Tat: damit kennen wir uns aus, das sind wir gewohnt, man denke an die DDR. «Junkerland in Bauernhand» hat zwar ökonomisch nie funktioniert, politisch aber eine autonome Klasse hinweggefegt, die womöglich der sozialistischen Diktatur hätte Widerstand leisten können. Ist der Schutz des Eigentums nicht eine erzliberale Forderung?
Kommen wir zum letzten Punkt, zum Streit über Art und Ausmass von Zuwanderung. Man muss nicht rassistisch, xenophob oder «islamophob» sein, um die politische Hilflosigkeit angesichts weltweiter Fluchtbewegungen zu kritisieren. Die Alternative ist letztendlich klar: Solange ein Land wie Deutschland oder die Schweiz mit einem Modell lockt, das sich auf einen Nationalstaat und nicht auf ein offenes Einwanderungsland bezieht, signalisiert es paradiesische Zustände, die es auf die Dauer nicht garantieren kann. Entweder erledigt sich der Sozialstaat dank wachsenden Zuspruchs selbst – oder er beschränkt sich auf den Club der bereits hier Lebenden. Es gibt derzeit nur eine Instanz, die von der unkoordinierten Zuwanderung profitiert: das ist die Sozialindustrie, die es darauf anlegt, Probleme nicht zu lösen, sondern zu verwalten. So vergrössert sich die Kohorte der Staatsabhängigen, die für die Fröste der Freiheit und das Risiko der Unabhängigkeit selten zu gewinnen sind.
Und zum Schluss: ja, es ist völlig legitim, sich gegen die Zuwanderung von Menschen zu wehren, die sich nicht an die jeweils vorherrschenden Regeln zu halten bereit sind. Das gilt für illegale kriminelle Zuwanderung sowieso – aber auch für jene Muslime, die aus religiös-ideologischen Gründen keine anderen als die durch die eigene Religion bestimmten Gesetze respektieren. Denn das ist der Sinn des Rechtsstaats: Niemand soll missioniert werden, jedem ist das Recht auf Religionsausübung zu garantieren. Aber niemand darf sich ausserhalb von Recht und Gesetz stellen.
Mir scheint, dass in der letzten Zeit die Unart zunimmt, den politischen Gegner aus dem Diskurs auszugrenzen. Das geht mal mehr, mal weniger subtil. Manchmal geht es gar nicht – etwa wenn Karen Horn betont, dass auch «Ewiggestrige wie Sarrazin» keine Morddrohungen verdient hätten, obwohl sie «abstossende» «Scheusslichkeiten» von sich gäben. Hier tarnt sich die Denunziation (oder der geheime Wunsch?) als Fürsorge. Das passt nicht zu jemandem, der sich als «offen, mitmenschlich und zugewandt» darstellt, wohl aber hervorragend zum linkslastigen Milieu, wo man weiss, was mit einer derart fadenscheinigen Distanzierung gemeint ist.
Ich ziehe den Ansatz von Rainer Hank vor: Es kommt darauf an, dem eher linksdrehenden Milieu der Wohlgesinnten deutlich zu machen, dass alles, was das Herz sich wünscht, Gerechtigkeit etwa, seine Heimat nicht in einem sich überdehnenden Nannystaat findet, sondern beim Liberalismus. Obwohl und weil Freiheit etwas für starke Nerven ist.3
1Karen Horn: Auf dem rechten Auge blind? In: Schweizer Monat (1028), Juli/August 2015, S. 36–39. Und: Karen Horn: Die rechte Flanke der Liberalen. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.5.2015.
2Barbara Ehrenreich: Die Herzen der Männer. Reinbek: Rowohlt, 1989.
3Rainer Hank: Links, wo das Herz schlägt. Inventur einer politischen Idee. München: Knaus, 2015.