Grossangriff auf das Rahmenabkommen
Der Widerstand gegen ein geplantes Rahmenabkommen mit der EU wächst. Kompass Europa sieht den künftigen Handlungsspielraum der Schweiz in Gefahr und lanciert eine Volksinitiative. Volk und Stände sollen das letzte Wort haben.
Seit über einer Dekade arbeitet sich die Schweizer Politik im Kleinklein von flankierenden Massnahmen, Anmeldefristen für Grenzgänger, möglichen Sonderregeln für Kantonalbanken und Ventilklauseln mit der EU ab und sieht dabei den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Nun schaltet die überparteiliche Gruppierung Kompass Europa einen Gang höher. Sie verstärkt den politischen Druck und lanciert die Initiative «Für eine direktdemokratische und wettbewerbsfähige Schweiz».
Rückblende: Im Mai 2021 entschied der Bundesrat, das damalige Rahmenabkommen mit der Europäischen Union nicht zu unterzeichnen und die Verhandlungen aufgrund «substanzieller Differenzen» abzubrechen. Es folgte eine Phase der gegenseitigen Nichtbeachtung und sachfremder Nadelstiche seitens der EU, gefolgt von erneuten zaghaften Annäherungsversuchen. Zurzeit verhandelt die Schweiz – wieder einmal – über einen institutionellen Rahmen mit der EU. Namhafte Fortschritte bei den Verhandlungen sind keine zu vernehmen. Die «substanziellen Differenzen» von damals sind immer noch die gleichen. Die Schweiz ist wieder an einem ähnlichen Punkt wie in Mai 2021. Man dreht sich im Kreis.
EU-skeptische Organisationen gibt es viele. Doch dass sich schwerreiche Unternehmer, KMU, Exponenten aus Kultur sowie Sport und vor allem viele ganz normale Bürger in dieser Breite und parteiübergreifend so zusammenschliessen, geschieht nicht alle Tage.
Im Zentrum steht die Forderung, dass weitreichende internationale Abkommen, bei denen die Schweiz dynamisch Recht übernehmen soll, zwingend Volk und Ständen vorgelegt und somit dem obligatorischen Referendum unterstellt werden müssen. Besonderer Dorn im Auge der Initianten ist die im Vertragsentwurf vorgesehene dynamische EU-Rechtsübernahme mit der finalen Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs. Dieser könnte bei Verstoss gegen EU-Recht Sanktionen in unbekannter Höhe gegen die Schweiz verhängen. Es gehe darum, eine «EU-Passivmitgliedschaft» zu verhindern, sagt Finanzunternehmer und Initiant Urs Wietlisbach.
Deindustrialisierung in der EU
Den Initianten geht es nicht darum, eine dynamische Rechtsübernahme mittels Verfassungsänderung zu verunmöglichen. Es sollen lediglich die Hürden dazu erhöht werden und klar geregelt sein. Denn das ist momentan nicht der Fall. Damit wären die unwürdigen Diskussionen, ob bei einer Abstimmung über die «Bilateralen III» nur das Volks-, oder auch das Ständemehr erforderlich sei, obsolet. Bei wichtigen Fragen ist ein Entscheid des Souveräns mit doppeltem Mehr (dafür oder dagegen) einem einfachen Mehr immer vorzuziehen. So ist das Resultat breiter abgestützt und die Akzeptanz grösser. Das gilt natürlich auch für eine allfällige Annahme des Rahmenvertrags.
Kompass Europa steht für Freihandel und Offenheit in der Aussenhandelspolitik – und zwar gegenüber allen Seiten. Das ist zentral. Denn eine einseitige Fokussierung auf den EU-Binnenmarkt sei mit hohen Kosten in Form von Souveränitätsverlust und Bürokratiekosten verbunden, so Kompass Europa. Auch angesichts der schwachen Handelsdynamik und Deindustrialisierung im EU-Raum sei dies nicht erstrebenswert. Man wolle Güter und Dienstleistungen in die Welt exportieren, nicht Gesetze importieren, so der Tenor an der Pressekonferenz in Bern. Dringender Handlungsbedarf seitens der Schweiz besteht aus Sicht der Initianten nicht. Der Zugang zum EU-Binnenmarkt sei durch bestehende Freihandelsabkommen und die WTO garantiert, der «präferenzielle» Marktzugang der Schweiz werde überschätzt.
Mehr als nur «Promi-Faktor»
Heimlicher Hauptdarsteller an dem Medienanlass in Bern war TV-Moderator Kurt Aeschbacher. Der TV-Talker, Ökonom und Unternehmer, der es ein Fernsehleben lang vermied anzuecken und sich politisch zu äussern, kommt aus der Deckung und outet sich als dezidierter Gegner eines institutionellen Rahmenabkommens. Er sei stolz auf das «System Schweiz», denn es beruhe auf Vertrauen in die Bürger, in die Institutionen und in dezentrale Strukturen. «Dieses System Schweiz steht nun zur Disposition», sagt Aeschbacher.
Weitere prominente Unterstützer von Kompass Europa sind die Ski-Legende Bernhard Russi sowie Krokus-Rocker Chris von Rohr. Der drohende Souveränitätsverlust der Schweiz hat Ihnen offenbar den Hut gelupft. Alle sind sie ein Stück personifizierte Swissness, ihre Reichweite und Popularität sind ein nicht zu unterschätzender Aspekt bei der Meinungsbildung. Sie stehen sinnbildlich für den breiter werdenden Rückhalt von Kompass Europa.
Gantner sorgt sich um die vielen Schweizer KMU, welche das Rückgrat der Wirtschaft bilden und bei Überregulierungen mit Kostenfolge besonders verwundbar sind. Vor allem aber geht es um den potenziell eingeschränkten Handlungsspielraum und teilweisen Demokratieverlust in der Schweiz. Auch Wietlisbach sieht in der EU eine Nivellierung nach unten, belegt auch durch die jüngsten Zahlen zur Industrieproduktion. Und er betont: «Wir sind nicht besser oder arbeiten viel länger als andere. Aber unsere Institutionen sind besser.» Dazu gelte es Sorge zu tragen.
Systeme nicht kompatibel
Noch verhandelt die Schweiz in Brüssel. Die EU und die Schweiz können und sollen bestens miteinander auskommen und regen Handel betreiben. Doch ihre politischen Systeme sind nicht miteinander kompatibel. Auf der einen Seite die EU: zentralistisch, regulierungsfreudig und von oben herab regiert. Auf der anderen Seite die Schweiz: direktdemokratisch, föderalistisch und relativ vernünftig reguliert.
Auch Yves Rossier, ehemaliger Spitzendiplomat und Verhandlungsführer im Aussendepartement, mittlerweile im Ruhestand, stellt den grundsätzlichen Sinn eines solchen Abkommens in Frage, heute wie damals. Er habe schon 2013 den Eindruck gehabt, dass die Schweiz ein Rahmenabkommen nicht wirklich brauche, sagte er unlängst der «Weltwoche». Auch die Skepsis der Gewerkschaften ist geblieben. Denn auch Teile der Linken haben mittlerweile gemerkt, dann man (sofern man das will) Schweizer Löhne nicht in Brüssel, sondern in Bern schützen kann. Affaire à suivre. (fgu)
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